Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 04.06.2019, Az.: 1 ME 76/19

Abstand; Außenwand; Grenzabstand; Mauervorsprung; Privilegierung; Vorbau

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
04.06.2019
Aktenzeichen
1 ME 76/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69720
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 25.04.2019 - AZ: 2 B 115/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur abstandsrechtlichen Privilegierung von Außenwandvorsprüngen.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 2. Kammer - vom 25. April 2019 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind in beiden Rechtszügen erstattungsfähig; insoweit wird die Kostenentscheidung des Verwaltungsgerichts geändert.

Der Wert des Streitgegenstands wird für das erstinstanzliche Verfahren und das Beschwerdeverfahren auf 10.000,00 EUR festgesetzt; insoweit wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts geändert.

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen eine dem Beigeladenen für den rückwärtigen Bereich ihres Nachbargrundstückes erteilte Baugenehmigung und insbesondere dagegen, dass diese ein teilweises Hervortreten der Außenwand im Obergeschoss in einen Bereich gestattet, der innerhalb des Abstandes von 0,5 H liegt, außerdem im Wege der Befreiung eine Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze um 40 cm billigt sowie die Errichtung von neun Stellplätzen im rückwärtigen Grundstücksbereich zulässt.

Sie sind Miteigentümer des unter der im Aktivrubrum genannten postalischen Adresse südlich der Kasseler Landstraße gelegenen Grundstücks, das ungefähr 60 m tief, 15 m breit und mit einem an der Straße errichteten Mehrfamilienhaus sowie einem dahinterliegenden eingeschossigen Flachdachgebäude bebaut ist. Letzteres reicht einige Meter über die straßenseitige Grundstückshälfte sowie eine in diesem Bereich festgesetzte rückwärtige Baugrenze hinaus. Der rückwärtige Teil des Grundstücks wird als Garten genutzt. Östlich an das Grundstück der Antragsteller grenzt das des Beigeladenen. Dieses weist einen ähnlichen Zuschnitt wie das Antragstellergrundstück auf und ist straßenseitig mit einem etwa 12 m tiefen Wohngebäude bebaut. Im rückwärtigen Bereich befand sich bisher eine Doppelgarage, im Übrigen wurde dieser ebenfalls als Garten genutzt. Das Antragstellergrundstück ist gemeinsam mit drei weiteren Grundstücken – einem westlich gelegenen vergleichbaren Zuschnitts, dem des Beigeladenen und dem östlich an dieses anschließenden – als Mischgebiet festgesetzt. Östlich dieses Mischgebietes befindet sich eine Fläche für Stellplätze, von der Kasseler Landstraße aus betrachtet hinter diesem liegt ein Gewerbegebiet, westlich schließt ein weiteres Mischgebiet mit einer größeren Hotelparkplatzfläche an. Die südlich unmittelbar an das Antragstellergrundstück grenzenden Flächen werden ebenfalls für Stellplatzzwecke genutzt.

Unter dem 26. Februar 2018 erteilte die Antragsgegnerin dem Beigeladenen eine Baugenehmigung für den Neubau eines Studentenwohnheims mit acht Apartments. Dieses soll hinter dem Bestandsgebäude – etwa auf gleicher Höhe wie das Flachdachgebäude der Antragsteller – mit zwei Vollgeschossen und einem Staffelgeschoss errichtet werden. Auf der den Antragstellern zugewandten Gebäudeseite ist zudem ein Hervortreten der Außenwand im ersten Obergeschoss und der darüber befindlichen massiven Brüstung der Dachterrasse um 0,75 m gegenüber der übrigen Außenwand auf einer Länge von 3,74 m und bis zu einer Höhe von 6,80 m vorgesehen; die Gesamtlänge der Außenwand soll 11,24 m betragen, der Vorsprung einen Abstand von 2,65 m zum Antragstellergrundstück haben. Die notwendigen neun Stellplätze sind im hinteren Grundstücksbereich außerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche geplant. Das Staffelgeschoss hat die gleiche Tiefe wie die Vollgeschosse, ist auf diesen, um den Abstand zum Bestandsgebäude auf dem Beigeladenengrundstück zu wahren, allerdings um 40 cm nach Süden verschoben und überschreitet in dieser Länge die festgesetzte hintere Baugrenze, von deren Einhaltung die Baugenehmigung den Beigeladenen insoweit befreit.

