Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.10.2003, Az.: 12 ME 436/03
Abschiebung; Abänderungsverfahren; Ashkali; aufenthaltsbeendende Maßnahme; Ausreise; Diabetes; einstweilige Anordnung; Fortdauer; Heimat; Humanitäre Gründe; Kosovo; Memorandum of Understanding; Rückwirkung; UNMIK
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 29.10.2003
- Aktenzeichen
- 12 ME 436/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48271
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 04.09.2003 - AZ: 4 B 2030/02
Rechtsgrundlagen
- § 2 Abs 1 AsylbLG
- § 53 Abs 6 AuslG
- § 123 Abs 1 VwGO
- § 80 Abs 7 VwGO
- BSHG
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsgegner gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade – 4. Kammer – vom 4. September 2003 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegner tragen die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Sie richtet sich gegen einen Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht eine am 9. Mai 2001 von ihm erlassene einstweilige Anordnung mit Wirkung vom 1. April 2003 aufgehoben und den Antragstellern ab diesem Zeitpunkt die von ihnen begehrten höheren Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit entsprechender Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes versagt hat.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 4. September 2003 ist nicht bereits deshalb fehlerhaft, weil er die vorangegangene einstweilige Anordnung mit Wirkung ab dem 1. April 2003, also mit Wirkung für die Vergangenheit, aufgehoben hat.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Abänderung eines Beschlusses über eine einstweilige Anordnung in Analogie zu § 80 Abs. 7 VwGO zulässig ist oder ob § 927 ZPO heranzuziehen ist (vgl. dazu Schoch: in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Kommentar, Stand Januar 2002, § 123 Rn. 174 ff.; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, § 123 Rn. 35 ff.). Denn jedenfalls ist die Abänderung einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich statthaft (erkennender Senat, Beschl. v. 27.2.2001 – 12 MA 649/01-; Beschl v. 27.12.02 – 12 OB 775/02 -). Eine Abänderung eines Beschlusses nach § 123 Abs. 1 VwGO kann nur in Betracht kommen, wenn sich die tatsächlichen oder rechtlichen Umstände maßgebend geändert haben, nur dieses Kriterium rechtfertigt die Durchbrechung der formellen und materiellen Rechtskraft, die angesichts der Vorläufigkeit einer Regelung nach § 123 Abs. 1 VwGO allerdings eher eine Durchbrechung erlaubt als bei einem Urteil oder einer urteilsgleichen Entscheidung (vgl. Senat, Beschl. v. 27.2.2001 – 12 MA 649/01 -).
Zur Bestimmung der zeitlichen Grenzen eines Abänderungsverfahrens ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Gegenstand eines Abänderungsverfahrens nicht die ursprüngliche Richtigkeit der im vorangegangenen Verfahren getroffenen Entscheidung, sondern nur deren Fortdauer ist. Das Abänderungsverfahren ist demzufolge kein Rechtsmittelverfahren, sondern ein gegenüber dem Ausgangsverfahren selbständiges und neues Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in dem eine abweichende Entscheidung regelmäßig nur mit Wirkung für die Zukunft getroffen werden kann (vgl. VGH Mannheim, Beschluss v. 6.12.2001 – 13 S 1824/01 - , NVwZ-RR 2002, 908 [VGH Baden-Württemberg 06.12.2001 - 13 S 1824/01]; Beschluss v. 8.11.1995 – 13 S 494/95 - , NVwZ-RR 1996, 603 [BVerwG 24.10.1995 - BVerwG 9 C 3/95]; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Auflage 1998, S. 470). Allerdings wird es teilweise nicht ausgeschlossen, eine Abänderungsentscheidung ausnahmsweise auch mit Wirkung für die Vergangenheit zu treffen, wenn die frühere Eilentscheidung aufgrund nachträglicher Erkenntnis der unzutreffenden Tatsachengrundlage zu beseitigen ist (so Schoch, a.a.O., § 80 Rn. 375; für den Fall einer falschen eidesstattlichen Versicherung VGH Mannheim, Beschluss v. 18.12. 1989 – 11 S 3283/89 – VBlBW 1990, 179; vgl. auch Kopp/Schenke, aa0, § 80 Rn. 202).
