Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.06.2019, Az.: 9 OA 245/19

Beitragsbescheid; besondere Mitwirkung; Erledigungsgebühr; nachträgliche Heilung; Rückwirkung; Satzungsänderung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
12.06.2019
Aktenzeichen
9 OA 245/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69718
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 06.02.2019 - AZ: 15 A 9610/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002, 1003 VV-RVG kann auch entstehen, wenn die Gemeinde im Laufe des Verfahrens ihr eigenes Satzungsrecht ändert und die Beitragsbescheide nicht aufhebt oder ändert. Denn die Beitragsbescheide erfahren auch dann eine wesentliche inhaltliche Änderung, wenn ihnen im Laufe des gerichtlichen Verfahrens eine Beitragssatzung zugrunde gelegt wird, die die Beitragspflicht erst zur Entstehung gebracht und die vorher rechtswidrigen Bescheide geheilt hat.
2. Eine nachträglich in den Prozess eingeführte Satzungsänderung führt ohne ausdrückliche Änderung/Aufhebung der angefochtenen Bescheide noch keine Erledigung des Rechtsstreits herbei. Insofern obliegt die Entscheidung, ob der Rechtsstreit dadurch in der Sache erledigt ist oder fortgesetzt werden soll, dem Kläger. An dieser Entscheidungsfindung kann der Prozessbevollmächtigte besonders mitwirken.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Prozessbevollmächtigten der Klägerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover – 15. Kammer (Berichterstatterin) - vom 6. Februar 2019 geändert.

Der Kostenfestsetzungsbeschluss der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts Hannover vom 11. September 2018 wird dahingehend geändert, dass der Erstattungsbetrag um 603,33 EUR erhöht wird.

Die Kosten des Erinnerungs- und Beschwerdeverfahrens trägt die Beklagte; Gerichtsgebühren werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin begehrt im Rahmen der Kostenfestsetzung nach § 164 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auch die Festsetzung einer Erledigungsgebühr nach § 2 Abs. 2 Satz 1 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) in Verbindung mit Nrn. 1002, 1003 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG (Vergütungsverzeichnis – VV-RVG –) in Höhe von 507 EUR zzgl. 19 % Umsatzsteuer. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts hat den entsprechenden Antrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 11. September 2018 abgelehnt. Die Erinnerung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin gemäß §§ 165, 151 VwGO hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 6. Februar 2019 zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit seiner Beschwerde, der das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 3. April 2019 nicht abgeholfen hat und der die Beklagte entgegentritt.

II.

Die Beschwerde, über die der Senat in der Besetzung von drei Berufsrichtern entscheidet (Senatsbeschluss vom 7.9.2018 – 9 OA 125/18 – n. v.; NdsOVG, Beschluss vom 11.6.2007 – 2 OA 433/07 – juris Rn. 2 ff.; OVG M.-V., Beschluss vom 5.5.2010 – 1 O 27/10 – juris Rn. 2), hat Erfolg. Die von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin beanspruchte Erledigungsgebühr ist angefallen.

Die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV-RVG entsteht, wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise nach Aufhebung oder Änderung des mit einem Rechtsbehelf angefochtenen Verwaltungsakts durch anwaltliche Mitwirkung erledigt; das Gleiche gilt, wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise durch Erlass eines bisher abgelehnten Verwaltungsakts erledigt.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Soweit das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis gelangt ist, es fehle an der Grundvoraussetzung für die Zuerkennung der Erledigungsgebühr, die nach dem klaren Wortlaut der Nr. 1002 VV-RVG bei einer Anfechtungsklage nur entstehe, wenn die Erledigung des Rechtsstreits Folge einer Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts sei, vermag der Senat dieser Auslegung nicht zu folgen. Es trifft zwar zu, dass hier die Erledigung nicht nach einer Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsakts erfolgt ist. Die Beklagte hat nicht die angefochtenen Bescheide über die Heranziehung zu einem Straßenausbaubeitrag aufgehoben oder geändert, sondern sie hat die Straßenausbaubeitragssatzung im Verlaufe des Klageverfahrens neu gefasst und mit Rückwirkung in Kraft gesetzt. Dadurch war der bis dahin bestehende Mangel einer unwirksamen Rechtsgrundlage, der zur Rechtswidrigkeit der Bescheide geführt hatte, geheilt.

