Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 22.08.2002, Az.: 5 A 477/02

Abschiebung; Depression; psychische Erkrankung; Türkei

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
22.08.2002
Aktenzeichen
5 A 477/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43557
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Die am 15. Juni 1960 geborene Klägerin reiste im Oktober 1990 in die Bundesrepublik ein. An der Anhörung vor dem Bundesamt am 30. Januar 1991 nahm sie wegen einer Erkrankung nicht teil. Sie erklärte sich damit einverstanden, dass ihr Ehemann auch ihre Asylgründe vorträgt. Dieser verwies auf die von ihm geltend gemachten Asylgründe. Der Asylantrag der Klägerin wurde durch Bescheid vom 21. Juni 1991 abgelehnt. Nach unanfechtbarem Abschluss dieses Verfahrens beantragte sie im Januar 1994 erneut Asyl. In der Anhörung am 7. März 1994 gab sie an, krank, aber in der Lage zu sein, die Anhörung durchzuführen. Sie habe Angst um ihre Angehörigen in der Türkei, von denen sie seit Jahren nichts gehört habe. Der Asylantrag wurde durch Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 3. Mai 1994 abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungshindernisse nach §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG nicht vorliegen. Die dagegen erhobene Klage wurde durch rechtskräftiges Urteil des erkennenden Gerichts vom 30. Juli 1998 (5 A 2554/94) abgewiesen.

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Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 21. November 2001 beantragte die Klägerin die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG. Sie führte dazu aus, sie bedürfe einer intensiven dauerhaften neurologischen und psychotherapeutischen Betreuung, die in der Türkei nicht gewährleistet sei. Sie müsse sich immer wieder in stationäre Behandlung begeben, zuletzt habe sie im September 2001 wegen unerträglicher Schmerzen, vor allem im Lymphknotenbereich, den Notarzt rufen müssen. Dem Antrag waren ärztliche Bescheinigungen des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. V. vom 13. November 1998, 11. Februar 1999, 29. März 1999 und 17. Januar 2001 beigefügt. Danach befand sich die Klägerin in der Zeit vom 19. Januar bis zum 3. Februar 1999 wegen einer Lymphknotentuberkulose in stationärer Behandlung. Weiter wurde ausgeführt, die Klägerin leide "an Zustand nach Bauchwandherniotomie mit Bauchdeckenverschluss, Zustand nach Lymphknoten-TBC mit tuberkulostatischer Therapie, depressivem Syndrom mit Panikattacken und Zustand nach fünf Entbindungen". Aufgrund einer ängstlich-depressiven Verstimmung mit psychophysischer Überforderung komme es sehr häufig zu Panikattacken mit Hyperventilationssyndrom. Sie werde mit Antidepressiva therapiert, eine ständige ärztliche Betreuung sei erforderlich. Wegen dieser Erkrankungen sei die Klägerin nicht reisefähig. Nach einer weiteren Bescheinigung des Dr. V. vom 13. Dezember 2001 erfolgte der von der Klägerin genannte Noteinsatz wegen Migräne.

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Die Beklagte lehnte mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 23. Januar 2002 eine Änderung des Bescheides vom 3. Mai 1994 hinsichtlich der Feststellung zu § 53 AuslG ab (bei dem im Tenor des angefochtenen Bescheides genannten Datum "06.01.1994" handelt sich um das seinerzeitige Antragsdatum und somit um einen offensichtlichen Schreibfehler).

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Mit der darauf am 7. Februar 2002 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie führte aus, im Hinblick auf die von der Beklagten geforderten weiteren fachärztlichen Bescheinigungen sei es notwendig gewesen, sich sofort in eine fachspezifische ärztliche Behandlung zu begeben. Sie legte dazu ein Attest des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B. vom 15. April 2002 vor. Dieser führte aus, die Arztberichte des Dr. V habe er eingesehen, die Klägerin erhalte einmal eine Tablette Saroten retard 75 mg und ein bis zwei Tabletten Eunerpan 10 mg zur Nacht. Sie leide unter einer schweren depressiven Erkrankung. Nach Ansicht ihres Ehemannes hätten die Symptome bereits vor über zwölf Jahren begonnen. Eine antidepressive und anxiolytische Medikation erfolge mit täglich zweimal einer Tablette Bespar 5 mg. Diese Behandlung sei für einen längeren Zeitraum ebenso dringend erforderlich, wie eine psychiatrische Behandlung und Betreuung. Im Falle einer Rückkehr in die Heimat könne eine ernstzunehmende Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes nicht ausgeschlossen werden.

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Der Vertrauensarzt der Deutschen Botschaft in Ankara führte auf Anfrage des erkennenden Gerichts unter dem 4. Juni 2002 aus, psychiatrische Erkrankungen jeglicher Art könnten in der Türkei auch in kurdischer Sprache behandelt werden. Sämtliche der Klägerin verordneten Medikamente seien in der Türkei erhältlich.

