Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.04.2011, Az.: 11 LA 57/11

Wenn im Fall plötzlicher Erkrankung des Prozessbevollmächtigten des Klägers der Antrag auf Terminsverlegung abgelehnt wird, kann das rechtliche Gehör verletzt sein

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
20.04.2011
Aktenzeichen
11 LA 57/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 15649
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2011:0420.11LA57.11.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 09.12.2010 - AZ: 6 A 1352/09

Fundstellen

  • NJW 2011, 10
  • NJW 2011, 1986-1988

Amtlicher Leitsatz

Das rechtliche Gehör kann verletzt sein, wenn im Fall einer plötzlichen Erkrankung des Prozessbevollmächtigten des Klägers der Antrag auf Terminsverlegung abgelehnt wird.

Gründe

1

Der Kläger - ein libanesischer Staatsangehöriger - begehrt die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31. August 2009 ab und drohte ihm zugleich für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung an. Der Kläger wurde am 16. März 2010 in den Libanon abgeschoben, nachdem ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erfolglos geblieben war. Das Verwaltungsgericht hat die gegen den Bescheid vom 31. August 2009 erhobene Klage mit Urteil vom 9. Dezember 2010 abgewiesen.

2

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil hat Erfolg. Der ausschließlich geltend gemachte Verfahrensmangel einer Versagung des rechtlichen Gehörs im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO i.V.m. § 108 Abs. 2 VwGO und Art. 103 Abs. 1 GG liegt vor. Das Verwaltungsgericht hätte nicht in Abwesenheit des Prozessbevollmächtigten des Klägers am 9. Dezember 2010 mündlich verhandeln und in der Sache entscheiden dürfen, sondern den Verhandlungstermin verlegen müssen.

3

Gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann ein Termin aus erheblichen Gründen geändert werden. Dadurch soll den Beteiligten die sachgerechte Wahrnehmung ihrer Rechte im Prozess ermöglicht werden. Dies schließt das Recht eines Beteiligten ein, sich durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vertreten zu lassen. Das Fehlen einer ordnungsgemäßen Vertretung in der mündlichen Verhandlung infolge einer kurzfristigen, überraschenden Erkrankung des Prozessbevollmächtigten ist daher in der Regel ein erheblicher Grund für eine Terminsänderung (vgl. zum Vorstehenden etwa BVerwG, Beschl. v. 21.12.2009 - 6 B 32.09 -, [...] m. w. Nachw. a. d. Rspr.). Allerdings obliegt es dem Prozessbevollmächtigten in einem solchen Fall, die Hinderungsgründe, auf die er sich berufen will, möglichst noch vor dem Termin schlüssig und substantiiert darzulegen, so dass das Gericht in die Lage versetzt wird, das Vorliegen eines erheblichen Grundes zu beurteilen und gegebenenfalls eine (weitere) Glaubhaftmachung gemäß § 227 Abs. 2 ZPO zu verlangen (BVerwG, a.a.O.). Deshalb müssen, wenn der Antrag auf Terminsverlegung mit einer plötzlichen Erkrankung des Prozessbevollmächtigten begründet wird, dem Gericht regelmäßig nähere Angaben zu Art und Schwere der Krankheit gemacht und diese etwa durch Vorlage eines ärztlichen Attestes glaubhaft gemacht werden (vgl. BFH, Beschl. v. 10.4.2007 - XI B 58/06 -, [...]).

4

Die mündliche Verhandlung des Verwaltungsgerichts E. - 6. Kammer - war für den 9. Dezember 2010, 15.00 Uhr, anberaumt. An diesem Tag wurde um 13.55 Uhr dem Verwaltungsgericht ein Telefax der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers, die ihren Sitz in B. (NRW) hat, mit der Überschrift: "Eilt sehr! Bitte sofort vorlegen! Gerichtstermin am 9.12.2010 um 15.00 Uhr!" übermittelt. Darin bat Rechtsanwalt C. um Aufhebung des Gerichtstermins, da der alleinige Sachbearbeiter, Rechtsanwalt D., erkrankt sei. Aufgrund der Entfernung und der Kürze der Zeit sei die Wahrnehmung des Gerichtstermins durch einen Kollegen nicht möglich. Wie aus der Sitzungsniederschrift des Verwaltungsgerichts vom 9. Dezember 2010 hervorgeht, wurde die vorliegende Sache um 15.00 Uhr aufgerufen. In der Sitzungsniederschrift heißt es weiter, dass die Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Telefax-Schriftsatz vom 9. Dezember 2010 die Terminsaufhebung beantragt haben. Nach Aushändigung einer Abschrift dieses Schriftsatzes an die Vertreterin des Beklagten lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag der Prozessbevollmächtigten des Klägers ab. Es führte zur Begründung aus, dass weder eine Erkrankung des sachbearbeitenden Rechtsanwalts D. glaubhaft gemacht noch belegt sei, dass die Wahrnehmung des Gerichtstermins durch einen seiner Kollegen nicht möglich sei. Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung wies das Verwaltungsgericht die Klage mit einem am Schluss des Sitzungstages verkündeten Urteil ab.

