Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 17.10.2003, Az.: 12 ME 248/03

Diabetes; Gewichtsreduktion; Glaubhaftmachung; Hyperinsulinanämie; Kostenaufwand; Mehrbedarf; Reduktionskost; Übergewicht

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
17.10.2003
Aktenzeichen
12 ME 248/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48553
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 15.05.2003 - AZ: 3 B 591/03

Gründe

1

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts ist erfolgreich.

2

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch gemäß § 123 Abs. 2 Satz 2 VwGO im Hinblick auf den von ihm geltend gemachten Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung nach § 23 Abs. 4 BSHG nicht glaubhaft gemacht im Sinne von §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2, 294 ZPO.

3

Nach § 23 Abs. 4 BSHG ist für kranke, genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwendigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anzuerkennen. Bei einer Erkrankung ist Voraussetzung für die Gewährung ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Notwendigkeit einer kostenaufwendigen Ernährung. Bei der Entscheidung darüber, ob ein Hilfeempfänger einen gegenüber dem mit den Regelsätzen gedeckten allgemeinen Bedarf erhöhten Bedarf wegen der Notwendigkeit einer krankheitsbedingten kostenaufwendigen Ernährung hat, hält der Senat regelmäßig die „Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe“, Kleinere Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (2. Aufl. 1997 mit acht Anlagen, darunter fünf Gutachten, - künftig: „Empfehlungen“) für eine geeignete Entscheidungsgrundlage (Beschl. v. 07.10.2002 - 12 ME 622/02 -, FEVS 54, 191; Beschl. v. 13.10.2003 - 12 LA 385/03 -; ebenso 4. Senat, Beschl. v. 14.11.2002 - 4 ME 465/02 -, FEVS 54, 368). Die Erarbeitung dieser Empfehlungen ist geprägt von einem Zusammenwirken von Wissenschaftlern aus den Fachgebieten der Medizin und der Ernährungswissenschaften. So sind nicht nur die medizinisch notwendigen Ernährungsformen bei verschiedenen Krankheiten festgestellt, sondern auch die Kostenunterschiede wissenschaftsmethodisch ermittelt worden, die sich bei den den verschiedenen Krankheitsbildern entsprechenden Ernährungsformen bzw. Diäten im Vergleich zu einer den ernährungswissenschaftlichen Anforderungen entsprechenden "Normalernährung" ergeben (vgl. 4. Senat, a.a.O.).

4

Der im Jahre 1962 geborene Antragsteller leidet seit langem (mindestens seit 1992, Bl. 98 BAB) an ausgeprägter Adipositas, seit 2001 zusätzlich an einem Diabetes mellitus Typ II. Bei einer Größe von 1,82 m beträgt sein Gewicht etwa 150 kg (ärztliche Bescheinigung Dr. D. vom 16.6.2003, Bl. 89 GA). Die Unterscheidung zwischen dem Diabetes mellitus Typ II a oder Typ II b ist nach übereinstimmender Ansicht der Beteiligten zwischenzeitlich aufgegeben worden, wovon auch für diesen Beschluss ausgegangen wird, ebenso das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss.

5

Das Verwaltungsgericht nimmt jedoch zu Unrecht an, dass bei Diabetes mellitus Typ II mit Übergewicht nach den Empfehlungen eine Diabeteskost mit monatlichen Mehraufwendungen von 100,- DM = 53,13 € (S. 32 der Empfehlungen) vorgesehen ist. Vielmehr beschränkt sich diese Kostform jedenfalls bei Typ II - Patienten auf nicht übergewichtige Patienten (S. 13 der Empfehlungen). Auf S. 23 der Empfehlungen heißt es dazu: „Die Erforderlichkeit einer Krankenkostzulage kann verneint werden, wenn die Erkrankung Folge von Übergewicht ist und die Ernährungstherapie auf eine Minderung des Körpergewichts zielt; eine Reduktionskost erfordert regelmäßig keinen erhöhten Ernährungsaufwand“ (vgl. auch Tabelle S. 36). Das den Empfehlungen beigefügte Gutachten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zum Kostenaufwand für Langzeitdiäten (Anlage 4) weist für die übergewichtigen Typ II-Patienten ebenso auf Reduktionskost hin (S. 55 der Empfehlungen) wie das Gutachten von Ernährungsmedizinern (Anlage 8, S. 136 der Empfehlungen). Dieser Auffassung schließt sich der Senat für Diabetes Typ II-Patienten, wie den Antragsteller, an (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 28.9.2001 - 16 A 5644/99 -, ZFSH-SGB 2002, 217, 220 linke Spalte).

6

Ein Mehrbedarf, dessen Ursache der Diabetes Typ II des Antragstellers ist, ergibt sich auch nicht aus der ärztlichen Bescheinigung des Dr. D. vom 16. Juni 2003, in der es u.a. heißt, therapeutisch wäre selbstverständlich eine Gewichtreduktion die vordringliche Maßnahme und bezüglich der Ernährung in dieser besonderen Situation sei selbstverständlich eine Reduktion der Kalorien erforderlich. Soweit in der Bescheinigung außerdem ausgeführt wird, „Da bei dem Patienten jetzt zusätzlich ein Diabetes vorliegt, ist es unbedingt erforderlich, dass kurzfristige Anstiege des Insulinspiegels nach den Mahlzeiten unter schnell resorbierbaren Kohlenhydraten vermieden werden, um den Mechanismus der Hyperinsulinämie und damit einhergehenden iatrogen Verstärkung der Insulinresistenz zu vermeiden“, wird dem vom Amtsarzt der Antragsgegnerin in seiner Stellungnahme vom 8. Juli 2003 nicht widersprochen. Der Amtsarzt hebt aber hervor, dass „der Konsum langsam resorbierbarer Kohlenhydrate, das heißt ballaststoffreicher Lebensmittel, wie Gemüse, Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte usw. keine Mehrkosten“ verursache. Die Bescheinigung des Dr. D. lässt dagegen den Mehrkostenaufwand offen. Zudem führt der Amtsarzt zu der Diätverordnung (vom 20.4.2001, die bei der Beklagten am 20.1.2003 eingegangen ist) aus, dass sie gegenüber einer gesunden Mischkost keinen Mehraufwand begründe. Wenn der Antragsteller demgegenüber mit Schriftsatz vom 14. Juli 2003 erwidert, selbstverständlich gehöre zu einer gesunden und schmackhaften Ernährung, dass er zu diesen Mahlzeiten auch Gemüse und tierische Lebensmittel wie Fleisch, Wurst, Käse und Eier zu sich nehme, wenn er dies jedoch auf insgesamt sechs Mahlzeiten verteilen müsse, entstünden natürlich Mehrkosten, so handelt es sich hinsichtlich der tierischen Lebensmittel offenbar um ein Missverständnis des letzten Absatzes der Diätverordnung. Darin wird nämlich zwar darauf hingewiesen, dass die genannten tierischen Lebensmittel sowie Streichfette und Öle keine Kohlenhydrate enthielten und deshalb den Blutzuckerspiegel nicht ansteigen ließen, gleichzeitig wird aber hervorgehoben, dass diese Lebensmittel in einer gesunden Ernährung mengenmäßig begrenzt werden sollten. Dieses Missverständnis könnte möglicherweise auch dazu geführt haben, dass es dem Antragsteller nicht gelungen ist, die angestrebte Gewichtsreduktion zu verwirklichen.