Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.12.2006, Az.: 7 ME 271/04
Abstandserlass WKA; Immissionsschutzrechtliche Genehmigung; optische Bedrängnis; Raumordnungsprogramm; Regionales Raumordnungsprogramm; Umweltverträglichkeitsprüfung; Verfahrensfehler; Windenergieanlage; Windkraftanlage
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 13.12.2006
- Aktenzeichen
- 7 ME 271/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 53331
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 27.10.2004 - AZ: 12 B 3827/04
Rechtsgrundlagen
- § 35 Abs 1 Nr 5 BauGB
- § 35 Abs 3 S 1 Nr 3 BauGB
- § 10 BImSchG
- § 16 Abs 5 S 3 RaumOG ND
Gründe
I.
Mit seiner Beschwerde gegen den im Tenor aufgeführten Beschluss wendet sich der Antragsteller weiter gegen eine Genehmigung von Windkraftanlagen (WKA) in seiner Nachbarschaft.
Das Verwaltungsgericht hat es abgelehnt, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte und für sofort vollziehbar erklärte immissionsschutzrechtliche Änderungsgenehmigung vom 9. Juli 2004 wiederherzustellen. Gestattet werden damit Errichtung und Betrieb fünf weiterer - drei sind bereits vorhanden - WKA des Typs VESTAS V 80 mit 2.0 MW Nennleistung und 100 m Naben- sowie 140 m Gesamthöhe in der Gemarkung E., und der Gemarkung F.. Der Antragsteller ist Eigentümer des im Außenbereich gelegenen Wohngrundstücks G. in H.. Das Wohnhaus liegt 550 m und 650 m von den beiden (in F.) nächstgelegenen WKA entfernt.
Zur Begründung seiner eine Aussetzung des Sofortvollzugs der Genehmigung ablehnenden Entscheidung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass das Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzung der Genehmigung das Aufschubinteresse des Antragstellers überwiege. Er werde voraussichtlich nicht von unzumutbaren Lärmbeeinträchtigungen betroffen. Eine Vorbelastung durch das mehr als 2000 m entfernte Industriegebiet Schweringen sei nicht gegeben. Bisher nicht zweifelsfrei belegt sei zwar, ob bei Windgeschwindigkeiten von über 10 m/s der Schalldruckpegel tatsächlich nicht stärker als zugrundegelegt ansteige. Diese Unsicherheit werde jedoch durch die unter dem 20. Oktober 2004 vorgenommene Neufassung der Nebenbestimmung 1.5 der Genehmigung ausreichend kompensiert. Danach müsse nach Inbetriebnahme durch Messungen die Einhaltung der Immissionsrichtwerte der TA-Lärm unter Erfassung der höchsten Pegel nachgewiesen werden. Dem Antragsteller sei zumutbar, die damit faktisch angeordnete „Erprobungsphase“ hinzunehmen. Verfahrensfehler, die zur Suspendierung der Genehmigung führen könnten, lägen nicht vor. Abgesehen davon, dass auch die bereits genehmigten drei WKA des Windparks in das jetzige förmliche Verfahren einbezogen worden seien, würden materielle Rechtspositionen des Antragstellers selbst bei insoweit festzustellenden Defiziten nicht betroffen. Entsprechendes gelte, wenn entgegen dem Ergebnis der Vorprüfung des Antragsgegners doch eine Umweltverträglichkeitsprüfung - UVP - durchzuführen gewesen sein sollte. Die WKA hätten für den Antragsteller auch keine optisch bedrängende Wirkung. Ferner könne er nichts für sich daraus herleiten, dass der von einem ministeriellen Erlass für die Regionalplanung empfohlene Mindestabstand zur Wohnbebauung 1.000 m betrage und WKA Nr. 4 möglicherweise außerhalb der im Regionalen Raumordnungsprogramm ausgewiesenen Vorrangfläche stehe.
Mit seiner fristgerecht erhobenen und begründeten Beschwerde sieht der Antragsteller seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und rügt die verwaltungsgerichtliche Würdigung der Verfahrensfragen („Aufspaltung in zwei Verfahren“ und UVP). In der Sache beanstandet er die gerichtliche Bewertung der Lärmbelastung, des Raumordnungsproblems und der von ihm als bedrängend empfundenen Nähe der Anlagen. Antragsgegner und Beigeladene verteidigen demgegenüber den Beschluss und beantragen Antragsablehnung.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die mit ihr dargelegten Gründe führen zu keiner Änderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, § 146 Abs. 4 S. 6, S. 3 VwGO. Es bleibt dabei, dass das Interesse der Genehmigungsinhaberin an der sofortigen Ausnutzung der Gestattung das Interesse des Antragstellers an einem Aufschub überwiegt, § 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 5 S. 1 VwGO.