5

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat im Zulassungsverfahren mit Schriftsatz vom 14. März 2011 vorgetragen, ihm sei am Vormittag des 9. Dezember 2010 plötzlich so übel geworden, dass an eine Weiterarbeit an diesem Tag nicht mehr zu denken gewesen sei. Auch die Fahrt, die nach E. eingeplant gewesen sei, habe er deshalb nicht antreten können. Er habe in seiner Kanzlei angerufen und seine Sekretärin gebeten, dies dem Verwaltungsgericht anwaltlich mitzuteilen und um Verlegung des Termins zu bitten.

6

Der Senat hat mit Verfügung vom 5. April 2011 den Prozessbevollmächtigten des Klägers um eine - im Einzelnen bezeichnete - Ergänzung und Glaubhaftmachung seines Vortrags gebeten. Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 11. April 2011 anwaltlich Folgendes versichert: Am 9. Dezember 2010 habe er - belegt durch das Sitzungsprotokoll - einen Termin beim Verwaltungsgericht F. von 10.05 Uhr bis um 10.45 Uhr wahrgenommen. Schon während der Sitzung habe er leichte Übelkeit verspürt. Gleichwohl habe er sich nach Ende der mündlichen Verhandlung mit dem Pkw auf den Weg Richtung E. gemacht. Kurz nach Antritt der Fahrt habe sich aber die Übelkeit, einhergehend mit massiven Kreislaufbeschwerden, verstärkt. Er habe deshalb die Fahrt unterbrechen und an den Straßenrand fahren müssen. Dort habe er sich übergeben. Da er gehofft habe, dass die Übelkeit vergehen würde, habe er ca. eine halbe Stunde gewartet. Der erhoffte Effekt sei jedoch nicht eingetreten. Ihm sei deshalb nichts anderes übrig geblieben, als die Fahrt abzubrechen. Diese Entscheidung habe er gegen 12.00 Uhr getroffen. Zu diesem Zeitpunkt habe er auch in seiner Kanzlei angerufen. Das Telefax habe dem Gericht erst um 13.55 Uhr übermittelt werden können, da erst um diese Zeit ein Rechtsanwalt in der Kanzlei gewesen sei, der das Telefax unterschreiben konnte. Einen Arzt habe er nicht aufgesucht. Stattdessen habe er sich nach Hause begeben und den Rest des Tages zwischen Bett und WC pendelnd verbracht. Am Folgetag sei die Sache überstanden gewesen. Der Senat hält dieses Vorbringen auch unter Berücksichtigung der von dem Beklagten im Schriftsatz vom 15. April 2011 dagegen geltend gemachten Bedenken für glaubhaft.

7

Es ist allgemein anerkannt, dass auch eine anwaltliche Versicherung über selbst erlebte Vorgänge ein zulässiges Beweismittel im Sinne des § 294 Abs. 1 ZPO (i.V.m. § 173 Satz 1 VwGO) darstellt, das allerdings vom Gericht frei zu würdigen ist (vgl. Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 69. Aufl., § 294 Rn. 6, und Thomas-Putzo, ZPO, 30. Aufl., § 294 Rn. 2, jew. m. Nachw. a. d. Rspr.). Der Senat sieht in den anwaltlich versicherten Angaben des Prozessbevollmächtigten des Klägers im Schriftsatz vom 11. April 2011 eine Präzisierung seiner Zulassungsgründe, die außerhalb der Frist des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO zulässig ist. Auch lässt sich nicht feststellen, dass diese Ergänzung in einem entscheidungserheblichen Widerspruch zum bisherigen Vorbringen steht. Zwar trifft es zu, dass der Prozessbevollmächtigte im Schriftsatz vom 14. März 2011 vorgetragen hatte, dass er die Fahrt nach E. wegen seiner Übelkeit nicht habe antreten können, während er im Schriftsatz vom 11. April 2011 vorgetragen hat, er habe sich nach Ende der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht F. mit dem Pkw auf den Weg Richtung E. gemacht, aber kurze Zeit später die Fahrt wegen verstärkter Übelkeit und massiver Kreislaufbeschwerden abbrechen müssen. Der Senat sieht darin aber keine gravierende Unstimmigkeit, die zu Zweifeln an der Richtigkeit der Darstellung des Prozessbevollmächtigten insgesamt Anlass bieten könnte. Denn im Großen und Ganzen ist die Schilderung dieses Vorfalls plausibel, wenn auch die Ausführungen im Schriftsatz vom 14. März 2011 präziser und umfassender hätten sein können.

