Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.10.2003, Az.: 12 LA 385/03
Begutachtungsleitfaden; Diät; Hilfe zum Lebensunterhalt; Hypercholesterinanämie; Krankenkostzulage; Mehrbedarf; Mehrbedarfszuschlag; Schätzung; Sozialhilfe
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 13.10.2003
- Aktenzeichen
- 12 LA 385/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48600
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 24.06.2003 - AZ: 2 A 2192/02
Rechtsgrundlagen
- § 23 Abs 4 BSHG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Bei der Entscheidung über einen Mehrbedarfszuschlag nach § 23 Abs. 4 BSHG hält der Senat nach wie vor die "Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe" des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für eine geeignete Entscheidungsgrundlage.
2. Dem neueren "Begutachtungsleitfaden" des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe ist nicht zu folgen, da er hinsichtlich der Kosten der Ernährungsformen nur auf Schätzungen beruht.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, mit dem es den Beklagten zur Gewährung von Leistungen für kostenaufwendige Ernährung verpflichtet hat, hat keinen Erfolg.
Es bestehen weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils noch hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung.
Nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist die Berufung zuzulassen, wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen. Das ist hier nicht der Fall, denn das angefochtene Urteil erweist sich als zutreffend. Das Verwaltungsgericht hat der Klägerin zu Recht für den Zeitraum von der erstmaligen Antragstellung bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides einen Mehrbedarfszuschlag zugesprochen.
Nach § 23 Abs. 4 BSHG ist für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder Behinderung bedrohte Menschen , die einer kostenaufwendigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe zu gewähren.
Bei der Entscheidung darüber, ob ein Hilfeempfänger einen gegenüber dem mit den Regelsätzen gedeckten allgemeinen Bedarf erhöhten Bedarf wegen der Notwendigkeit einer krankheitsbedingten kostenaufwendigen Ernährung hat (§ 23 Abs. 4 BSHG), hält der Senat regelmäßig die "Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe", Kleinere Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (2. Aufl. 1997 mit acht Anlagen, darunter fünf Gutachten, - künftig: "Empfehlungen") für eine geeignete Entscheidungsgrundlage (vgl. Beschl. v. 07.10.2002 - 12 ME 622/02 -; Beschl. v. 18.11.2002 - 12 ME 690/02 - ; ebenso 4. Senat, Beschl. v. 14.11.2002 - 4 ME 465/02 -). Die Erarbeitung dieser Empfehlungen ist geprägt von einem Zusammenwirken von Wissenschaftlern aus den Fachgebieten der Medizin und der Ernährungswissenschaften. So sind nicht nur die medizinisch notwendigen Ernährungsformen bei verschiedenen Krankheiten festgestellt, sondern auch die Kostenunterschiede wissenschaftsmethodisch ermittelt worden, die sich bei den den verschiedenen Krankheitsbildern entsprechenden Ernährungsformen bzw. Diäten im Vergleich zu einer den ernährungswissenschaftlichen Anforderungen entsprechenden "Normalernährung" ergeben (vgl. 4. Senat, Beschl. v. 14.11.2002, a.a.O.).
Die Klägerin leidet nach den übereinstimmenden ärztlichen Bescheinigungen des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. Gatz vom 10. Juni und 20. August 2001 und den Berichten des Gesundheitsamtes des Beklagten vom 18. Juli und 10. Dezember 2001 neben anderen Erkrankungen an einer Hypercholesterinämie.
Für diese Erkrankung sehen die Empfehlungen als Diät eine vollwertige Ernährung unter Berücksichtigung der Energiezufuhr, der Cholesterinzufuhr, der Qualität der Speisefette und der Auswahl der Kohlenhydrate vor. Die Lebensmittelauswahl erfolge entsprechend: Reduktion der Gesamtfettmenge, Bevorzugung hochwertiger pflanzlicher Fette, cholesterinarm, Auswahl komplexer Kohlenhydrate (wenig Mono- und Disaccharide), Vermeidung von Alkohol (vgl. Empfehlungen, S. 56).