Die hier vom Verwaltungsgericht getroffene Abänderungsentscheidung trifft eine neue Regelung ab dem 1. April 2003 und damit zwar am Tag der gerichtlichen Entscheidung mit Wirkung für die Vergangenheit, aber erst nach Rechtshängigkeit des schon am 29. November 2002 gestellten Abänderungsantrages. Eine solche Regelung ist auch nach der o.g. strengeren Ansicht statthaft, denn mit ihr wird noch nicht in abgeschlossene Tatbestände eingegriffen, sondern nur die Fortdauer der ursprünglichen Entscheidung geregelt, wenn auch bedingt durch die Struktur des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens erst nachträglich. Eine solche Durchbrechung der Rechtskraft der ursprünglichen einstweiligen Anordnung beinhaltet keine echte Rückwirkung, wie sie einem Rechtsmittelverfahren gleichkommen würde. Ein der Entscheidung entgegenstehender Vertrauensschutz der durch die ursprüngliche einstweilige Anordnung begünstigten Antragsteller ist nicht gegeben, da sie nach der Stellung des Abänderungsantrages mit einer abändernden Entscheidung rechnen mussten.
Die Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 9. Mai 2001 ist auch in der Sache gerechtfertigt.
Den Antragsgegnern stehen nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung ab dem 1. April 2003 nicht mehr die gegenüber den Grundleistungen nach den §§ 3 bis 7 des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 30. Juli 1993 (BGBl. I S. 1074) in der Fassung des zweiten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 25. August 1998 (BGBl. I S. 2505, abgekürzt AsylbLG) höheren Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit entsprechender Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes zu.
Nach § 2 Abs.1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3 bis 7 das Bundessozialhilfegesetz auf Leistungsberechtigte entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von 36 Monaten, frühestens beginnend am 1. Juni 1997, Leistungen nach § 3 erhalten haben, wenn die Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen.
Diese Voraussetzungen sind bei den Antragstellern nicht mehr gegeben.
Dass die Antragsteller die zeitlichen Voraussetzungen des Leistungsbezuges erfüllen, ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Jedoch haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, dass ihrer Rückkehr in ihre Heimat die genannten Gründe - insbesondere solche humanitärer Art - entgegenstehen. Insoweit folgt der Senat der Einschätzung des Verwaltungsgerichts.
Entsprechend dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 AsylbLG kann die leistungsrechtliche Besserstellung nur erreicht werden, wenn aus den dort genannten Gründen sowohl eine freiwillige Ausreise nicht erfolgen kann als auch aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können (vgl. aus der Rechtsprechung des 4. Senats des erkennenden Gerichts: Beschl. v. 8.2.2001 - 4 M 3889/00 -, FEVS 52, 419, 421.; Urt. v. 13.2.2002 - 4 LB 781/01 -, S. 12 UA u. weiterhin: GK-AsylbLG, § 2, Rn. 28).
Für die Minderheit der „Ashkali“ ist nach dem zwischen dem Bundesminister des Innern der Bundesrepublik Deutschland und dem Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vereinbarten „Memorandum of Understanding“ vom 31. März 2003 davon auszugehen, dass eine generelle Schutzbedürftigkeit nicht mehr gegeben ist und sowohl einer Abschiebung als auch aufenthaltsbeendenden Maßnahmen humanitäre Gründe nicht mehr entgegenstehen. So heißt es im Memorandum unter Ziffer 3 :
“Aufgrund der Verbesserungen bei den Sicherheitsbedingungen im Kosovo, die sich lokal unterscheiden, stimmen Bundesminister Schily und der Sonderbeauftragte Steiner darin überein, dass gewisse Angehörige bestimmter ethnischer Minderheitengruppen keinen internationalen Schutz mehr benötigen und daher ab April 2003 in das Kosovo zurückgeführt werden können.“
Für die Minderheiten der Ashkali und Ägypter sieht Ziffer 4 des Memorandums vor, dass diese abhängig von Ergebnis eines von UNMIK durchgeführten individuellen Prüfverfahrens zurückgeführt werden sollen, das nach den Ziffern 5 und 6 des Memorandums so ausgestaltet ist, dass UNMIK spätestens drei Kalendertage vor dem Datum der angekündigten Rückführung die deutsche Seite unterrichten muss, sofern sie „begründete Bedenken bezüglich einer Person“ hat.
