Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 17.10.2003, Az.: 12 ME 308/03
Behinderung; Diabetes; Diabeteskost; Glaubhaftmachung; Kostenaufwand; kostenaufwändige Ernährung; Krankheit; Mehrbedarf; Übergewicht
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 17.10.2003
- Aktenzeichen
- 12 ME 308/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48197
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 23 Abs 4 BSHG
- § 123 Abs 1 VwGO
- § 123 Abs 3 VwGO
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts bleibt erfolglos.
Zutreffend hat das Verwaltungsgericht entschieden, dass der Antragsteller sowohl einen Anordnungsgrund (die Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Entscheidung) als auch einen Anordnungsanspruch (die mit dem Antrag geltend gemachte materielle Berechtigung) im Sinne des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO im Hinblick auf den von ihm geltend gemachten Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung nach § 23 Abs. 4 BSHG glaubhaft gemacht hat (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2, 294 ZPO).
Die für den Anordnungsgrund erforderliche Eilbedürftigkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung ist gegeben, weil Gegenstand des Verfahrens die Gewährung von Sozialhilfeleistungen ist, die ohnehin auf das Notwendige begrenzt sind und grundsätzlich zur Behebung aktueller und existenzieller Notlagen des Hilfesuchenden bestimmt sind. Das trifft auch hier zu, weil der im Streit stehende Mehrbedarf von 53,13 € für den Antragsteller nicht als unerheblich gewertet werden kann, zumal er anderenfalls seine Krankenkost nicht zu finanzieren in der Lage wäre.
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach § 23 Abs. 4 BSHG ist für kranke, genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwendigen Ernährung bedürfen ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anzuerkennen. Bei der Entscheidung darüber, ob ein Hilfeempfänger einen gegenüber dem mit den Regelsätzen gedeckten allgemeinen Bedarf erhöhten Bedarf wegen der Notwendigkeit einer krankheitsbedingten kostenaufwendigen Ernährung hat, hält der Senat regelmäßig die „Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe“, Kleinere Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (2. Aufl. 1997 mit acht Anlagen, darunter fünf Gutachten, - künftig: „Empfehlungen“) für eine geeignete Entscheidungsgrundlage (vgl. Beschl. v. 07.10.2002 - 12 ME 622/02 -, FEVS 54, 191; Beschl. v. 13.10.2003 – 12 LA 385/03 -; ebenso 4. Senat, Beschl. v. 14.11.2002 - 4 ME 465/02 -, FEVS 54, 368). Die Erarbeitung dieser Empfehlungen ist geprägt von einem Zusammenwirken von Wissenschaftlern aus den Fachgebieten der Medizin und der Ernährungswissenschaften. So sind nicht nur die medizinisch notwendigen Ernährungsformen bei verschiedenen Krankheiten festgestellt, sondern auch die Kostenunterschiede wissenschaftsmethodisch ermittelt worden, die sich bei den den verschiedenen Krankheitsbildern entsprechenden Ernährungsformen bzw. Diäten im Vergleich zu einer den ernährungswissenschaftlichen Anforderungen entsprechenden "Normalernährung" ergeben (vgl. 4. Senat, Beschl. v. 14.11.2002, a.a.O.).
Der Antragsteller leidet nach übereinstimmenden Angaben der Beteiligten an einem Diabetes mellitus Typ II a. In den Fällen einer derartigen Erkrankung ist nach den Empfehlungen eine Diabeteskost mit monatlichen Mehraufwendungen in Höhe von 100,- DM = 53,13 € angezeigt (S. 13, 32, 36, 56 der Empfehlungen).
