Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.10.2003, Az.: 4 ME 393/03
Arbeitssuche; gemeinnützige Arbeit; Kürzung; Sozialhilfe; Sozialhilfeträger; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 30.10.2003
- Aktenzeichen
- 4 ME 393/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48431
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 11.08.2003 - AZ: 4 B 137/03
Rechtsgrundlagen
- § 18 BSHG
- § 19 Abs 2 BSHG
- § 25 Abs 1 BSHG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Der Sozialhilfeträger verletzt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn er einem Hilfeempfänger, den er zu gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit herangezogen hat und der diese leistet, die Hilfe zum Lebensunterhalt mit der Begründung kürzt, er bemühe sich daneben nicht genügend um Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Tatbestand:
I. Der 31 Jahre alte Antragsteller machte nach Abschluss der Sonderschule eine Ausbildung zum Schlosser. Nachdem er einige Zeit in Spanien gelebt hatte, kehrte er im Dezember 2002 nach Deutschland zurück. Eine Arbeitsstelle hatte er nicht. Seit dem 6. Februar 2003 gewährte ihm der Antragsgegner laufende Hilfe zum Lebensunterhalt.
Mit Schreiben vom 28. Februar 2003 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, sich um Arbeit zu bemühen und monatlich mindestens fünf Nachweise hierüber vorzulegen. Zugleich belehrte er ihn über die möglichen Folgen für die Fall nicht ausreichender Bemühungen um Arbeit, insbesondere die Möglichkeit einer Kürzung der Sozialhilfeleistungen. Bis Ende März 2003 legte der Kläger drei Nachweise vor.
Mit Bescheid vom 10. April 2003 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, gemeinnützige Arbeit zu leisten. Er ordnete zugleich die sofortige Vollziehung dieser Verfügung an.
Unter dem 24. April 2003 kürzte der Antragsgegner die dem Antragsteller gewährten Regelsatzleistungen ab dem 1. Mai 2003 um 25 % und drohte ihm für den Fall weiterhin unzureichender Bemühungen um Arbeit weitere Kürzungen an.
In der Zeit vom 24. April 2003 bis zum Ende Juli 2003 leistete der Antragsteller durchgehend die von ihm geforderte gemeinnützige Tätigkeit im Umfang von durchschnittlich fünf bis sechs Stunden je Werktag.
Mit Bescheid vom 23. Mai 2003 kürzte der Antragsgegner die dem Antragsteller zustehenden Regelsatzleistungen um 50 % ab dem 1. Juni 2003 und drohte ihm für den Fall weiterer unzureichender Arbeitsbemühungen die weitere Kürzung der Leistungen an. Mit Schreiben vom 26. Juni 2003 legte der Antragsteller mehrere Stellenangebote vom Arbeitsamt vor, jedoch keine Nachweise für Bewerbungen. Der Antragsgegner wertete das als Widerspruch gegen die Kürzung des Regelsatzes und wies den Widerspruch mit Bescheid vom 29. Juli 2003 zurück.
Mit Bescheid vom 27. Juni 2002 kürzte der Antragsgegner die Regelsatzleistungen für den Antragsteller um 75 % ab dem 1. Juli 2003 und drohte ihm die Einstellung der Leistungen an. Mit weiterem Bescheid vom 24. Juli 2003 stellte er die Leistungen ab dem 1. August 2003 ein. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Antragstellers wies er mit Widerspruchsbescheid vom 29. September 2003 zurück.
Am 31. Juli 2003 hat der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht sinngemäß beantragt, den Antragsgegner durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, ihm Hilfe zum Lebensunterhalt in ungekürzter Höhe zu gewähren. Das Verwaltungsgericht hat diesen Antrag mit Beschluss vom 11. August 2003 abgelehnt. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, dass der Antragsgegner zu Recht gemäß § 25 Abs. 1 BSHG die dem Antragsteller grundsätzlich zustehenden Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt zunächst gekürzt und schließlich eingestellt habe, denn der Antragsteller habe sich nicht im gebotenen Umfang um einen Arbeitsplatz bemüht.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, mit der er u.a. einige Nachweise über Stellenbewerbungen aus dem Juli und dem August 2003 vorlegt. Der Antragsgegner verteidigt den angegriffenen Beschluss und führt in Ergänzung seiner Bescheide vom 27.6. und 24.7.2003 aus: Er verkenne nicht, dass der Antragsteller durchaus gutwillig die von ihm geforderte zusätzliche und gemeinnützige Arbeit geleistet habe. Diese Form der Arbeit sei aber nicht ein Ersatz für einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt, da nur ein solcher Arbeitsplatz den Antragsteller unabhängig von Sozialhilfe machen könne. Deshalb müsse der Forderung nach Nachweisen für solche Arbeitsbemühungen auch durch die gesetzlich vorgesehenen Sanktionen der Kürzung der Sozialhilfeleistung Nachdruck verliehen werden.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde des Antragstellers ist begründet.