Demgegenüber sieht der vom Beklagten herangezogene "Begutachtungsleitfaden für den Mehrbedarf bei krankheitsbedingter kostenaufwendiger Ernährung (Krankenkostzulage) gemäß § 23 Abs. 4 BSHG" des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (Stand: Januar 2002, künftig "Leitfaden") bei Hyperlipidämie als erforderliche Kostform eine Reduktionskost in Form einer kalorienreduzierten ausgewogenen Mischkost unter Erhöhung der Anteile an Kohlehydraten und Ballaststoffen vor (Leitfaden Anlage I S.5).
Das vom Beklagten auszugsweise in Kopie übersandte Lehrbuch "Ernährungsmedizin" von Biesalski u.a. (S. 279) sieht als Ernährungstherapie bei Hypercholesterinämie eine Gewichtsnormalisierung bei Übergewicht, eine Verminderung der Zufuhr gesättigter Fettsäuren, eine Erhöhung der Zufuhr ungesättigter Fettsäuren, reichlich Vollkornprodukte, Gemüse, Kartoffeln und Obst sowie eine Einschränkung des Verzehrs von cholesterinreichen Lebensmitteln vor.
Eine ähnliche Ernährung wird im vom Beklagten übersandten Ausdruck der Internetseite medicine-worldwide.de empfohlen, die ebenfalls zu ungesättigten Fettsäuren und Vollkornprodukten rät.
Soweit der Beklagte ebenso wie der Leitfaden (S. 3) die Ansicht vertritt, bestimmte Vorschläge der "Empfehlungen" erschienen nach neuestem Wissensstand nicht haltbar, besonders aber seien manche Erkenntnisse der in der Schrift enthaltenen medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Gutachten nicht folgerichtig umgesetzt, trifft dies auf die für Hypercholesterinämie vorgeschlagene Diät nicht zu; insoweit weisen weder der Leitfaden noch die vom Beklagten zitierte Literatur andere Vorschläge oder Erkenntnisse auf. Unterschiede ergeben sich lediglich in der Bewertung, welche Kosten mit einer Einhaltung dieser Diät verbunden sind. Die Empfehlungen nehmen für lipidsenkende Kost bei Fettstoffwechselstörungen einen Kostenmehraufwand von 70,00 DM (entspricht 35,79 €) an, während der Leitfaden der Ansicht ist, Mehrkosten entstünden durch diese Diät nicht.
Dazu hat der 4. Senat in seinem Beschluss vom 14. November 2002 (a.a.O.) ausgeführt:
"Bei einer Ernährungsumstellung im Sinne einer lipidsenkenden Kost drängt sich die Annahme, ein Auswechseln der Nahrungsmittel führe nicht zu Mehrkosten, dagegen nicht auf. Die Empfehlungen, die einen Mehraufwand bejahen, beruhen insoweit auf nach ernährungswissenschaftlichen Grundsätzen durchgeführten Untersuchungen. In dem Leitfaden wird zwar ausdrücklich kritisiert, dass die Empfehlungen die zugrundeliegenden medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Gutachten nicht folgerichtig umsetzten. Auf welcher Grundlage die Aussagen zu den Kosten medizinisch notwendig umgestellter Ernährungsformen in dem Leitfaden beruhen, ist dagegen nicht ersichtlich. An der Erstellung des Leitfadens waren ausschließlich Mediziner beteiligt. Es sind zwar "praktische Erfahrungen" von Gesundheitsämtern und Sozialämtern eingeflossen (Leitfaden S. 4), ohne dass aber deutlich gemacht ist, was das bedeuten soll. Auch aus dem beigefügten Literaturverzeichnis erschließt sich nicht, dass Vergleiche der Kosten einer gesundheitsbewussten "Normalernährung" und einer die konkrete Erkrankung berücksichtigenden Ernährung vorgenommen worden wären. Für eine Begründung der Aussage "Mehrkosten entstehen nicht" ist das aber eine unabdingbare Voraussetzung."
