Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.06.2019, Az.: 2 ME 570/19

ADHS; ADS; Behinderung; Chancengleichheit; chronische Erkrankung; Leistungsfähigkeit; Nachteilsausgleich; Prüfung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
24.06.2019
Aktenzeichen
2 ME 570/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69722
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 12.06.2019 - AZ: 1 B 25/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Einschränkungen infolge einer chronischen Erkrankung oder Behinderung - hier Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) -, die sich auf die mit der Prüfung festzustellende Leistungsfähigkeit selbst auswirken - hier die Fähigkeit zur Erfassung des prüfungsrelevanten Sachverhalts, der Problemstellung und Problemlösung innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums -, begründen keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich im Prüfungsverfahren.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 1. Kammer - vom 12. Juni 2019 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird unter Änderung der verwaltungsgerichtlichen Streitwertfestsetzung für das erstinstanzliche Verfahren und das Beschwerdeverfahren auf je 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller, der an der Hochschule B-Stadt im Studiengang öffentliche Verwaltung (Abschluss Bachelor of Arts) studiert, begehrt wegen eines attestierten Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADS) im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung eines Nachteilsausgleichs für fünf am 21. Juni 2019, 26. Juni 2019, 28. Juni 2019, 1. Juli 2019 und 6. Juli 2019 abzulegende Prüfungen (schriftliche Aufsichtsarbeiten/Klausuren) des Sommersemesters 2019.

Der Antragsteller hat in der Vergangenheit bereits erfolglos (Anträge vom 6. November 2018 und 20. Dezember 2018) die Gewährung eines Nachteilsausgleichs in Form einer Verlängerung der Bearbeitungszeit für eine Hausarbeit und fünf Klausuren im Wintersemester 2018/2019 beantragt. Die Anträge hat die Antragsgegnerin mit bestandskräftigen Bescheiden vom 10. Dezember 2018 und 11. Januar 2019 abgelehnt.

Am 20. Februar 2019 beantragte der Antragsteller erneut die Gewährung eines Nachteilsausgleichs (Verlängerung der Bearbeitungszeit, Ersatz der Prüfungsform durch eine mündliche Prüfung oder durch eine Hausarbeit) für fünf Prüfungsleistungen (Klausuren) des Sommersemesters 2019 (Verwaltungsverfahrensrecht und allgemeines Gefahrenabwehrrecht, Grundrechte, Kommunalrecht, Kommunales Rechnungswesen, Finanzmanagement). Zur Begründung trug er unter Vorlage eines Attests seines behandelnden Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. D. vom 11. Februar 2019 vor, er leide an einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) im Erwachsenenalter, das sich negativ auf seine Leistungsfähigkeit im Allgemeinen und im Speziellen auf das Lernen und sein Prüfungsverhalten auswirke. Wie sich aus dem Attest ergebe, benötige er deshalb und weil bei ihm zwischenzeitlich auch eine Angststörung vorliege für die bevorstehenden Klausuren eine Verlängerung der Prüfungsdauer um 50 % oder eine Abwandlung der Prüfungsform (Klausur) in eine mündliche Prüfung oder Hausarbeit. Den Antrag lehnte die Antragsgegnerin nach Maßgabe der Entscheidung des Studiendekans - der seinerseits auf seine Entscheidung über den ersten Antrag des Antragstellers vom 6. November 2018 auf Nachteilsausgleich für das Wintersemester 2018/2019 Bezug nahm - mit Bescheid vom 1. April 2019 ab. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 10. Mai 2019 zurück. Unter Beachtung des Grundsatzes der Chancengleichheit sei ein Nachteilsausgleich nur zu gewähren, wenn eine Behinderung vorliege, die den Nachweis der vorhandenen Leistungsfähigkeit einschränke und auch im Beruf durch Hilfsmittel ausgeglichen werden könne. Bereits die erste Voraussetzung liege nicht vor. Bei der durch das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) bedingten Einschränkung handele es sich nicht um eine Einschränkung der Darstellungsfähigkeit, sondern um eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit, für die ein Nachteilsausgleich nicht gewährt werden könne.

Dagegen hat der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht Osnabrück Klage - 1 A 130/19 - erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz - 1 B 25/19 - nachgesucht.

Über die Klage hat das Verwaltungsgericht noch nicht entschieden. Den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 12. Juni 2019 abgelehnt.