8

Dass der Verlegungsantrag erst um 13.55 Uhr dem Verwaltungsgericht übermittelt worden ist, obwohl der Prozessbevollmächtigte seine Kanzlei schon gegen 12.00 Uhr über seine Erkrankung informiert hatte, ist zwar bedauerlich, stellt aber keinen Verstoß gegen die prozessuale Mitwirkungspflicht dar. Der Prozessbevollmächtigte hat dazu glaubhaft versichert, dass vorher kein anderer Rechtsanwalt, der das Telefax hätte unterschreiben können, in der Kanzlei gewesen sei. Der Senat sieht keinen Anlass, diese Erklärung in Zweifel zu ziehen und - wie vom Beklagten für erforderlich gehalten - weitere Nachweise zur Abwesenheit der übrigen sechs Sozietätskollegen zu verlangen.

9

Aus welchen Gründen der Prozessbevollmächtigte des Klägers keinen Arzt aufgesucht hat und deshalb auch (nachträglich) kein ärztliches Attest vorlegen konnte, hat er ebenfalls nachvollziehbar dargelegt.

10

Wenn auch das Verwaltungsgericht nach seinem damaligen Kenntnisstand den Verhandlungstermin nicht ohne Weiteres verlegen musste, bestand jedenfalls angesichts seiner Zweifel ein hinreichender tatsächlicher Anlass, durch einen Rückruf in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers Nachfragen wegen der geltend gemachten Erkrankung zu halten und gegebenenfalls - wie von § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 2 ZPO vorgesehen - eine Glaubhaftmachung der Verhinderung zu verlangen (so auch BVerwG in einem vergleichbaren Fall, vgl. Beschl. v. 21.12.2009, a.a.O.). Hierfür stand dem Verwaltungsgericht auch eine ausreichende Zeitspanne von etwa einer Stunde bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung zur Verfügung. Gegebenenfalls hätte es auch die mündliche Verhandlung unterbrechen und in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers telefonisch auf seine Bedenken hinweisen können. Dass dem Prozessbevollmächtigten des Klägers selbst damals aufgrund seiner von ihm nachträglich glaubhaft geschilderten gesundheitlichen Situation nähere Angaben nicht möglich waren und auch ein ärztliches Attest nicht vorgelegt werden konnte, erscheint nachvollziehbar. Dass angesichts der kurzfristigen Erkrankung des Prozessbevollmächtigten des Klägers und der Entfernung von B. nach E. eine Vertretung durch einen seiner Kollegen nicht in Betracht kam, liegt auf der Hand. Schließlich fehlen auch jegliche Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Antrag auf Terminsverlegung durch die Absicht der Prozessverschleppung getragen wurde. Denn es liegt gerade im Interesse des am 16. März 2010 in den Libanon abgeschobenen Klägers, dass möglichst zeitnah über seine Klage entschieden wird.

11

Da somit der Prozessbevollmächtigte des Klägers ohne Verschulden an der Wahrnehmung des Verhandlungstermins vor dem Verwaltungsgericht gehindert war, verletzt die Ablehnung des Antrags auf Terminsverlegung den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Der Einwand des Beklagten, der Kläger habe nicht dargelegt, dass das Urteil auf dem behaupteten Verfahrensmangel beruhen kann, greift nicht durch. Zwar fehlen Ausführungen dazu, inwiefern bei Anwesenheit des Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung eine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Diese sonst bei einer Gehörsrüge zu beachtende Pflicht gilt aber nicht ohne Ausnahme. Hat sich - wie hier - der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu dem gesamten Verfahrensstoff nicht äußern können, lässt sich nachträglich nicht feststellen, wie die mündliche Verhandlung im Fall der Anwesenheit des Prozessbevollmächtigten verlaufen wäre. Damit ist der Kläger objektiv nicht in der Lage, Ausführungen darüber zu machen, was er noch vorgetragen hätte (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.9.1994 - 3 C 28.92 -, BVerwGE 96, 368 = NJW 1995, 1441). In einer derartigen Konstellation ist es deshalb gerechtfertigt, auf entsprechende Darlegungen in der Gehörsrüge zu verzichten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.12.2009, a.a.O.). Ebenso wenig kommt eine entsprechende Anwendung von § 144 Abs. 4 VwGO in Betracht (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.9.1994, a.a.O.).

12

Das Zulassungsverfahren wird unter dem neuen Aktenzeichen

13

11 LB 127/11

14

als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124 a Abs. 5 Satz 5 VwGO). (...)

15

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.