Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.09.2021, Az.: 1 ME 100/21

Nachbarliche Verpflichtung zur Vorsorge gegen Starkregenmaßnahmen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.09.2021
Aktenzeichen
1 ME 100/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 38681
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 03.06.2021 - AZ: 4 B 2190/21

Fundstellen

  • BauR 2021, 1931-1933
  • DÖV 2021, 1134
  • IBR 2021, 654
  • NordÖR 2021, 567-569
  • ZfBR 2021, 886-887
  • ZfW 2022, 61-63

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Aus dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme folgt jedenfalls grundsätzlich keine Verpflichtung gegenüber den Nachbarn, auch für extrem seltene Starkregenereignisse (hier: Ereignisse mit einer geringeren Eintrittswahrscheinlichkeit als ein 10jähriges Regenereignis) Vorsorge zu treffen, damit kein Oberflächenwasser auf die Nachbargrundstücke abläuft.

  2. 2.

    Das Fehlen einer weitergehenden Vorsorge könnte sich allenfalls dann als rücksichtslos erweisen, wenn entweder Niederschlagswasser gezielt auf die Nachbargrundstücke geleitet würde und diese damit zur Abwehr von Schäden am eigenen Grundstück missbraucht würden oder Schäden in außergewöhnlichem Ausmaß zu befürchten wären, denen auch mit Selbsthilfemaßnahmen nicht begegnet werden könnte.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 3. Juni 2021 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu je einem Drittel. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 22.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für ein Mehrfamilienhaus, weil sie eine Verschlechterung ihrer Entwässerungssituation bei Starkregenereignissen befürchten.

Die Antragsteller sind Eigentümer der im Aktivrubrum bezeichneten Grundstücke. Diese liegen am nördlichen Rand der Altstadt nahe der I., einem Gewässer II. Ordnung. Östlich der Grundstücke erstreckt sich zwischen Altstadt und I. der Bürgerpark. Ein rund 2 m hoher Deich trennt die I. vom Siedlungsbereich.

Das Baugrundstück der Beigeladenen liegt nördlich der Grundstücke der Antragstellerinnen zu 1. und 2. sowie östlich des Grundstücks des Antragstellers zu 3. und westlich des Bürgerparks. Es besteht im Wesentlichen aus einem seit längerem verfüllten ehemaligen Mühlenteich und liegt im Geltungsbereich des vom Rat der Antragsgegnerin am 11. November 2020 beschlossenen, aber noch nicht bekanntgemachten Bebauungsplans 1-96 "J.". Zur Entwässerung gibt der Plan in § 8 der textlichen Festsetzungen vor, dass das auf den Bauflächen anfallende Oberflächenwasser auf den Grundstücksflächen (z.B. durch Stauraumkanal mit Drosseleinrichtung) zurückzuhalten und gedrosselt an den in der Straße K. verlaufenden Regenwasserkanal abzugeben ist. Die Ableitung darf 12,2 l/s nicht überschreiten. Als Bemessung ist ein 10jähriges Regenereignis zugrunde zu legen.

Die vorgenannten Festsetzungen finden ihren Grund in der Topografie und der eine Versickerung erschwerenden Bodenbeschaffenheit. Das Gelände fällt von der südlich gelegenen Altstadt und dem westlich gelegenen Grundstück des Antragstellers zu 3. nach Norden und Osten ab. Die tiefsten Punkte liegen mit rund 42 mNN am Ostrand des Grundstücks des Antragstellers zu 3., auf dem Baugrundstück, entlang des in Ost-West-Richtung verlaufenden Auedeichs sowie im Bürgerpark. Die Altstadt mit den Grundstücken der Antragstellerinnen zu 1. und 2. ist im Wesentlichen höher gelegen auf einem Niveau von 42,5 bis 43 mNN und mehr; (zumindest) auf diesem Niveau liegt auch das Wohnhaus des Antragstellers zu 3.

Die Beigeladene beabsichtigt, das Baugrundstück weithin auf ein Geländeniveau von 43,60 bis 43,70 mNN aufzuschütten und dort ein großzügiges Mehrfamilienhaus mit 30 Wohneinheiten sowie Nebenanlagen zu errichten. Nur der nördliche Grundstücksteil zum Auedeich liegt weiterhin tiefer und läuft zum Deichfuß hin aus. Das Konzept zur Oberflächenentwässerung (Gutachten L. aus April 2020) sieht vor, dass die Beigeladene zur Regenwasserrückhaltung in Stauraumkanälen ein Retentionsvolumen von 234 m3 schafft, um im Fall eines 10jährigen Regenereignisses sämtliches Oberflächenwasser des Baugrundstücks sowie von den Garten- und Wiesenflächen der Nachbargrundstücke zum Baugrundstück hin ablaufendes Oberflächenwasser aufzunehmen und unter Beachtung eines Drosselabflusses von 12,2 l/s in die Kanalisation abzugeben. Auf der Grundlage dieses Konzepts erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen unter dem 10. Dezember 2020 eine von den Antragstellern angefochtene Entwässerungsgenehmigung zum Anschluss an die öffentliche Abwasseranlage. Für das Bauvorhaben insgesamt erhielt die Beigeladene auf der Grundlage von § 33 BauGB unter dem 17. Dezember 2020 eine Baugenehmigung im vereinfachten Verfahren. Zur Entwässerung verweist die Baugenehmigung auf die Entwässerungsgenehmigung.