Der Antragsteller hat derzeit Anspruch darauf, dass der Antragsgegner ihm Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe ohne Kürzung gewährt. Dabei kommt es entgegen der Meinung des Antragsgegners und des Verwaltungsgerichts nicht darauf an, ob der Antragsteller sich tatsächlich in dem von ihm verlangten Umfang ernstlich um einen Arbeitsplatz bemüht hat. Denn die Kürzung der Hilfe zum Lebensunterhalt ist deswegen fehlerhaft, weil der Antragsgegner nicht angemessen berücksichtigt hat, dass der Antragsteller die von ihm geforderte gemeinnützige Arbeit regelmäßig geleistet hat.
Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 BSHG hat derjenige, der sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder zumutbaren Maßnahmen nach den §§ 19 und 20 BSHG nachzukommen, keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Nach § 18 Abs. 1 BSHG muss jeder Hilfesuchende seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen einsetzen. Nach § 18 Abs. 2 BSHG ist darauf hinzuwirken, dass der Hilfesuchende sich um Arbeit bemüht und Arbeit findet (Abs. 2 Satz 1). Hilfesuchende, die keine Arbeit finden können, sind zur Annahme einer für sie zumutbaren Arbeitsgelegenheit nach § 19 oder § 20 verpflichtet (Abs. 2 Satz 2). Zu den Arbeitsgelegenheiten nach § 19 gehört entsprechend § 19 Abs. 2 BSHG die Gelegenheit zu gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit.
Es ist grundsätzlich nicht zweifelhaft, dass die Verweigerung von Bemühungen um Arbeit einerseits und die Weigerung, eine angebotene gemeinnützige und zusätzliche Arbeit zu leisten, andererseits die Rechtsfolge des § 25 Abs. 1 BSHG auslösen können. Dabei bedeutet die Formulierung in § 25 Abs. 1 Satz 1 BSHG "hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt" nicht, dass der Hilfesuchende jeglichen Anspruch verliert. Vielmehr kann der Sozialhilfeträger nach Ermessen und unter Berücksichtigung der Maßgaben des § 25 Abs. 1 Satz 2 und 3 BSHG die Hilfe kürzen oder schließlich einstellen.
Die Verpflichtung des Hilfesuchenden aus § 18 Abs. 1 BSHG, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts einzusetzen, ist ein spezieller Ausfluss des in § 2 Abs. 1 geregelten Grundsatzes des Nachrangs der Sozialhilfe, wonach Sozialhilfe nicht erhält, wer sich selbst helfen kann. Der Antragsgegner weist zu Recht darauf hin, dass in Fällen wie dem des Antragstellers nur nachhaltige Bemühungen um einen Arbeitsplatz den Hilfesuchenden letztlich aus der Sozialhilfe führen können und dass es deswegen sachgerecht ist, einen unwilligen Hilfesuchenden mit dem Druckmittel der Leistungskürzung bzw. Leistungseinstellung zur intensiven Arbeitssuche anzuhalten. Dem nach § 19 Abs. 2 BSHG vorgesehenen Angebot an den Hilfesuchenden, gemeinnützige und zusätzliche Arbeit zu leisten, liegt dagegen der Gedanke zugrunde, dass einerseits der Hilfesuchende nicht durch allzu lange Untätigkeit von der Arbeit entwöhnt werden soll und dass andererseits ihm das Gefühl vermittelt werden soll, die Leistungen der Allgemeinheit in Form der Sozialhilfeleistungen nicht ohne eigene Gegenleistung entgegenzunehmen. Auch dieser Zweck rechtfertigt für sich gesehen bei leistungsunwilligen Hilfesuchenden, sie ggfs. durch Leistungskürzungen bzw. die Leistungseinstellung zur Arbeitsleistung anzuhalten.