Demgegenüber sieht der vom Beklagten herangezogene „Begutachtungsleitfaden für den Mehrbedarf bei krankheitsbedingter kostenaufwendiger Ernährung (Krankenkostzulage) gemäß § 23 Abs. 4 BSHG“ des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (Stand: Januar 2002, künftig: Leitfaden) für Diabetes mellitus sowohl des Typ I als auch des Typ II bei Normal- oder Übergewicht keine Mehrkosten vor (S. 7, 8 des Leitfadens). Zu der Bewertung des Leitfadens im Vergleich zu den Empfehlungen hat der 4. Senat in seinem Beschluss vom 14. November 2002 (a.a.O.) ausgeführt:
„Die Empfehlungen, die einen Mehraufwand bejahen, beruhen insoweit auf nach ernährungswissenschaftlichen Grundsätzen durchgeführten Untersuchungen. In dem Leitfaden wird zwar ausdrücklich kritisiert, dass die Empfehlungen die zugrundeliegenden medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Gutachten nicht folgerichtig umsetzten. Auf welcher Grundlage die Aussagen zu den Kosten medizinisch notwendig umgestellter Ernährungsformen in dem Leitfaden beruhen, ist dagegen nicht ersichtlich. An der Erstellung des Leitfadens waren ausschließlich Mediziner beteiligt. Es sind zwar "praktische Erfahrungen" von Gesundheitsämtern und Sozialämtern eingeflossen (Leitfaden S. 4), ohne dass aber deutlich gemacht ist, was das bedeuten soll. Auch aus dem beigefügten Literaturverzeichnis erschließt sich nicht, dass Vergleiche der Kosten einer gesundheitsbewussten "Normalernährung" und einer die konkrete Erkrankung berücksichtigenden Ernährung vorgenommen wären. Für eine Begründung der Aussage "Mehrkosten entstehen nicht" ist das aber eine unabdingbare Voraussetzung.“
Diese Bewertung hat der Senat wie folgt ergänzt (Beschl. v. 13.10.2003 - 12 LA 385/03 -):
„Dem schließt sich der erkennende Senat ebenso wie die Kommentierung (so Hofmann in LPK-BSHG, 6. Auflage 2003, § 23 Rn. 31 unter Hinweis auf VG Göttingen, Urteil v. 11.10.2002 - 2 A 2307/99 - ) auch vor dem Hintergrund an, dass der Leitfaden nicht auf eigenen Untersuchungen zu den Kosten der Diätformen beruht. So heißt es dort auf S.6:
„Da die Arbeitsgruppe keine eigenen Berechnungen aufgestellt hat, kann sie nur abschätzen, welche Mehrkosten durch die zusätzlichen oder zu ersetzenden Nahrungsmittel entstehen.“ Diese Methode ist dem in den Empfehlungen beschriebenen Verfahren zur Ermittlung der Höhe der Krankenkostzulagen nicht gleichwertig, bei dem für die einzuhaltenden Diäten zunächst Kostpläne erstellt und für diese anhand der Preisangaben aus statistischen Berichten des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen die Ernährungskosten ermittelt und dem durch den Regelsatz bereits gedeckten Ernährungsbedarf gegenübergestellt wurden (vgl. Empfehlungen, S. 33 f. und S. 49 ff.).“
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes festgestellt, dass unter diesen Umständen der geltend gemachte Anordnungsanspruch als glaubhaft gemacht anzusehen sei. Insbesondere lägen im Falle des Antragstellers keine Abweichungen oder Besonderheiten vor, die ausnahmsweise einem Zugrundelegen der in Rede stehenden konkreten Einzelempfehlung des Deutschen Vereins entgegenstünden. Solche Besonderheiten sind insbesondere auch nicht im Hinblick auf ein etwaiges Übergewicht des Antragstellers vom Antragsgegner substantiiert vorgetragen worden, wie es in dem heute gleichfalls entschiedenen Parallelverfahren der Fall war (Beschl. v. 17.10.2003 - 12 ME 248/03 -), in dem der Senat auf der Grundlage von S. 13, 23, 36, 55, 136 der Empfehlungen die Voraussetzungen für die Gewährung von Krankenkost für einen an einem Diabetes mellitus Typ II mit ausgeprägter Adipositas leidenden Patienten nicht angenommen hat. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht bei dem hier vorliegenden Sachverhalt auch darauf verwiesen, dass die Notwendigkeit einer Diabeteskost von dem Hausarzt des Antragstellers in seiner dem Sozialamt vorgelegten Stellungnahme vom 12. November 2002 festgestellt worden sei und dass aufgrund der schriftsätzlichen Erläuterungen des Antragstellers davon auszugehen sei, dass er eine solche Kost, sofern ihm die hierfür erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, auch tatsächlich zu sich nehme. Soweit der Antragsgegner dies in seiner Beschwerdebegründung unter Hinweis auf den Schriftsatz des Antragstellers vom 15. Mai 2003 in Zweifel zieht, greifen diese Zweifel für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht durch. Denn in diesem Schriftsatz hat der Antragsteller dargestellt, er nehme zuckerarme, fettarme Produkte zu sich, im Bereich der Getreideerzeugnisse Vollkornreis und Vollkornnudeln, viel Obst und Gemüse, bei den Fleisch- und Wurstwaren nur magere Lebensmittel, Fisch und kaltgepresstes Distel- oder Sesamöl. Welches dieser Produkte nicht der Diabeteskost entspreche hat der Antragsgegner nicht konkretisiert, zumal die Angaben des Antragstellers durchaus mit dem vom Antragsgegner mit Schriftsatz vom 25. Juli 2003 hergereichten Ernährungshinweisen des Deutschen Diabetes-Forschungsinstituts an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in Übereinstimmung zu bringen sind.
Das Verwaltungsgericht hat allerdings auch zutreffend darauf hingewiesen, dass es dem Antragsgegner unbenommen bleibe, den Antragsteller zu veranlassen, in geeigneter Form Nachweise über die Diabeteskost zu erbringen, dabei wird zweckmäßigerweise von einem Diätplan oder eine Diätverordnung auszugehen sein, der aufgrund einer Beratung durch seine Krankenkasse oder durch den behandelnden Arzt zu erstellen wäre (S. 15 f., 41 der Empfehlungen). Nicht erwartet werden kann vom Antragsteller allerdings ein Nachweis der Mehrkosten, weil gegen eine Pauschalierung und Übernahme der von sachverständiger Seite vorgeschlagenen Pauschalbeträge keine Bedenken zu erheben sind.