Gegen die Baugenehmigung haben die Antragsteller Widerspruch eingelegt. Den nach Baubeginn gestellten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht Hannover mit Beschluss vom 3. Juni 2021 abgelehnt. Nachbarschutz sei bei der auf der Grundlage von § 33 BauGB erteilten Baugenehmigung nach den Grundsätzen zu gewähren, die zu den §§ 30, 34, 35 BauGB entwickelt worden seien. Zu beachten sei deshalb das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme. Ob die Frage einer unzureichenden Entwässerung (auch) in diesem Rahmen oder nur im Rahmen des im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfenden § 13 NBauO zu behandeln sei, könne dahinstehen. Unzumutbare Überschwemmungen bei Starkregen drohten den Grundstücken der Antragsteller jedenfalls nicht. Das Entwässerungskonzept hätten die Antragsteller nicht substantiell in Frage gestellt.

Gegen diesen Beschluss wenden sich die Antragsteller mit ihrer Beschwerde, der die Antragsgegnerin und die Beigeladene entgegentreten.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses.

Soweit sich die Antragsteller gegen die Erteilung der Baugenehmigung auf der Grundlage von § 33 BauGB wenden und meinen, die Antragsgegnerin handele rechtswidrig, weil sie die Bekanntmachung des Bebauungsplans 1-96 ungebührlich verzögere, führt dieser Einwand nicht weiter. Die Baugenehmigung wurde am 17. Dezember 2020 und damit nicht einmal sechs Wochen nach Satzungsbeschluss erteilt. Dieser Zeitpunkt, zu dem eine ungebührliche Verzögerung nicht ansatzweise ersichtlich ist, ist maßgeblich.

Im Hinblick auf die Entwässerungsproblematik teilt der Senat auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass von dem Bauvorhaben der Beigeladenen für die Grundstücke der Antragsteller auch bei Starkregenereignissen keine unzumutbare Überschwemmungsgefahr ausgeht. Die Frage, ob und in welchem Umfang das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme (vgl. dazu allgemein BVerwG, Urt. v. 25.1.2007 - 4 C 1.06 -, BVerwGE 128, 118 = NVwZ 2007, 587 [BVerwG 25.01.2007 - BVerwG 4 C 1/06] = BRS 71 Nr. 169 = juris Rn. 11, 14) den Nachbarn hier vor einer Zufuhr von Oberflächenwasser im Fall von Starkregenereignissen schützt, kann daher weiterhin offenbleiben.

Soweit die Antragsteller - das Beschwerdevorbringen bleibt insofern undeutlich - meinen, das Vorhaben führe schon bei einem 10jährigen Regenereignis zu einem unzumutbaren Abfließen von Wasser auf die Antragstellergrundstücke, fehlt dafür jeder belastbare Anhaltspunkt. Das Entwässerungskonzept aus April 2020, das der Entwässerungsgenehmigung zugrunde liegt, sieht vielmehr ausdrücklich vor, dass unter dem Baugrundstück sowie dem Nachbargrundstück durch Stauraumkanäle ein Retentionsraum zu schaffen ist, der bei einem derartigen Regenereignis das gesamte Oberflächenwasser des Baugrundstücks, und zwar von versiegelten und unversiegelten Flächen gleichermaßen, aufnehmen und über einen längeren Zeitraum gedrosselt in die Kanalisation abgeben kann. Ferner ist der Retentionsraum - wohl in Orientierung an der privatrechtlichen Bestimmung des § 37 WHG - so bemessen, dass zusätzlich von unversiegelten Flächen auf den Antragstellergrundstücken zum Vorhabengrundstück abfließendes Oberflächenwasser aufgefangen werden kann. Aus welchen Gründen dieses mit allen seinen rechnerischen und tatsächlichen Annahmen offengelegte Konzept defizitär sein könnte, legen die Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren nicht konkret dar.

