Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.03.2017, Az.: 4 ME 83/17
Altersfeststellung; Inaugenscheinnahme, qualifizierte; Inobhutnahme, vorläufig
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 22.03.2017
- Aktenzeichen
- 4 ME 83/17
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 54248
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 08.02.2017 - AZ: 4 B 1/17
Rechtsgrundlagen
- § 42f SGB 8
- § 42a SGB 8
- § 42 SGB 8
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 4. Kammer - vom 8. Februar 2017 geändert.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt B. aus Osnabrück bewilligt.
Außergerichtliche Kosten des gerichtskostenfreien Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Antragsgegner zu Unrecht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller bis zur endgültigen Klärung seines Alters im Rahmen des anhängigen Hauptsacheverfahrens in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen.
Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch, (vorläufig) in Obhut genommen zu werden. Gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Gemäß 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Voraussetzung für eine Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII oder eine vorläufige Inobhutnahme nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist die Minderjährigkeit des Betroffenen. Eine Inobhutnahme des Antragstellers nach den vorgenannten Vorschriften kommt nicht in Betracht, da der Antragsteller nach dem Ergebnis des Gutachtens des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums B. vom 3. März 2017 ein absolutes Mindestalter von 19 Jahren sowie ein wahrscheinliches Lebensalter von ca. 23 Jahren hat und damit nicht minderjährig ist.
Entgegen der Auffassung des Antragstellers bedarf es im Rahmen dieses Verfahrens nicht der Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens zwecks Altersbestimmung, weil das Gutachten vom 3. März 2017 - wie der Antragsteller vorgebracht hat - „letztendlich lediglich Parteienvortrag“ darstelle. Der Senat kann vielmehr im Rahmen dieses Verfahrens für seine tatsächlichen Feststellungen auch das Vorbringen des Antragsgegners verwerten, soweit es ihm überzeugend erscheint und nicht durch anderweitiges Parteivorbringen schlüssig in Frage gestellt wird. Ob ein Parteigutachten als „Interessenten-Vortrag“ bloß zur Kenntnis genommen wird oder als maßgebliche Entscheidungsgrundlage dient, ist eine Frage der inhaltlichen Bewertung. Je unzweifelhafter eine von einem Beteiligten vorgebrachte gutachterliche Äußerung als Ausdruck der Sachkundigkeit, Unparteilichkeit und Objektivität zu qualifizieren ist, desto unbedenklicher ist sie verwertbar (BVerwG, Beschl. v. 25.6.2015 - 9 B 69.14 -). An der Sachkundigkeit, Unparteilichkeit und Objektivität der mit der Altersschätzung des Antragstellers vom Antragsgegner beauftragten Gutachter bestehen keine Zweifel. Das Gutachten vom 3. März 2017 beruht auch auf einer hinreichenden Beurteilungsgrundlage (körperliche Untersuchung des Betroffenen sowie auf Röntgenaufnahmen der Hand, des Gebisses und der Schlüsselbeine) und wissenschaftlich anerkannten Methoden zur Altersdiagnostik, so dass es vom Senat zur Bestimmung des Alters des Antragstellers herangezogen werden kann. Ein Anspruch auf Inobhutnahme des danach volljährigen Antragstellers besteht mithin nicht.
Ergänzend merkt der Senat an, dass auch ohne die Vorlage des Gutachtens vom 3. März 2017 durch den Antragsgegner im Beschwerdeverfahren ein Anordnungsanspruch des Antragstellers nicht bestanden hätte, der Beschluss des Verwaltungsgerichts daher auch dann zu ändern und der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen gewesen wäre. Denn entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts begegnet das Ergebnis der vom Antragsgegner am 12. September 2016 durchgeführten qualifizierten Inaugenscheinnahme, dass keine Zweifel an der Volljährigkeit des Antragstellers bestehen, keinen Bedenken.