Dem schließt sich der erkennende Senat ebenso wie die Kommentierung (so Hofmann in LPK-BSHG, 6. Auflage 2003, § 23 Rn. 31 unter Hinweis auf VG Göttingen, Urteil v. 11.10.2002 - 2 A 2307/99 - ) auch vor dem Hintergrund an, dass der Leitfaden nicht auf eigenen Untersuchungen zu den Kosten der Diätformen beruht. So heißt es dort auf S.6:
"Da die Arbeitsgruppe keine eigenen Berechnungen aufgestellt hat, kann sie nur abschätzen, welche Mehrkosten durch die zusätzlichen oder zu ersetzenden Nahrungsmittel entstehen." Diese Methode ist dem in den Empfehlungen beschriebenen Verfahren zur Ermittlung der Höhe der Krankenkostzulagen nicht gleichwertig, bei dem für die einzuhaltenden Diäten zunächst Kostpläne erstellt und für diese anhand der Preisangaben aus statistischen Berichten des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen die Ernährungskosten ermittelt und dem durch den Regelsatz bereits gedeckten Ernährungsbedarf gegenübergestellt wurden (vgl. Empfehlungen, S. 33 f. und S. 49 ff.).
Einzuräumen ist dem Beklagten allerdings, dass auch die in den Empfehlungen abgedruckten Gutachten zum Teil mit dem Ergebnis der Empfehlungen nicht vollständig übereinstimmen. So hat etwa das Gutachten des Bundesgesundheitsamtes vom 17. März 1993 die Ansicht vertreten, für den weitaus überwiegenden Teil der Herz-Kreislauferkrankungen und für ihre Vorformen entstünden keine erhöhten Lebenshaltungskosten durch gesundheitsfördernde diätetische Maßnahmen, weil die erforderlichen Ernährungsprinzipien durch Verwendung geeigneter Lebensmittel aus dem üblicherweise zur Verfügung stehenden Nahrungsangebot einzuhalten seien (Empfehlungen S. 101, 103). Dazu heißt es im Vorwort der Empfehlungen: "Soweit in speziellen Fragen der Diätetik vereinzelt unterschiedliche Auffassungen vorgetragen wurden, wurde im Zweifelsfall einer gutachterlichen Äußerung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung gefolgt." Dies erscheint dem Senat nachvollziehbar, zumal die Deutsche Gesellschaft für Ernährung in ihrem Gutachten nach der oben beschriebenen Methode verfahren ist, während das Bundesgesundheitsamt in seinem Gutachten keine Angaben zur Methodik macht und dessen Äußerungen zu den Kosten der Diäten vermutlich ebenfalls nur auf Schätzungen beruhen.
Soweit der Beklagte vorträgt, es müsse berücksichtigt werden, dass in den letzten Jahren in zunehmendem Maße Produkte, die früher nur unter erheblichem finanziellen Aufwand Reformhäusern zu erhalten gewesen seien, nunmehr in das Sortiment verschiedener Lebensmitteldiscounter aufgenommen worden seien und schon dadurch die Kosten deutlich verringert seien, vermag diese Beobachtung eine ernährungswissenschaftliche Untersuchung nicht zu ersetzen. Im Übrigen ist dem entgegenzuhalten, dass die Preise für die der Klägerin nahegelegte Lebensmittel wie Vollkornprodukte, Fisch (ohne Panade oder andere Zusätze) und hochwertige Speiseöle nach wie vor über denen nicht diätgeeigneter Lebensmittel gleicher Art (z.B. Nudeln, Weizenmehl) liegen, wie sie typischerweise aus Kostengründen nicht nur von Sozialhilfeempfängern gekauft werden. Das gilt auch innerhalb des Angebotes von Lebensmitteldiscountern, soweit diese diätgeeignete Lebensmittel führen. Die höhere finanzielle Belastung durch eine besondere Ernährung kommt auch gegenwärtig noch durch die qualitative Auswahl der Lebensmittel unter Berücksichtigung der Nährstoffdichte zustande (vgl. Empfehlungen S. 63).