Damit ist jedoch eine inhaltliche Änderung der Bescheide verbunden, die einer ausdrücklichen gleichsteht. Der Senat hat bereits zu der wortähnlichen Vorgängervorschrift § 24 BRAGO entschieden, dass Beitragsbescheide auch dann eine wesentliche inhaltliche Änderung erfahren, wenn ihnen im Laufe des gerichtlichen Verfahrens eine Beitragssatzung zugrunde gelegt wird, die die Beitragspflicht erst zur Entstehung gebracht und die vorher rechtswidrigen Bescheide geheilt hat. Dadurch wird der Sinngehalt der Vorschrift erfüllt, ohne dass es der förmlichen Aufhebung oder Änderung der angefochtenen Verwaltungsakte bedurft hätte (Senatsbeschluss vom 14.11.1986 – 9 OVG B 127-137/86 –). Der Senat hält an der in jenem Beschluss vertretenen Rechtsauffassung auch für die hier maßgebliche Vorschrift in Nr. 1002 VV-RVG fest. Die Erledigungsgebühr kann in den Fällen – wie hier –, in denen die Gemeinde im Laufe des Verfahrens ihr eigenes Satzungsrecht ändert und damit erst eine wirksame Rechtsgrundlage für Heranziehungsbescheide schafft, nicht davon abhängen, ob der vorher rechtswidrige Bescheid aufgehoben und nach Erlass der Änderungssatzung ein neuer Bescheid erteilt wird oder ob sich der Beitrag nach Maßgabe der neuen Rechtsgrundlage – wenn auch nur geringfügig – ermäßigt, erhöht oder der Höhe nach überhaupt nicht verändert.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat auch an der Erledigung mitgewirkt.