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Die Klägerin hat dazu ausgeführt, die Behandlungsmöglichkeiten in der Türkei seien ihr nicht zugänglich, auch sei die aufwendige, langfristig angelegte Behandlung dort nicht finanziell abgedeckt. Der behandelnde Arzt Dr. B. führte in einer weiteren Stellungnahme vom 29. Juli 2002 aus, trotz des langen Aufenthalts der Klägerin in Deutschland und der Behandlung habe eine nennenswerte Besserung nicht erreicht werden können. Aus ärztlicher Sicht sei sehr zu befürchten, dass es im Falle einer Abschiebung zu einer dramatischen Verschlechterung des Befindens der Klägerin kommen könnte. Es zeichne sich bereits jetzt ab, dass die depressiven und ängstlichen Symptome wegen einer möglichen Rückführung ins Heimatland zunähmen. Würde sich eine solche Entwicklung als unvermeidlich darstellen, würde dies auf die Prognose der Erkrankung einen verheerenden Einfluss ausüben. Eine ernstzunehmende Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin erscheine sogar sehr wahrscheinlich und könne auch durch eine Behandlung in der Türkei nicht aufgefangen werden.

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Die Klägerin beantragt,

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den Bescheid des Budesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 23. Januar 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG festzustellen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid und tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet, die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG.

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Das erkennende Gericht teilt die Auffassung der Beklagten, dass die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht erfüllt sind. Die Klägerin leidet nach den vorgelegten Arztberichten und Stellungnahmen bereits seit über zwölf Jahren unter der psychischen Symptomatik, die ebenso wie die körperlichen Leiden bereits am 13. November 1998 durch Dr. V. attestiert wurden. Dort befindet sie sich schon seit 1990 in ärztlicher Behandlung. Der Antrag der Klägerin, das Verfahren wieder aufzugreifen, ist danach gem. § 51 Abs. 2 VwVfG unzulässig, denn sie hat nicht dargetan - ohne grobes Verschulden - außer Stande gewesen zu sein, diese Erkrankungen in dem durch rechtskräftiges Urteil des erkennenden Gerichts vom 30. Juli 1998 (5 A 2554/4) abgeschlossenen Folgeverfahren geltend zu machen.

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Die Beklagte hat es aber auch ermessensfehlerfrei abgelehnt, das Verfahren gem. § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. § 49 VwVfG wiederaufzugreifen, Ermessensfehler sind insoweit nicht ersichtlich. Eine Ermessensreduzierung dergestalt, dass im Hinblick auf das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als ermessenfehlerfreie Entscheidung nur die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG gegeben sind, in Betracht kommt, ist nicht gegeben. Nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG kann von der Abschiebung eines Ausländers u.a. abgesehen werden, wenn ihm im Zielstaat der Abschiebung eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib oder Leben droht. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass diese Voraussetzungen auch dann erfüllt sein können, wenn sich eine Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatland verschlimmert, weil dort keine ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten gewährleistet oder für ihn erreichbar sind. Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor. Dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin im Hinblick auf den "Zustand nach Bauchwandherniotomie mit Bauchdeckenverschluss, Zustand nach Lymphknoten-TBC mit tuberkulostatischer Therapie und Zustand nach fünf Entbindungen" bei einer Rückkehr in die Türkei verschlechtern würde, hat sie selbst nicht geltend gemacht. Den von ihr vorgelegten Arztberichten ist auch nichts darüber zu entnehmen, dass die Klägerin diesbezüglich überhaupt behandlungsbedürftig ist.

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Im Vordergrund steht vielmehr die "ängstlich-depressive Verstimmung mit psychophysischer Überforderung" verbunden mit Panikattacken und dem ( - im Falle der Klägerin konkret gerichtsbekannten - ) Hyperventilationssyndrom (Dr. V vom 13. November 1998) bzw. die "schwere depressive Erkrankung" (Dr. B. vom 29. Juli 2002). Dass sich diese Erkrankung, deren Symptome offenbar schon seit über zwölf Jahren auftreten, alsbald nach einer Rückkehr in die Türkei wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlimmern würde, ist nicht feststellbar.