Den Antragstellern wurde die Baugenehmigung am 25. Februar 2019 zugestellt. Über einen hiergegen erhobenen Widerspruch sowie einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist bisher nicht entschieden. Den von den Antragstellern nach Baubeginn beim Verwaltungsgericht gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches hat das Verwaltungsgericht abgelehnt und seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Obwohl der Aussetzungsantrag der Antragsteller bisher nicht beschieden worden sei, sei der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO mit Blick auf den Baufortschritt zulässig. Er sei allerdings unbegründet, die Baugenehmigung verletze keine drittschützenden Bestimmungen. Die Vorschriften zum Grenzabstand seien gewahrt, der Gebäudevorsprung unterfalle dem Privileg gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO. Hinsichtlich der Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von der rückwärtigen Baugrenze könnten die Antragsteller sich nicht auf eine nachbarschützende Vorschrift berufen. § 31 Abs. 2 BauGB vermittle nur dann Drittschutz, wenn die Vorschrift, von deren Einhaltung befreit werde, ihrerseits drittschützenden Wirkung habe. Die rückwärtige Baugrenze weise eine solche jedoch nicht auf und werde zudem auch von den Antragstellern selbst deutlich überschritten. Die Zulassung der Stellplätze im hinteren Grundstücksbereich nach § 23 Abs. 5 BauNVO verstoße ebenfalls nicht gegen nachbarschützende Bestimmungen. Die Anordnung der Stellplätze gehe auch nicht mit einem Verstoß gegen § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO einher. Das Grundstück der Antragsteller sei gerade im rückwärtigen Bereich durch die in der Nachbarschaft vorhandenen Stellplatzflächen bereits jetzt erheblich vorbelastet. Durch die planerische Gestaltung – die an das Mischgebiet angrenzenden Misch- und Gewerbegebiete – sei ein gewisses Maß an Unruhe planerisch vorgezeichnet und gewollt.

II.

Die dagegen gerichtete Beschwerde, auf deren fristgerecht vorgetragene Gründe sich die Prüfung des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, hat keinen Erfolg.

Zwar fehlt es den Antragstellern trotz des – soweit dies aus den von der Antragsgegnerin vorgelegten Bildern ersichtlich ist – im Wesentlichen bereits fertiggestellten Rohbaus nicht an einem Rechtsschutzbedürfnis. Denn sie gehen gegen die Baugenehmigung nicht allein aufgrund der Masse oder Maße des genehmigten Gebäudes vor (vgl. Senat, Beschl. v. 22.10.2008 - 1 ME 134/08 -, juris, Rn. 4), sondern möchten auch die von den Stellplätzen befürchteten Einwirkungen abwehren; diese sind erst ab einer Innutzungnahme zu befürchten.

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet:

1. Der hervortretende Gebäudeteil auf der Westseite des genehmigten Gebäudes unterfällt der Privilegierung nach § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO und verletzt die gesetzlichen Abstandsvorschriften daher nicht. Ob es sich dabei um einen „sonstigen Vorbau“ oder ein „anderes vortretendes Gebäudeteil“ handelt, kann dahinstehen. Soweit die Antragsteller bemängeln, durch das Hervortreten der Außenwand werde die Kubatur des Gebäudes verändert, es wirke größer, argumentieren sie in der Sache dahingehend, dass sie den hervortretenden Teil als zu groß, mit anderen Worten als nicht untergeordnet empfinden. Das Erfordernis einer Unterordnung hat der Gesetzgeber aber mit der Einführung des § 7b Abs. 1 NBauO durch Gesetz vom 11. April 1986 (GVBl. S. 103) teilweise und mit der Einführung des bis heute unveränderten § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO in der Fassung des Gesetzes vom 3. April 2012 (GVBl. S. 46) vollständig gestrichen (vgl. LT-Drs. 10/3480, S. 49; LT-Drs. 16/3195, S. 72). Die Maßangaben in § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO dienen als Ersatz für das Merkmal des Unterordnens (LT-Drs. 16/3195, S. 72). Entgegen der Auffassung der Antragsteller bedarf es insoweit tatsächlich nur noch einer rein mathematischen Betrachtung.