1.) Das Verwaltungsgericht hat dem Antragsteller zu dem ihm übersandten Änderungsbescheid des Antragsgegners vom 20. Oktober 2004 rechtliches Gehör gewährt, indem es ihn seinen Prozessbevollmächtigten am 22. Oktober 2004 als Fax übermittelt und ihnen dazu eine Äußerungsfrist bis zum 25. Oktober 2004, 12 Uhr, eingeräumt hat, die diese mit dem an diesem Tag um 11.40 als Fax eingegangenen vierseitigen Schriftsatz auch wahrgenommen haben. Seinen Beschluss hat das Verwaltungsgericht am 27. Oktober 2004, also zwei Tage später, gefasst. Dadurch hatte es ausreichend Zeit, den Änderungsbescheid wie auch den Vortrag des Antragstellers dazu zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihm zu befassen, was durch die Beschlussgründe (BA Bl. 9) bestätigt wird. Dazu steht nicht in Gegensatz, dass ein Telefonat mit dem Berichterstatter am 25. Oktober 2004 um 10.15 Uhr nach Angabe des Antragstellers ergeben hat, dass „der Entwurf der Entscheidung bereits in der Schreibstube sei“. Ein Entwurf ist noch nicht die Entscheidung.
2.) Nicht zu beanstanden ist die vom Verwaltungsgericht bezüglich einer angeblich fehlerhaften Nichteinbeziehung der bereits genehmigten ersten drei WKA in das für die streitigen Anlagen durchgeführte förmliche Verfahren nach § 10 BImSchG sowie hinsichtlich der angeblich fehlerhaften Unterlassung einer UVP vertretene Auffassung, dass es sich dabei allenfalls um Verfahrensfehler handeln könnte, die als solche eigenständig keinen Aufhebungs- bzw. Aussetzungsanspruch des Antragstellers begründen würden. Dafür hat sich das Verwaltungsgericht u.a. auf die Rechtsprechung des beschließenden Senats gestützt (Beschl. v. 20. September 2004 - 7 ME 233/03 -, ÖffBauR 2004, 31; Beschl. v. 22. August 2003 - 7 ME 105/03 -, BeckRS 2003 23950), an der auch in Anbetracht des Beschwerdevorbringens festgehalten wird. Die Verfahrensvorschriften des Immissionsschutzrechts sind darauf angelegt, den von einem Vorhaben Betroffenen die optimale Verwirklichung seiner materiellrechtlichen Position zu ermöglichen. Wenn der Betroffene, wie vorliegend, nicht vorträgt, dass und gegebenenfalls wie sich hier die - unterstellt fehlerhafte - Nichtdurchführung eines förmlichen Genehmigungsverfahren von Anfang an auf seine materielle Rechtsposition ausgewirkt haben kann und dies auch sonst nicht ersichtlich ist, hat es damit sein Bewenden. Entsprechendes gilt, was die nach Vorprüfung vom Antragsgegner für nicht erforderlich gehaltene UVP betrifft. Ob diese Bewertung richtig ist, kann für die Entscheidung offenbleiben. Die UVP ist nach § 2 Abs. 1 S. 1 UVPG ein unselbständiger Teil des verwaltungsbehördlichen Verfahrens, ohne die Sachentscheidung um materiellrechtliche Vorgaben anzureichern (vgl. etwa OVG Münster, Beschl. v. 7. Januar 2004 - 22 B 1288/03 - DÖV 2004, 581, 582). Eine sachliche Beschwer des Antragstellers, die allein ihm eine Anfechtungsbefugnis verleihen könnte, läge in einer fehlerhaften Unterlassung also nicht. Dem Verwaltungsgericht ist zuzustimmen, dass auch das Urteil des EuGH vom 7. Januar 2004 - C-201/02 - (u.a. DVBl. 2004, 370) - das vom Antragsteller weiter genannte Urteil v. 7. Sept. 2004 - C-127/02 - ist von vornherein thematisch nicht einschlägig - keine andere Sichtweise gebietet. Der dort einen britischen Fall behandelnde EuGH betont in seiner Entscheidung, dass, was vorliegend nicht streitig ist, die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats alle Maßnahmen ergreifen müssen, um der europarechtlichen Verpflichtung zur Durchführung der UVP zum Durchbruch zu verhelfen. Die Einzelheiten des Verfahrens seien jedoch Sache der nationalen Rechtsordnung. In diesem Rahmen sei es auch Angelegenheit des nationalen Gerichts, festzustellen, ob nach nationalem Recht die Möglichkeit besteht, eine bereits erteilte Genehmigung zurückzunehmen oder auszusetzen, um dieses Projekt einer Umweltverträglichkeitsprüfung gemäß den Anforderungen der Richtlinie zu unterziehen (LS 3 u. a.a.O. S. 373). Demzufolge gilt: Nach deutschem Recht besteht jedenfalls bei Drittanfechtungen diese Möglichkeit nur, wenn durch das Unterlassen - hier einer gebotenen UVP - die materielle Position des Antragstellers verletzt worden ist. Dafür ist, wie bereits festgestellt, nichts erkennbar.