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Zwar hat Dr. B in seinen Stellungnahmen vom 15.04. und 29.07.2002 ausgeführt, eine ernstzunehmende Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin könne nicht ausgeschlossen werden, erscheine sogar sehr wahrscheinlich und könne auch durch eine Behandlung in der Türkei nicht aufgefangen werden. Diese Einschätzung ist jedoch nicht geeignet, ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis zu belegen. Eine posttraumatische Belastungsstörung hat Dr. B. nicht diagnostiziert. Auch hat die Klägerin bislang keine Angaben gemacht, die als traumatische Erlebnisse in Betracht kommen könnten. Eine Retraumatisierung im Falle der Rückkehr in die Türkei ist daher nicht zu erwarten. Anhaltspunkte für die Annahme, die diagnostizierte Depression der Klägerin beruhe auf eine "Verfolgung durch Behörden" finden sich in den Akten nicht. Die Klägerin hat dazu auch nichts vorgetragen. Sie hat sich in der Vergangenheit ausschließlich auf die Asylgründe ihres Mannes berufen, die aber asylrechtliche keine Bedeutung erlangt haben. Ergänzend hat sie ausgeführt, sie habe Angst um ihre Angehörigen in der Türkei, von denen sie seit Jahren nichts gehört habe; deshalb habe sie Angst, dorthin zurückzukehren. Danach spricht nichts für einen Zusammenhang der Depression der Klägerin mit Vorgängen in der Türkei vor ihrer Ausreise im Oktober 1990. Konkrete Gründe, die für die Einschätzung des Dr. B. sprechen könnten, der Gesundheitszustand der Klägerin verschlechtere sich im Falle einer Rückkehr in die Türkei dort alsbald wesentlich auch wenn die Behandlung dort fortgesetzt wird, sind auch sonst nicht ersichtlich. Soweit der behandelnde Arzt Dr. B. ausführt, bereits die mögliche Rückführung ins Heimatland führe zu einer Zunahme der depressiven und ängstlichen Symptome, es wäre von verheerendem Einfluss, wenn sich eine Rückkehr in die Türkei als unvermeidlich erweisen würde, lässt sich daraus ein in diesem Verfahren allein zu beurteilendes zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG nicht herleiten. Denn die Verschlechterung des Gesundheitszustandes würde danach bereits in der Bundesrepublik Deutschland eintreten.

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Die Klägerin wurde zunächst durch den Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. V. ärztlich betreut, bei dem sie sich seit 1990 in ärztlicher Behandlung befindet; sie wurde dort mit Antidepressiva behandelt. In die Behandlung des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B. hat sie sich "im Hinblick auf die von der Beklagten geforderten weiteren fachärztlichen Bescheinigungen" begeben. Die dort eingeleitete Behandlung hat nach der Stellungnahme des Dr. B. zu keiner durchgreifenden Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Klägerin geführt und die von diesem befürchtete Verschlechterung des Gesundheitszustandes würde - wie oben ausgeführt - bereits in der Bundesrepublik eintreten. Die hier eingeleitete Behandlung kann nach Auskunft des Vertrauensarztes der Deutschen Botschaft in Ankara vom 4. Juni 2002 auch in der Türkei fortgesetzt werden. Gründe für die Annahme einer über die bereits in Deutschland im Falle eines negativen Ausgangs des vorliegenden Verfahrens befürchteten Verschlimmerung der Erkrankung hinausgehenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin in der Türkei trotz dortiger Behandlung sind nicht gegeben. Die Klägerin und ihr Ehemann haben in den bisherigen Asylverfahren keine asylrechtlich relevanten Beeinträchtigungen durch türkische Behörden glaubhaft gemacht. Nach der Erkenntnislage droht ihnen auch bei einer Rückkehr in die Türkei keine "schlechte Behandlung" durch die dortigen Behörden. Die Annahme des Dr. B. in seiner Stellungnahme vom 29. Juli 2002 ist daher insoweit nicht nachvollziehbar.

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Die für erforderlich gehaltene Behandlung der Klägerin wäre für die Klägerin in der Türkei auch erreichbar. Nach der Auskunft des Vertrauensarztes der Deutschen Botschaft in Ankara vom 4. Juni 2002 kann die Erkrankung der Klägerin, die keine stationäre Behandlung erfordert, auch in der Türkei behandelt werden und die hier verabreichten Medikamente sind dort erhältlich. Es ist auch nicht zu befürchten, dass die erforderliche Therapie aus finanziellen Gründen für sie nicht erreichbar ist. Sie ist - ebenso wie ihr Ehemann - im arbeitsfähigen Alter und es ist ihr und ihren Familienangehörigen zumutbar, sich im Westen der Türkei niederzulassen, wo es ihnen möglich ist, ein wirtschaftliches Auskommen zu finden (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. November 2000, - 11 L 3218/00 -). Zu den für die Behandlung der Klägerin erforderlichen Kosten können daneben auch die Familienangehörigen der Klägerin beitragen, worauf im angefochtenen Bescheid zutreffend hingewiesen wird (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. November 2000, a.a.O.). Insoweit wird auf die zutreffenden Gründen des angefochtenen Bescheides Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylVfG.

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Darauf, ob die Klägerin reisefähig ist, kommt es im vorliegenden Verfahren nicht an. Diese Frage wird von der zuständigen Ausländerbehörde vor einem Vollzug der Abschiebungsandrohung zu prüfen sein.