Nach dieser Regelung stellt die Rückführungsmöglichkeit auch für die Minderheit der Ashkali, der die Antragsgegner angehören, den Regelfall dar, wie sich aus der Grundsatzerklärung zu Ziffer 3 des Memorandums ergibt, von dem auch vorab keine Personengruppe ausgenommen werden kann, da Kriterien für die „begründeten Bedenken“ der UNMIK nicht festgelegt worden sind. Bis zu einer gegenteiligen Äußerung der UNMIK, die erst nach einer den Vorgaben des Memorandums zu Ziffer 5 entsprechenden Rückführungsankündigung erfolgt, ist daher von einer grundsätzlichen Rückführbarkeit auch der Angehörigen der Gruppe der Ashkali auszugehen.
Die vom Bevollmächtigten der Antragsteller vorgelegten Unterlagen über die Lage im Kosovo (Monatsbericht des Informationsbüros der Deutschen Caritas und Diakonie in Pristina vom Dezember 2002 sowie Januar und Februar 2003, UNHCR-Position zur fortdauernden Schutzbedürftigkeit von Personen aus dem Kosovo vom Januar 2003, eigener Reisebericht, Reisebericht von Derendorf/Sagel vom Oktober 2002) schildern eindrucksvoll die schwierige wirtschaftliche und innenpolitische Lage im Kosovo.
Auch der UNHCR geht jedoch grundsätzlich davon aus, dass sich die Gesamtsituation der Gemeinschaften von Ashkali weiterhin verbessert hat und in vielen Regionen von einer stabilisierten Sicherheitslage gesprochen werden kann, wenngleich er zur Auffassung kommt, eine sichere und dauerhafte Rückkehr in Würde könne nur sehr langsam und auf freiwilliger Grundlage stattfinden. Demgegenüber stellt das Informationsbüro von Caritas und Diakonie in erster Linie heraus, dass den Minderheiten Arbeitslosigkeit drohe und ihre Ernährung nicht sichergestellt werden könne.
Im Hinblick auf den Umstand, dass UNMIK und KFOR nach wie vor die alleinige Gebietsgewalt im Kosovo ausüben und die Verantwortung für das gesamte öffentliche Leben im Kosovo tragen, folgt der Senat hier jedoch der Einschätzung der UNMIK als maßgeblicher Behörde auch vor dem Hintergrund, dass selbst für die vom Memorandum noch ausgenommenen Roma, deren Lage sich nach den vorgelegten Berichten ungünstiger darstellt als die der Ashkali, gegenwärtig keine Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 AuslG mehr angenommen werden (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss v. 20.8.2003 – 8 LA 126/03 -).
Auch die Erkrankungen des Antragsgegners zu 1., der nach den im Beschwerdeverfahren vorgelegten ärztlichen Bescheinigung an Diabetes mellitus Typ II, Hypertonie und Cephalgie leidet, führen nicht zu einer leistungsrechtlichen Besserstellung der Antragsgegner. Ein Abschiebungshindernis wird dadurch nicht begründet, denn die genannten Erkrankungen sind im Kosovo behandelbar. Dies gilt, wie das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in seinem Bescheid vom 26. August 2003, in dem es die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG für die Antragsgegner zu 1. und 2. abgelehnt hat, sowohl für Diabetes mellitus (vgl. Botschaftsbericht des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 17. Oktober 2002 an VG Bayreuth sowie vom 27. November 2002 an BAFl) als auch für Hypertonie (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 10. Januar 2003 an VG Cottbus) und Cephalgie (vgl. Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 12. September 2002 an VG Würzburg). Grundsätzlich ist auch Insulin im Kosovo erhältlich, auch wenn es, wie in der vorgelegten Bescheinigung der Universitätsklinik Pristina zum Ausdruck kommt, zu gelegentlichen Versorgungsengpässen kommt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16.10.2002).
Auf die vom Landkreis Osterholz mit Schriftsatz vom 22. Oktober 2003 angebotene Versorgung des Antragsgegners zu 1. mit Medikamenten für die ersten drei Monate seiner Rückkehr kommt es daher für die Entscheidung in diesem Verfahren letztlich nicht mehr an.