Gemäß § 42 f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme der ausländischen Person gemäß § 42a SGB VIII deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen. Hinsichtlich der Durchführung der qualifizierten Inaugenscheinnahme schließt sich der Senat den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen in seinem Beschluss vom 21. September 2016 - 1 B 164/16 - an. Danach ist, soweit - wie hier - keine (ausreichenden) Identitätsnachweise vorhanden sind und Zweifel an der Selbstauskunft des Betreffenden bestehen, zunächst eine qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 SGB VIII durchzuführen. Diese erstreckt sich auf das äußere Erscheinungsbild, das nach nachvollziehbaren Kriterien zu würdigen ist. Darüber hinaus schließt sie – unter Hinzuziehung eines Sprachmittlers – eine Befragung des Betreffenden durch zwei beruflich erfahrene Mitarbeiter des Jugendamtes ein, in der er mit den Zweifeln an seiner Eigenangabe zu konfrontieren und ihm Gelegenheit zu geben ist, diese Zweifel auszuräumen. Das Ergebnis der Altersfeststellung ist in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise zu dokumentieren. Die Gesamtwürdigung muss in ihren einzelnen Begründungsschritten transparent sein. Die qualifizierte Inaugenscheinnahme kann zu dem Ergebnis führen, dass zwar Restzweifel an der Selbstauskunft bleiben, insgesamt aber mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit von einer Minderjährigkeit ausgegangen werden kann. Sie kann aber auch zu dem Ergebnis führen, dass von Volljährigkeit ausgegangen werden muss, d. h. die Selbstauskunft des Betreffenden unwahr ist. Zu diesem Ergebnis kann das äußere Erscheinungsbild beitragen, das im Einzelfall bereits deutliche Anhaltspunkte für eine Volljährigkeit liefern kann. Bei der Bewertung der in dem Gespräch gewonnenen Informationen ist zu berücksichtigen, dass es um die Beurteilung eines Sachverhalts geht, der ganz in der Sphäre des Betreffenden liegt. Es kann erwartet werden, dass schlüssige und glaubhafte Angaben zum bisherigen Entwicklungsverlauf – unter Einschluss des Zeitpunkts der Ausreise aus dem Heimatland – gemacht werden, die eine zeitliche Zuordnung zulassen und Rückschlüsse auf das Alter erlauben. Pauschale Behauptungen und Ungereimtheiten können in Verbindung mit dem äußeren Erscheinungsbild dazu führen, dass dem Betreffenden die Altersangabe nicht abgenommen werden kann. Das gilt erst recht, wenn der Betreffende selbst im vorangegangenen Verwaltungsverfahren Angaben zu seinem Geburtsdatum gemacht hat, aus denen sich ein anderes Alter als jetzt angegeben ergibt. Wenn die qualifizierte Inaugenscheinnahme hingegen zu dem Ergebnis führt, dass die Altersangabe des Betreffenden nach wie vor als offen anzusehen ist, die Zweifel also weder in die eine noch in die andere Richtung ausgeräumt werden konnten, hat das Jugendamt gemäß § 42 f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen.
Die durch den Antragsgegner durchgeführte qualifizierte Inaugenscheinnahme genügt den vorgenannten Anforderungen an das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII. Für den Senat ist auf der Grundlage der Dokumentation zur Befragung durch das Jugendamt für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Rahmen des Inobhutnahmegesprächs am 12. September 2016 ohne Weiteres nachvollziehbar, dass der Antragsgegner aufgrund einer Gesamtwürdigung des äußeren Erscheinungsbilds des Antragstellers (Stimmlage, Bartwuchs, Gesichtszüge und Körperbau), seines Verhaltens während des Gesprächs sowie seiner von ihm selbst behaupteten Volljährigkeit in allen vorausgegangenen Verwaltungsverfahren zu dem Ergebnis gelangt ist, dass keine Zweifel an der Volljährigkeit des Antragstellers bestehen. Eine zusätzliche ärztliche Untersuchung ist demnach nicht geboten gewesen.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts leidet die durchgeführte qualifizierte Inaugenscheinnahme auch nicht an einem erheblichen Verfahrensmangel. Gemäß § 42f Abs. 1 Satz 2 SGB VIII in Verbindung mit § 42 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII ist der ausländischen Person unverzüglich Gelegenheit zu geben, eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen. Nachdem der Antragsteller den Mitarbeitern des Antragsgegners im Gespräch am 12. September 2016 mitgeteilt hatte, dass seine Vertrauensperson nicht die vom Flüchtlingsrat Niedersachsen gegenüber dem Antragsgegner zunächst benannte und bei der qualifizierten Inaugenscheinnahme auch anwesende Sozialarbeiterin vom C. Verein für soziale Dienste in D. e.V. sei, sondern eine Mitarbeiterin des Flüchtlingsrats Niedersachsen e.V., ist dem Antragsteller unverzüglich Gelegenheit gegeben worden, diese Mitarbeiterin telefonisch zu benachrichtigen. Der Antragsteller hat diese Mitarbeiterin zwar telefonisch nicht erreichen können, die Befragung aber dennoch freiwillig fortgesetzt. Im Übrigen ist sowohl der Antragsteller als auch die von ihm als seine Vertrauensperson benannte Mitarbeiterin des Flüchtlingsrats Niedersachsen e.V. vorab über den Termin zur Durchführung der qualifizierten Inaugenscheinnahme am 12. September 2016 unterrichtet worden, so dass der Antragsteller unverzüglich Gelegenheit gehabt hat, eine Person seines Vertrauens rechtzeitig zu benennen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 188 VwGO.
Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 114 Satz 1, 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO und die Entscheidung über die Kosten des Prozesskostenhilfeverfahrens auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).