Die Erledigungsgebühr entsteht nur bei einer besonderen, nicht nur unwesentlichen und gerade auf die Beilegung des Rechtsstreits ohne streitige Entscheidung gerichteten Tätigkeit des Rechtanwalts, die über die bereits mit der Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV-RVG) abgegoltenen Leistungen der Einlegung und Begründung des Rechtsbehelfs sowie der Beratung des Mandanten zu einem verfahrensmäßig angemessenen Verhalten hinausgeht (NdsOVG, Beschluss vom 19.6.2018 – 10 OA 176/18 – juris Rn. 11; Beschluss vom 8.7.2013 – 5 OA 137/13 – juris Rn. 4 m. w. N., und Beschluss vom 11.6.2007 – 2 OA 433/07 – juris Rn. 7; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 28.11.2011 – 6 B 34/11 – juris Rn. 4; BayVGH, Beschluss vom 5.4.2017 – 19 C 15.1844 – juris Rn. 17; OVG Berl.-Bbg, Beschluss vom 11.9.2015 – OVG 6 K 13.15 – juris; SächsOVG, Beschluss vom 30.7.2015 – 3 E 41/15 – juris Rn. 8; BremOVG, Beschluss vom 24.4.2015 – 1 S 250/14 – juris Rn. 8; OVG NRW, Beschluss vom 24.10.2014 – 12 E 567/14 – juris Rn. 11). Mit der Erledigungsgebühr soll die Entlastung der Gerichte und das erfolgreiche anwaltliche Bemühen um eine möglichst weitgehende Herstellung des Rechtsfriedens zwischen den Beteiligten ohne gerichtliche Sachentscheidung honoriert werden (BVerwG, Beschluss vom 9.5.2018 – 9 KSt 2.18 u.a. – juris Rn. 2; NdsOVG, Beschluss vom 8.7.2013, a. a. O., Rn. 4 m. w. N.). Dabei kommt es maßgeblich darauf an, dass der Prozessbevollmächtigte an der materiell-rechtlichen Erledigung mitgewirkt hat. Allein eine Mitwirkung daran, den Rechtsstreit nach einer Erledigung in der Sache nunmehr auch in prozessualer Hinsicht – durch Abgabe einer Erledigungserklärung – zu beenden, reicht insoweit nicht aus, weil dies keine Tätigkeit darstellt, die über die allgemeine Prozessführung hinausgeht. Sie ist deshalb bereits durch die Verfahrensgebühr abgegolten (NdsOVG, Beschluss vom 19.6.2018, a. a. O., Rn. 11 m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 8.10.2014 – 1 E 197/14 – juris Rn. 6). Eine „anwaltliche Mitwirkung“ im Sinne der Nr. 1002 VV-RVG ist nicht nur im Zeitpunkt vor der Aufhebung/Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes bzw. dem Erlass des bisher abgelehnten Verwaltungsaktes möglich, sondern grundsätzlich auch danach. Eine solche, zeitlich nach der behördlichen Aufhebungs-/Änderungsentscheidung bzw. Neubescheidung liegende Mitwirkung kann insbesondere in der eingehenden Beratung und Einwirkung auf einen Mandanten liegen, sich nur mit einem Teilerfolg zufrieden zu geben (NdsOVG, Beschluss vom 8.7.2013, a. a. O., Rn. 7; SächsOVG, Beschluss vom 13.2.2013 - 3 E 118/12 - juris Rn. 3). Dies setzt jedoch voraus, dass der Rechtsstreit durch die Aufhebung/Änderung des Verwaltungsaktes bzw. die Neubescheidung materiell-rechtlich noch nicht vollständig erledigt ist (vgl. Senatsbeschluss vom 17.10.2016 – 9 OA 209/16 – n. v.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 2.12.1982 – 6 OVG B 48/82 – AnwBl 1983, 282, 283; SächsOVG, Beschluss vom 13.2.2013, a. a. O., Rn. 3). So kann beispielsweise die Erledigungsgebühr entstehen, wenn ein mittels Anfechtungsklage angefochtener Erschließungsbeitragsbescheid durch die Behörde reduziert wird und der Kläger nach entsprechender Einwirkung durch seinen Prozessbevollmächtigten mit Rücksicht auf die Beitragsreduzierung den Rechtsstreit insgesamt in der Hauptsache für erledigt erklärt (OVG NRW, Beschluss vom 11.1.1999 – 3 E 808/98 – juris Rn. 11 ff. [zu der - in ihren Voraussetzungen inhaltsgleichen - Vorgängervorschrift des § 24 BRAGO]).

Hiervon ausgehend hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin besonders an der Erledigung des Rechtsstreits mitgewirkt.

Eine nachträglich in den Prozess eingeführte Satzungsänderung führt ohne ausdrückliche Änderung/Aufhebung der angefochtenen Bescheide noch keine Erledigung des Rechtsstreits herbei. Insofern obliegt die Entscheidung, ob der Rechtsstreit dadurch in der Sache erledigt ist oder fortgesetzt werden soll, dem Kläger. An dieser Entscheidungsfindung kann der Prozessbevollmächtigte besonders mitwirken.

Es kann hier dahinstehen, ob der Prozessbevollmächtigte bereits vor der Satzungsneufassung besonders an der Erledigung mitgewirkt hat. Er hat zwar in seiner Klagebegründung vom 23. November 2017 und in den nachfolgenden Schriftsätzen vom 4. Januar und vom 6. Februar 2018 nachdrücklich die Satzung der Beklagten beanstandet. Daraufhin hat die Beklagte die Satzung mit Rückwirkung neugefasst. Das bloße Einlenken der Behörde aufgrund schriftlicher oder mündlicher Ausführungen des Anwalts im Verfahren ist aber für das Entstehen der Erledigungsgebühr grundsätzlich nicht ausreichend.Die „Mitwirkung“ im Rahmen der Nr. 1002 VV-RVG setzt ein Mehr an anwaltschaftlichem Tätigwerden voraus, als bereits durch die Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV-RVG) abgedeckt ist, mit der - u. a. - die Schriftsätze und die Antragstellung abgegolten sind (vgl. BayVGH, Beschluss vom 4.12.2007 – 3 C 07.2689 – juris Rn. 7; Hartmann, Kostengesetze, 48. Aufl. 2018, VV 1002, Rn. 9)