Der Beklagte kann sich für seine Rechtsauffassung auch nicht auf den Beschluss des Senates vom 18.November 2002 (12 ME 690/02) stützen. Soweit es darin heißt: "Danach bedarf eine Hyperlipidämie einer fettmodifizierten Ernährung, die einfach durchzuführen ist, sich also von einer Normalernährung nicht unterscheidet" , bezieht sich dies nur auf das im Verfahren vorgelegte Gutachten vom 26. März 2002, stellt aber nicht die Ansicht des Senates dar, der im gleichen Beschluss auch ausgeführt hat, dass für lipidsenkende Kost grundsätzlich die Anerkennung eines Mehrbedarfs in Höhe von 70 DM möglich ist.
Die Frage, ob die Klägerin sich im entscheidungserheblichen Zeitraum auch tatsächlich kostenaufwendiger ernährt hat, ist im Zulassungsantrag nicht mehr angesprochen worden. Der Senat hält die Angaben der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 10. Oktober 2003 und die beigefügten Belege für ausreichend, zumal sich die Klägerin in der Vergangenheit nicht darauf einstellen konnte, dass sie ihre Ernährungskosten würde belegen müssen. Auch das Gesundheitsamt des Beklagten hat in seinen Stellungnahmen nicht bezweifelt, dass die Klägerin sich tatsächlich diätgerecht ernährt.
Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zuzulassen.
Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nur dann zu, wenn sie in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht eine Frage aufwirft, die im Rechtsmittelzug entscheidungserheblich und fallübergreifender Klärung zugänglich ist sowie im Interesse der Rechtseinheit geklärt werden muss. Der Zulassungsantrag muss eine konkrete Frage aufwerfen, deren Entscheidungserheblichkeit erkennen lassen und (zumindest) einen Hinweis auf den Grund enthalten, der das Vorliegen der grundsätzlichen Bedeutung rechtfertigen soll (Meyer-Ladewig, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur VwGO, Stand Januar 2002, RdNr. 30 zu § 124; Kopp/Schenke, Kommentar zur VwGO, 13. Auflage 2003, RdNr. 10 zu § 124). Für die Darlegung reicht es aus, dass die aufgeworfene Grundsatzfrage rechtlich derart aufbereitet wird, wie dies nach Maßgabe der Begründung in der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts erforderlich ist; Rechtsfragen, die in der Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung keine Rolle gespielt haben, brauchen im Rahmen des Antrages auf Rechtsmittelzulassung nicht erörtert zu werden, um eine Entscheidungserheblichkeit darzulegen (BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 15.8.1994 - 2 BvR 719/93 -, NVwZ-Beil. 1994, 65 (66)). Diese Voraussetzungen sind dann nicht gegeben, wenn sich die Frage so, wie sie mit dem Antrag aufgeworfen worden ist, im Rechtsmittelverfahren nicht stellt, ferner dann nicht, wenn sich die Frage nach dem Gesetzeswortlaut ohne Weiteres eindeutig beantworten lässt (BVerwG, Beschl. v. 8.12.1985 - BVerwG 1 B 136.85 -, Buchholz 130 § 22 RuStAG, S. 2) oder sie in der Rechtsprechung - namentlich des Bundesverwaltungsgericht oder des erkennenden Senats - geklärt ist.
Die mit dem Antrag aufgeworfene Frage, ob ein Verwaltungsgericht sich zur Beantwortung der Frage, ob und in welcher Höhe ein über den allgemeinen Regelsatz hinausgehender Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung anhand eines bestimmten Krankheitsbildes zu gewähren ist, allein auf die inzwischen acht Jahre alten Empfehlungen des deutschen Vereins für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe. 2. Auflage 1997, als antizipiertes Sachverständigengutachten stützen darf oder ob , vor allem angesichts des beachtlichen Alters dieser Empfehlungen, grundsätzlich aktuelle ernährungswissenschaftliche Gutachten einzuholen sind, ist in der Rechtsprechung des OVG Lüneburg namentlich durch die ausführliche Entscheidung des 4. Senates vom 14. November 2002 (4 ME 465/02), aber auch durch die Beschlüsse des Senates vom 7. Oktober 2002 (12 ME 622/02) und 18. November 2002 (12 ME 690/02) geklärt. Davon ist auch das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen, das die ersten beiden Entscheidungen zitiert hat.