Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.12.2009, Az.: 5 LA 481/08

Voraussetzungen für eine Widerlegung hinsichtlich der gesetzlichen Vermutung einer so genannten Versorgungsehe; Richtigkeitszweifel i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.12.2009
Aktenzeichen
5 LA 481/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 29457
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2009:1221.5LA481.08.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 29.10.2008 - AZ: 3 A 2319/06

Fundstellen

  • DÖD 2010, 151-152
  • NVwZ-RR 2010, 278-279
  • RiA 2010, 94-95
  • ZBR 2010, 319-320

Amtlicher Leitsatz

Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die gesetzliche Vermutung einer so genannten Versorgungsehe (§ 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BeamtVG) widerlegt ist.

Gründe

1

Die geborene Klägerin heiratete am Mai 2006 ihren Ehemann, der am Juni 2006 verstarb. Der geborene Ehemann der Klägerin war Beamter auf Lebenszeit und hatte seit 1984 mit der Klägerin zusammengelebt. Den Antrag der Klägerin, ihr Witwengeld zu gewähren, lehnte die Beklagte ab, weil aufgrund der kurzen Ehedauer von einer allein zum Zwecke der Versorgung geschlossenen Ehe auszugehen sei. Auf die Klage der Klägerin hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, der Klägerin Witwengeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.

2

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung, über den der Vorsitzende anstelle des Senats entscheidet (§§ 125 Abs. 1, 87 a Abs. 2 VwGO), hat keinen Erfolg.

3

Die Voraussetzungen des geltend gemachten Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind nicht erfüllt.

4

Ernstliche Zweifel sind erst dann zu bejahen, wenn bei der Überprüfung im Zulassungsverfahren, also aufgrund der Begründung des Zulassungsantrages und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts, gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zu Tage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist, wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird. Die Richtigkeitszweifel müssen sich auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zur Änderung der angefochtenen Entscheidung führt. Um ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils darzulegen, muss sich der Zulassungsantragsteller substantiiert mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Welche Anforderungen an Umfang und Dichte seiner Darlegung zu stellen sind, hängt deshalb auch von der Intensität ab, mit der die Entscheidung des Verwaltungsgerichts begründet worden ist. Ist das angegriffene Urteil auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, müssen hinsichtlich aller dieser Begründungen Zulassungsgründe hinreichend dargelegt werden (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 25.4.2008 - 5 LA 154/07 -).

5

Ausgehend von diesen Grundsätzen führt das Vorbringen der Beklagten nicht zur Zulassung der Berufung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Denn es begegnet keinen ernstlichen Richtigkeitszweifeln in dem dargestellten Sinn, dass das Verwaltungsgericht zu der Einschätzung gelangt ist, dass die Klägerin gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG die Gewährung von Witwengeld beanspruchen kann.

6

Nach § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BeamtVG ist Witwengeld allerdings in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Ehe mit dem verstorbenen Beamten nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, grundsätzlich ausgeschlossen. Es wird von Gesetzes wegen vermutet, dass durch die Heirat beabsichtigt war, der Witwe eine beamtenrechtliche Versorgung zu sichern, so dass es dem Dienstherrn auch im Rahmen der grundsätzlichen Alimentationspflicht nicht zugemutet wird, der Witwe Versorgungsleistungen zu gewähren. Die Witwe kann diese gesetzliche Vermutung jedoch widerlegen. Die Vermutung ist widerlegt, wenn nach den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Witwe eine Versorgung zu verschaffen (§ 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2. Satzteil BeamtVG). Die gesetzliche Vermutung des Vorliegens einer so genannten Versorgungsehe ist entkräftet, wenn besondere, nach außen erkennbare Umstände vorliegen, wonach ein anderer Zweck der Eheschließung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie der Versorgungszweck. Dazu genügt in der Regel, wenn auch nicht ausnahmslos, dass unter den Beweggründen jedenfalls eines der Ehegatten die Versorgungsabsicht keine maßgebliche Bedeutung hatte (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 10.2.2003 - 4 S 2782/01 -, IÖD 2003, 166 = [...] Rn 8; OVG Hamburg, Beschluss vom 28.10.2004 - 1 Bf 189/04 -, IÖD 2005, 79 = [...] Rn 3; OVG Münster, Beschlüsse vom 18.7.2003 - 6 A 1605/03 -, [...] Rn 10, und 7.7.2004 - 6 E 693/04 -, [...] Rn 4). Die materielle Beweislast dafür, dass die Versorgungsabsicht keine maßgebende Bedeutung für die Heirat hatte, trifft die Witwe. Ein voller Gegenbeweis für einen anderen Zweck der Heirat ist allerdings nicht erforderlich. Es genügt, wenn die Annahme, die Versorgungsabsicht sei der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat gewesen, ausgeräumt wird (vgl. OVG Münster, Beschlüsse vom 18.7.2003 und 7.7.2004, a.a.O.; VGH Kassel, Beschluss vom 16.2.2007 - 1 ZU 1948/06 -, IÖD 2007, 239 = [...] Rn 3).

7

Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze begegnet die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe die gesetzliche Vermutung des § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BeamtVG widerlegt, keinen ernstlichen Richtigkeitszweifeln im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die differenzierten Darlegungen der Beklagten im Zulassungsverfahren rechtfertigen es nicht, die Richtigkeit der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts ernstlich in Frage zu stellen.