Auch wenn der Träger der Sozialhilfe berechtigt ist, nebeneinander den Hilfesuchenden zu Bemühungen um Arbeit und zur Leistung gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit anzuhalten, muss er doch beim Erlass entsprechender Anordnungen bzw. der Entscheidung über die Folgen einer Nichtbeachtung der Anordnungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Der Senat hält es deshalb für zweifelhaft, ob dann, wenn der Sozialhilfeträger den Hilfesuchenden zunächst zu Bemühungen um Arbeit und Vorlage entsprechender Nachweise in einem bestimmten Umfang auffordert, bei einer nachfolgenden zusätzlichen Heranziehung des Hilfesuchenden zur Leistung von gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit das ursprüngliche Verlangen nach Bemühungen um einen Arbeitsplatz in unverändertem Umfang beibehalten werden darf. Diese Frage braucht hier aber nicht abschließend entschieden zu werden.
Jedenfalls hält der Senat es für ermessensfehlerhaft, von einem Hilfesuchenden nebeneinander Bemühungen um einen Arbeitsplatz und die Leistung gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit zu fordern, beide Maßnahmen gleichzeitig mit der Rechtsfolge des § 25 Abs. 1 BSHG zu verknüpfen und dann alternativ bei Nichtbefolgung nur einer der beiden Anordnungen die Hilfe zum Lebensunterhalt zu kürzen bzw. einzustellen. Hier muss sich der Sozialhilfeträger entscheiden, welcher der beiden Maßnahmen er den Vorrang geben will. Bezogen auf den Fall des Antragstellers bedeutet das, dass er dadurch, dass er die von ihm verlangte gemeinnützige und zusätzliche Arbeit durchgehend geleistet hat, sich die ungekürzte Hilfe zum Lebensunterhalt sozusagen "verdient" hat. Es verletzt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den Antragsteller einerseits zwar gemeinnützige und zusätzliche Arbeit leisten zu lassen, ihm aber gleichwohl währenddessen wegen unzureichender Bemühungen um Arbeit die Hilfeleistung zu kürzen bzw. sie ganz einzustellen.
Daraus folgt, dass jedenfalls die in der Zeit bis Ende Juli 2003, also der Zeit der Leistung gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit durch den Antragsteller, angeordneten Kürzungen der Hilfe zum Lebensunterhalt in Stufen bis schließlich 75 % fehlerhaft sind. Da die vollständige Einstellung der Hilfe zum Lebensunterhalt ab August 2003 auf diesen vorausgegangenen stufenweisen Kürzungen beruht, ist auch sie fehlerhaft. Der Antragsteller hat deshalb derzeit Anspruch auf die Gewährung ungekürzter Hilfe zum Lebensunterhalt.
Es entspricht ständiger Praxis des Senats, im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes einen Sozialhilfeträger zur (vorläufigen) Gewährung von Leistungen der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt ab frühestens dem Ersten des Monats zu verpflichten, in dem der Senat in der Sache entscheidet. Denn das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dient nur der Abwehr gegenwärtiger oder künftig zu erwartender Notlagen. Es ist dem Hilfesuchenden regelmäßig zuzumuten, die Entscheidung über behauptete Ansprüche auf Leistungen für bereits vergangene Zeiträume im Hauptverfahren (Widerspruchs- und ggfs. Klageverfahren) abzuwarten. Ein Abweichen von dieser Regel kommt nur dann in Betracht, wenn durch eine unrechtmäßige Vorenthaltung von Leistungen für die Vergangenheit dem Hilfesuchenden auch gegenwärtig noch schwerwiegende Nachteile drohen (Senat, Beschl. v. 19.12.1994 - 4 M 7588/94 -, V.n.b.; st. Rspr.). Dass ein solcher Fall hier vorläge, ist nicht ersichtlich. Für den Monat Oktober 2003 ist dem Antragsteller deshalb die volle Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. In den Folgemonaten wird sein Einkommen - er wird voraussichtlich Anfang November 2003 eine Arbeit auf 400,-- Euro-Basis antreten - bei der Berechnung der ihm zustehenden Hilfe zu berücksichtigen sein.