3.) a.) Was den vom Antragsteller behaupteten Verstoß gegen das Regionale Raumordnungsprogramm (RROP) des Antragsgegners - WKA Nr. 4 soll außerhalb der Vorrangflächenausweisung stehen - betrifft, so dürfte ein solcher nicht vorliegen. Das RROP trifft aufgrund seines Maßstabs 1 : 50.000 keine parzellenscharfen Festlegungen. Im gültigen Flächennutzungsplan liegt die Anlage jedenfalls im Randbereich des von diesem dargestellten Sondergebiets. Im Übrigen könnte, worauf das Verwaltungsgericht zu Recht hinweist, der Antragsteller eine Abweichung auch nicht mit Erfolg rügen, weil das Ergebnis eines Raumordnungsverfahrens gegenüber Einzelnen keine unmittelbare Rechtswirkung entfaltet, § 16 Abs. 5 S. 3 NROG. Entsprechendes gilt für den vom Antragsteller angeführten ministeriellen Erlass mit seinen Abstandsempfehlungen, der sich ausdrücklich nur an die Träger der Regionalplanung wendet (Empfehlungen des ML v. 26. Januar 2004, 303-32346/8.1, 2. Abs.). Für im Außenbereich liegende Wohnhäuser wie das des Antragstellers dürfte die Empfehlung im Übrigen nicht gelten, wenn sie insoweit von „Gebieten mit Wohnbebauung“ spricht.
b.) Mit der ersten WKA in etwa 550 m Entfernung zum Haus geht von dem Windpark oder den einzelnen Anlagen auch keine „optisch bedrängende Wirkung“ für den Antragsteller aus. Ob diese aus dem baurechtlichen Rücksichtnahmegebot abgeleitete Abwehrposition auch Bewohnern von Häusern im Außenbereich zu Gebote steht, ist bei Windkraftanlagen unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des § 35 Abs. 1 Nr. 5, 3 S. 1 Nr. 3 BauGB schon im Ansatz fraglich (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 12. Juni 2003 - 1 A 11127/02 -, ZUR 2003, 427). Jedenfalls müsste von der oder den Anlagen dafür eine nicht vermeidbare, permanent „erdrückende“ Wirkung für die Hausbewohner ausgehen, etwa durch eine dichte „Einkesselung“ oder eine so große Nähe, dass man einer sich massiv aufdrängenden optischen Belästigung nicht ausweichen kann. Von beidem kann hier, wie Liegenschaftskarte und Luftbilder (GA 162 f.) deutlich zeigen, keine Rede sein. Weder ist das Anwesen des Antragstellers inmitten des Windparks belegen - die Anlagen liegen vielmehr sämtlich in nördlicher Richtung - noch ist eine oder sind mehrere Anlagen in einem Abstand von weniger als 300 m zum Haus errichtet; erst etwa diese Entfernung markiert nach der neueren Rechtsprechung die mögliche kritische Grenze im Außenbereich (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, a.a.O.; OVG Münster, Urt. v. 18. Nov. 2002 - 7 A 2127/00 -, u.a. NVwZ 2003, 176).
4.) Schließlich vermag auch die Kritik der Beschwerde daran, dass das Verwaltungsgericht bestimmte Annahmen beim Schallverhalten der genehmigten Anlagen für noch abschließend klärungsbedürftig gehalten hat, ohne das Suspensivinteresse des Antragstellers deshalb als überwiegend zu bewerten, im Rahmen von § 80 Abs. 5 S. 1, Abs. 2 Nr. 4 VwGO nicht zu überzeugen. Das Verwaltungsgericht hat keineswegs „weitreichende“ Bedenken bei der Berechnung der Lärmbelastung zu Lasten des Antragstellers ausschlagen lassen oder insoweit „eine Fülle von Kritikpunkten“ anerkannt und in Kauf genommen, sondern lediglich die Validität von Messberichten zu bestimmten hohen Windgeschwindigkeiten als möglicherweise (noch) nicht hinreichend praktisch belegt angesehen. Nur dieses potentielle Defizit hat es durch die Neufassung der Nebenbestimmung (II.) 1.5 der Genehmigung als für den Antragsteller zumutbar bewertet. Denn im Falle einer damit belegbaren Nichteinhaltung der Schutzwerte in bestimmten Wettersituationen - bei der Messung muss zudem sichergestellt sein, dass der höchste Beurteilungspegel erfasst wird - können die Anlagen sofort auch mit verringerten Drehzahlen weiterbetrieben werden, so dass die in II. 1.3 angeordneten Grenzwerte auf diese Weise in jedem Fall eingehalten werden. Ein bis dahin bestehendes Risiko erscheint wegen der Kurzzeitigkeit, die schon deshalb eine Gesundheitsgefährdung ausschließt, für den Antragsteller hinnehmbar.