8

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die Kenntnis einer lebensbedrohlichen Erkrankung des künftigen Ehepartners von entscheidender Bedeutung für die Widerlegbarkeit der gesetzlichen Vermutung, die Eheschließung diene hauptsächlich der Versorgung (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.4.1991 - 2 C 7.90 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 230; Beschluss vom 2.10.2008 - 2 B 7.08 -, [...] Rn 3; Beschluss vom 19.1.2009 - 2 B 14.08 -, [...] Rn 7). Es ist aber nicht in jedem Falle ausschlaggebend, wie schwer der Beamte im Zeitpunkt der Eheschließung erkrankt war. Denn nicht in allen Fällen, in denen der Beamte bei der Heirat schwer krank und dies den Eheleuten im Zeitpunkt der Eheschließung bzw. des Heiratsentschlusses bekannt ist, muss der Versorgungszweck alleiniger oder überwiegender Zweck der Heirat sein. Auch in diesen Fällen können andere "einigermaßen wirklichkeitsnahe" Beweggründe für die Heirat im Vordergrund stehen (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 10.2.2003, a.a.O., m.w.N.).

9

Der Senat hat im Ergebnis keine ernstlichen Zweifel, dass nach den besonderen Umständen des vorliegenden Einzelfalls die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Klägerin eine Versorgung zu verschaffen. Die besonderen Umstände bestehen hier darin, dass die Klägerin vorgetragen hat, die Heirat sei im Zeitpunkt einer überwunden geglaubten lebensbedrohlichen Erkrankung erfolgt. Der behandelnde Arzt Dr. B. habe vor der Hochzeit erklärt, dass einer vollständigen Heilung des verstorbenen Beamten nichts im Wege stehe. Es begegnet keinen ernstlichen Richtigkeitszweifeln im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, dass das Verwaltungsgericht den diesbezüglichen Vortrag der Klägerin als schlüssig eingestuft hat (vgl. S. 7 f. UA). Es ist nach der Überzeugung des Senats rechtlich unerheblich, ob sich das Verwaltungsgericht bei der Auslegung der in der undatierten Anlage zur Rechnung des Klinikums C. angeführten Diagnose "Vollremission nach 3 Zyklen Chemotherapie" allein auf die Enzyklopädie "Wikipedia" hat stützen dürfen. Denn maßgeblich ist, wie die Klägerin und der verstorbene Beamte die ärztliche Diagnose und die ihnen seitens der behandelnden Ärzte gegebenen Erläuterungen verstanden hatten. Die Klägerin hat zu ihrem Vorbringen, der behandelnde Arzt Dr. B. habe vor der Hochzeit erklärt, dass einer vollständigen Heilung nichts im Wege stehe, eine Bescheinigung des Arztes Dr. B. vom 16. Oktober 2006 vorgelegt. Hierin hat dieser ausgeführt, dass nach der Einleitung der Chemotherapie angesichts des lokalisierten Stadiums des Non-Hodgkin-Lymphoms "eine gute Heilungschance" bestanden habe. In seiner ergänzenden Bescheinigung vom 22. Januar 2007 hat Dr. B. ausgeführt, dass zum Zeitpunkt des Abschlusses der Chemotherapie Anfang Mai 2006 "der klinische Eindruck einer Vollremission" bestanden habe, was bedeute, dass "der Tumor vollständig verschwunden" gewesen sei. Zu dem Zeitpunkt habe der "Eindruck einer möglichen Heilung der Erkrankung" bestanden. In der Bescheinigung vom 22. Januar 2007 heißt es weiter, "aufgrund des hervorragenden Ansprechens des Lymphdrüsenkrebses auf die Chemotherapie und der klinisch nicht mehr nachweisbaren Tumormanifestation" habe im Mai 2006 "die Möglichkeit einer vollständigen Heilung der Erkrankung" bestanden, "da es sich nach primärer Einschätzung um ein lokalisiertes Stadium des Krebses" gehandelt habe. Schließlich heißt es in der Bescheinigung vom 22. Januar 2007, die hochdramatische Verschlechterung des Gesundheitszustandes des verstorbenen Beamten sei zum Zeitpunkt der Hochzeit nicht abzusehen gewesen. Die Erklärungen des Arztes durften die Klägerin und der verstorbene Beamte nach dem Verlauf der Behandlungen bei verständiger Würdigung dahingehend verstehen, dass es gelungen war, das Stadium der Lebensbedrohlichkeit der Erkrankung zu überwinden. Angesichts dieser besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls kann die Beklagte dem Verwaltungsgericht nicht mit Erfolg entgegenhalten, es habe rechtsfehlerhaft angenommen, dass die Ehe jedenfalls nicht in überwiegender Versorgungsabsicht geschlossen worden sei.

10

Aus dem Umstand, dass die Klägerin und der verstorbene Beamte noch im Mai 2006 Neuanschaffungen für das lediglich zu eigenen Zwecken genutzte Ferienhaus getätigt und anlässlich der in kleinerem Rahmen durchgeführten Hochzeitsfeier mit einem Gastwirt die Konditionen für ein späteres größeres Hochzeitsfest besprochen haben, lassen sich ebenfalls gewichtige Indizien dafür ableiten, dass es nicht der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Klägerin eine Versorgung zu verschaffen.

11

Ein beachtliches Indiz gegen die Annahme eines ausschließlichen oder überwiegenden Versorgungszwecks zum Zeitpunkt der Eheschließung ist schließlich auch die Tatsache, dass die Klägerin und der verstorbene Beamte nicht etwa überstürzt im Anschluss an die im Februar 2006 gestellte Diagnose geheiratet haben, sondern erst drei Monate später, nachdem ihnen der behandelnde Arzt die dargestellten Behandlungserfolge mitgeteilt hatte.