Dagegen richtet sich die Beschwerde.

II.

Die Beschwerde hat mit den Anträgen,

unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 12. Juni 2019,

1. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig gemäß seinem Antrag vom 19. Februar 2019 einen Nachteilsausgleich in Form einer Schreibzeitverlängerung für die im Sommersemester 2019 anstehenden Klausuren in den Prüfungsfächern Verwaltungsverfahrens- und allgemeines Gefahrenabwehrrecht, Grundrechte sowie angewandte Fallstudien, Kommunalrecht, Kommunales Rechnungswesen und Finanzmanagement zu gewähren,

2. hilfsweise, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig gemäß seinem Antrag vom 19. Februar 2019 einen Nachteilsausgleich in Form der alternativen Prüfungsform Hausarbeit anstelle der Prüfungsform Klausur für die anstehenden Prüfungsleistungen im Sommersemester 2019 in den Prüfungsfächern Verwaltungsverfahrens-und allgemeines Gefahrenabwehrrecht, Grundrechte sowie angewandte Fallstudien, Kommunalrecht, Kommunales Rechnungswesen und Finanzmanagement zu gewähren,

3. höchst hilfsweise, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig gemäß seinem Antrag vom 19. Februar 2019 einen Nachteilsausgleich in Form der alternativen Prüfungsform mündliche Einzelprüfung, anstelle der Prüfungsform Klausur für die anstehenden Prüfungsleistungen im Sommersemester 2019 in den Prüfungsfächern Verwaltungsverfahrens- und allgemeines Gefahrenabwehrrecht, Grundrechte sowie angewandte Fallstudien, Kommunalrecht, Kommunales Rechnungswesen und Finanzmanagement zu gewähren,

keinen Erfolg.

Das Beschwerdevorbringen, auf das sich die Prüfung des Senats im Beschwerdeverfahren beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), stellt die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht in Frage. Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch auf den begehrten Nachteilsausgleich auch im Beschwerdeverfahren nicht glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Die bei dem Antragsteller bereits in der Kindheit und Jugend entstandene Erkrankung - Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) und ihre Symptome - begründen keinen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich im Rahmen der streitgegenständlichen Prüfungen (Klausuren).

Nach § 16 Satz 4 HRG und § 7 Abs. 3 Satz 5 NHG haben die Prüfungsordnungen der Hochschulen die besonderen Belange behinderter Studierender zur Wahrung ihrer Chancengleichheit zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang bestimmt § 4a Abs. 1 Satz 1 des Allgemeinen Teils der Prüfungsordnung der Antragsgegnerin (ATPO), dass Studierenden ein Nachteilsausgleich gewährt werden soll, wenn sie glaubhaft machen, dass sie wegen einer Behinderung oder chronischen Krankheit nicht in der Lage sind, Studien- oder Prüfungsleistungen ganz oder teilweise in der vorgesehenen Form oder in der vorgegebenen Zeit abzulegen. Die Regelung des § 4a Abs. 1 ATPO dient der Sicherung des prüfungsrechtlichen Grundsatzes der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG). Alle Prüflinge sollen möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Es müssen grundsätzlich einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten; die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung müssen gleichartig sein (ständige Rspr.: vgl. nur BVerwG, Urt. v. 29.07.2015 - 6 C 35.14 -, juris Rn. 15 m.w.N.). Einheitliche Prüfungsbedingungen sind aber geeignet, die Chancengleichheit der Prüflinge zu verletzen, deren Fähigkeit, ihr vorhandenes Leistungsvermögen darzustellen, erheblich beeinträchtigt ist. In Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Chancengleichheit gewährt § 4a Abs. 1 Satz 1 ATPO daher diesen Prüflingen einen Nachteilsausgleich.