Unbestritten ist dagegen die Annahme der Antragsteller, dass die Bemessung der Entwässerungseinrichtungen auf dem Vorhabengrundstück nicht ausreicht, um im Fall von katastrophalen Starkregenereignissen, die über ein 10jähriges Ereignis hinausgehen, jeden Abfluss von Oberflächenwasser auf ihre Grundstücke zuverlässig zu verhindern. Eine derart weitgehende, auch auf extrem seltene Ereignisse bezogene Risikovorsorge ist den Nachbarn gegenüber jedoch nicht geschuldet. Eine solche Verpflichtung folgt insbesondere nicht aus dem technischen Regelwerk der DIN EN 752 (Entwässerungssysteme außerhalb von Gebäuden - Kanalmanagement). Abgesehen davon, dass dieses technische Regelwerk im Ausgangspunkt eine Konkretisierung der Vorgaben des nicht nachbarschützenden § 55 WHG, nicht aber des Gebots der Rücksichtnahme darstellen dürfte, hat die Antragsgegnerin unwidersprochen und unter auszugsweiser Wiedergabe des Regelwerks erläutert, dass die Auslegung des Entwässerungssystems nach Maßgabe eines 10jährigen Regenereignisses die dort formulierten Anforderungen übertrifft.

Das Fehlen einer weitergehenden Vorsorge könnte sich damit allenfalls dann als rücksichtslos erweisen, wenn entweder Niederschlagswasser gezielt auf die Nachbargrundstücke geleitet würde und diese damit zur Abwehr von Schäden am eigenen Grundstück missbraucht würden oder Schäden in außergewöhnlichem Ausmaß zu befürchten wären, denen auch mit Selbsthilfemaßnahmen nicht begegnet werden könnte. Beides ist nicht der Fall. Nach der Aufschüttung fällt das Vorhabengrundstück nach Norden zum Auedeich ab, sodass ablaufendes Wasser zum Deichfuß und von dort in den tiefer gelegenen Bürgerpark geleitet wird. Dieser liegt durchweg tiefer als die Grundstücke der Antragsteller, wenn man von einer kleinen unbebauten Ecke im Nordosten des Grundstücks des Antragstellers zu 3. absieht, die sich etwa auf dem Niveau des Bürgerparks befindet. Die Wohngebäude selbst liegen dagegen höher; insofern ist - der Vertreter der Beigeladenen hat wiederholt und zu Recht darauf hingewiesen - nicht ersichtlich, aus welchen Gründen eine der Situationsgebundenheit des Grundeigentums entsprechende Selbsthilfe etwa in Form von Schutzvorkehrungen vor und in den Gebäuden nicht möglich und deshalb die Beigeladene mit Schutzmaßnahmen zu belasten sein könnte. Dass die Antragsteller das Regenwasser auf ihren Grundstücken versickern, stellt einen solchen Grund nicht dar.

Vergleichbares gilt im Fall eines Überstaus des Entwässerungssystems. Die Antragsgegnerin hat überzeugend erläutert, dass sich das System in diesem Fall über Schächte entlastet, die zum Bürgerpark und nicht zu den Antragstellergrundstücken hin orientiert sind. Aus dem Entwässerungskonzept aus April 2020 ergibt sich zudem, dass die Schachtdeckel, die zu den Antragstellergrundstücken hin orientiert sind, am höchsten liegen. Dort kommt es mithin erst dann zu einem Wasseraustritt, wenn alle anderen Schächte bereits überflutet sind.

Weitergehende Vorsorge für den Fall, dass es zu einer - nach dem unbestrittenen Vorbringen der Antragsgegnerin bislang niemals eingetretenen - großflächigen Überlastung der Kanalisation in der Altstadt, zu einem Ablaufen von großen Wassermengen nach Norden und in Richtung Bürgerpark sowie zu einer großflächigen Überschwemmung des Parks kommt, können die Antragsteller von der Beigeladenen nicht verlangen. Insbesondere können sie - anders als sie offenbar meinen - nicht erwarten, dass die Beigeladene ihr Baugrundstück unter Verzicht auf dessen Aufschüttung als Retentionsraum für extreme Starkregenereignisse zur Verfügung hält, um zu einer schadlosen Entwässerung der Altstadt beizutragen und eine weitergehende Belastung ihrer eigenen - baulich ausgenutzten - Grundstücke zu verhindern. Für eine solche Erwartung fehlt es schon an der mit Blick auf die Normprägung des Grundeigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG - anders als etwa im Hochwasserschutzrecht - an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage; schon deshalb ist es unerheblich, wenn der Beigeladenen eine Bebauung auch unter Verzicht auf die Aufschüttung möglich gewesen sein sollte. Soweit nicht die Antragsgegnerin als grundsätzlich zur Abwasserbeseitigung Verpflichtete (vgl. § 96 NWG) weitere Maßnahmen zur Entwässerung der Altstadt trifft bzw. treffen muss, gilt der Grundsatz der Eigenverantwortung eines jeden Grundeigentümers. Es ist mit den Worten der Antragsgegnerin nicht Aufgabe der Beigeladenen, ein Entwässerungskonzept zu erstellen, das die Antragsteller vor sämtlichen denkbaren Überflutungsszenarien schützt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1, § 162 Abs. 3 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).