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat aber jedenfalls nach der Satzungsneufassung besonders an der Erledigung mitgewirkt. Ein „nachträgliches“ Mitwirken des Prozessbevollmächtigten der Klägerin war noch möglich, weil durch die mit Rückwirkung neu gefasste Satzung keine vollständige materiell-rechtliche Erledigung eingetreten ist. Denn die Beklagte hat die Klägerin, die die Aufhebung der Heranziehungsbescheide begehrt hatte, in Bezug auf den verfahrensgegenständlichen Anspruch nicht klaglos gestellt. Die Klägerin hat ihr Begehren nicht allein auf die Unwirksamkeit von Satzungsbestimmungen, sondern außerdem darauf gestützt, dass sich der Bescheid vom 9. Oktober 2017 (Az.: 3-20.16.02 – [502/2B und 2C]) teilweise auch insofern als rechtswidrig erweise, als die beiden auf dem Grundstück befindlichen Gebäude über eine andere Anlage erschlossen würden. Im Hinblick darauf hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin eine besondere, auf die nichtstreitige Erledigung der Verfahren gerichtete Tätigkeit entwickelt. Denn er hat der Klägerin mit Schreiben vom 13. April 2018 erklärt, dass er nach Durchsicht des Satzungstextes zu dem Ergebnis gelange, dass die Satzungsmängel beseitigt worden seien und dass er hinsichtlich der übrigen Argumente der Klägerin keine Erfolgsaussichten mehr für die Klage sehe. Nachdem sich die Klägerin davon nicht überzeugen ließ, hat er ihr mit weiterem Schreiben vom 26. April 2018 im Einzelnen erläutert, warum ihr aus mehreren Flurstücken bestehendes Grundstück beitragspflichtig sei. Diese Mitwirkungshandlung war auf den nicht durch die rückwirkende Satzungsneufassung erledigten Teil des Rechtsstreits gerichtet und ging über eine bloße, auf die formale Erledigung des Verfahrens gerichtete Belehrung hinaus.

Im Übrigen ging auch das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss von einer besonderen anwaltlichen Mitwirkung aus. Es hat ausgeführt, dass die Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin die Beklagte dazu veranlasst hätten, ihre Straßenausbaubeitragssatzung neu zu fassen, und dass „wohl davon ausgegangen werden“ könne, „dass die Klägerin die Erledigungserklärung nur aufgrund der Beratung ihres Rechtsanwalts abgegeben“ habe.

Damit steht dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin eine Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 Satz 1 VV-RVG zu. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 RVG i. V. m. Nr. 1003 VV-RVG beträgt dabei die Erledigungsgebühr, wenn wie hier über den Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit mit dem Klageverfahren, in Bezug auf das die Erledigungsgebühr angefallen ist, ein anderes gerichtliches Verfahren als ein selbständiges Beweisverfahren anhängig ist, eine Gebühr. Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 RVG i. V. mit der Anlage 2 zum RVG beläuft sich die Erledigungsgebühr bei dem zugrunde zu legenden Gegenstandswert von 8.986,99 EUR auf 507 EUR.Einschließlich 19 % Umsatzsteuer (§ 2 Abs. 2 RVG i. V. m. Nr. 7008 VV-RVG) ergibt sich daher ein zusätzlicher Erstattungsbetrag in Höhe von 603,33 EUR (507 EUR + 96,33 EUR).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Einer Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht. Gerichtskosten fallen nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) für das (erfolgreiche) Beschwerdeverfahren und wegen des Fehlens eines entsprechenden Gebührentatbestandes für das erstinstanzliche Erinnerungsverfahren nicht an (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 11.8.2016 – 13 OA 130/16 – juris Rn. 10).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).