Nach dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck der Regelung ist der Nachteilsausgleich indes auf die Fälle beschränkt, in denen der Studierende aufgrund seiner Behinderung oder chronischen Erkrankung ganz oder teilweise gehindert ist, seine tatsächlich uneingeschränkt bestehende Leistungsfähigkeit in der geforderten Prüfungsform nachzuweisen. Die Regelung dient dem Ausgleich der durch eine chronische Erkrankung bzw. Behinderung bedingten Einschränkung der Fähigkeit zur Darstellung der tatsächlich vorhandenen Leistungsfähigkeit des Prüflings; sie dient dagegen nicht dem Ausgleich einer durch die chronische Krankheit oder Behinderung bedingten Einschränkung der wissenschaftlichen und/oder geistigen Leistungsfähigkeit selbst, die mit der Prüfung nachzuweisen ist (vgl. Jeremias, in Niehues/ Fischer/Jeremias Prüfungsrecht 7. Auflage 2018, Rn. 258; ders., Dauerleiden und Nachteilsausgleich im Prüfungsrecht, NVwZ 2019, 893 [BVerwG 27.02.2019 - BVerwG 6 C 3.18]). Nach ständiger Rechtsprechung sind Behinderungen und Dauerleiden, die als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die geistige Leistungsfähigkeit des Prüflings prägen, nicht ausgleichsfähig (BVerwG, Beschl. v. 13.12.1985 - 7 B 210.85 -, juris Rn. 6; BayVGH, Beschl. v. 28.1.2011 - 7 ZB 10.2236 -, juris Rn 17; VGH BW, Beschl. v. 29.4.2016 - 9 S 582/16 -, juris Rn.8).

Davon ausgehend kann der Antragsteller einen Nachteilsausgleich nicht beanspruchen, denn nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung hat er nicht glaubhaft gemacht, dass es sich bei dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) um eine chronische Erkrankung (Dauerleiden) handelt, die ihn hindert, seine tatsächlich vorhandene Leistungsfähigkeit in den streitgegenständlichen Prüfungen (Klausuren) umzusetzen und nachzuweisen. Nach dem Vorbringen des Antragstellers und den vorgelegten ärztlichen Attesten spricht vielmehr Überwiegendes dafür, dass es sich bei der bei dem Antragsteller bestehenden ADS um eine Beeinträchtigung handelt, die eine Einschränkung der wissenschaftlichen und/oder geistigen Leistungsfähigkeit des Antragstellers bedingt und mithin einem Ausgleich nach § 4a Abs. 1 ATPO nicht zugänglich ist. Dafür sprechen zunächst die Ausführungen des Antragstellers in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 13. Mai 2019. Danach bewirke die bei ihm bestehende ADS, dass er sich leicht ablenken lasse und große Schwierigkeiten habe, sich bei Klausuren auf das Wesentliche zu konzentrieren. Er sei regelmäßig nicht in der Lage, das erworbene Wissen unter Berücksichtigung der Ablenkung durch Reizüberflutung innerhalb der vorgegebenen Zeit geordnet darzustellen. Bei mehreren zu bearbeitenden Aufgaben verzettele er sich oft und benötige für die sachgerechte Bearbeitung der Aufgaben und die Darstellung seiner Lösungen deutlich mehr Zeit als andere Studierende. Der behandelnde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie hat zudem in seinem Attest vom 5. November 2018 ausgeführt, dass sich die Erkrankung des Antragstellers auf seine Leistungsfähigkeit im Allgemeinen und im Speziellen auf das Lernen und Prüfungsverhalten auswirke. Die beschriebenen bei dem Antragsteller infolge seiner Erkrankung bestehenden Einschränkungen betreffen danach seine im Rahmen der Prüfung festzustellende Leistungsfähigkeit selbst, nämlich die Fähigkeit zur Erfassung des prüfungsrelevanten Sachverhalts, der Problemstellung und der Problemlösung innerhalb des mit der Klausur vorgegebenen zeitlichen Rahmens. Bei dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) handelt es sich mithin nicht um eine Beeinträchtigung, die die lediglich die Umsetzung der vorhandenen Leistungsfähigkeit erschwert, sondern zum maßgeblichen Zeitpunkt der Prüfung um eine kognitive Einschränkung der psychischen/geistigen Leistungsfähigkeit, die das Leistungsbild und die Persönlichkeit des Antragstellers dauerhaft prägt und deshalb einem Ausgleich nicht zugänglich ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11). Danach ist der Wert des Streitgegenstandes in dem auf die vorläufige Gewährung eines Nachteilsausgleichs gerichteten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch für das erstinstanzliche Verfahren mit der Hälfte des Auffangwertes von 5.000 Euro und mithin mit 2.500 Euro zu bemessen. Der Senat macht insofern von seiner Befugnis gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG Gebrauch, die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts von Amts wegen zu ändern.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).