Der Versuch der Antragsteller, diese mathematische Betrachtung mit dem Argument zu korrigieren, der privilegierte Gebäudeteil müsse vor die Außenwand hervortreten, es könne nicht die Außenwand selbst hervortreten, verfängt nicht; er findet im Gesetz keinerlei Stütze. Vielmehr privilegierten § 7 Abs. 7 NBauO in der Fassung vom 23. Juli 1973 (GVBl. S. 259) und auch § 7b Abs. 1 Satz 2 NBauO in der Fassung vom 11. April 1986 (GVBl. S. 103) ausdrücklich auch Erker, die ebenfalls nicht vor der eigentlichen Außenwand des Gebäudes errichtet sein müssen, sondern deren Außenwand zugleich die Außenwand des Gebäudes darstellen kann. Dass Erker aus der ausdrücklichen Aufzählung der privilegierten Bauteile in § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO gestrichen wurden, bedeutet weder, dass sie ihren privilegierten Status verloren haben, noch stützt es die Argumentation der Antragsteller. Hintergrund ist vielmehr eine stärkere Fokussierung des Gesetzgebers auf die allgemeinen Begriffe des sonstigen Vorbaus und des anderen vortretenden Gebäudeteils bei gleichzeitiger Reduzierung der Anzahl der ausdrücklich erwähnten privilegierten Bauteile. Auch der hier in Rede stehende Gebäudeteil ließe sich aber zwanglos als Erker einstufen. Möchte man dies anders sehen, stünde das einer Privilegierung nicht entgegen. Insbesondere ist unschädlich, dass der Vorbau nicht – ähnlich einer Loggia – gesonderten Raum schafft, sondern den Innenraum „nach außen“ erweitert (vgl. Barth/Mühler, Abstandsvorschriften der Niedersächsischen Bauordnung, 4. Aufl. 2013, § 5 NBauO, Rn. 48).

Der Hinweis der Antragsteller darauf, dass der niedersächsische Landesgesetzgeber sehenden Auges einen Grenzabstand von 0,5 H anstelle des in der Musterbauordnung vorgesehenen Grenzabstandes von 0,4 H festgeschrieben habe, steht den obigen Erwägungen nicht entgegen. Diese konterkarieren den Wunsch des Landesgesetzgebers nach einem im Vergleich zur Musterbauordnung größeren Grenzabstand nicht etwa, sondern beziehen sich auf eine Ausnahme von dem regelmäßig geltenden Abstandsmaß, wie sie auch § 6 Abs. 6 Nr. 2 der Musterbauordnung vorsieht.

2. Soweit die Antragsteller die Auffassung vertreten, von der Einhaltung der rückwärtigen Baugrenze komme eine Befreiung nicht in Betracht, weil diese „im Angesicht des Einzelfalles“ festgesetzt worden sei, ist ihr Vortrag nicht hinreichend substantiiert. Woraus sich eine einzelfallbezogene Festsetzung der Baugrenze im Sinne des von ihnen zitierten Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Juli 1972 (- IV C 69/70 -, juris) ergeben soll, legen sie nicht dar. Im Übrigen übergehen die Antragsteller, dass das erhebliche Maß, in dem sie selbst die rückwärtige Baugrenze überschreiten, ihnen nach Treu und Glaube die Möglichkeit nähme, sich auf die vergleichsweise geringfügige Überschreitung der Baugrenze durch den Beigeladenen zu berufen.

3. Ohne Erfolg wenden die Antragsteller ein, das Verwaltungsgericht sei fehlerhaft von einer hinreichenden Würdigung ihrer nachbarlichen Interessen ausgegangen. Das von den Antragstellern erwähnte Interesse an einem Schutz vor Lärmimmissionen und einer Möglichkeit zur Einsichtnahme in ihren rückwärtigen Grundstücksbereich wird durch die Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB nicht berührt. Dadurch, dass das Staffelgeschoss die hintere Baugrenze um 40 cm überschreitet, entstehen weder weitergehende Einsichtnahmemöglichkeiten, noch erhöht sich hierdurch das Maß der Lärmimmissionen auf dem Grundstück der Antragsteller; Gegenteiliges legen die Antragsteller nicht hinreichend dar.

Soweit die Antragsteller sich gegen die Zulassung der Stellplätze im hinteren Bereich des Beigeladenengrundstücks wenden und damit die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO angreifen, dringen sie ebenfalls nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat die Frage nach einer lärmbedingten Unzumutbarkeit der Anordnung der Stellplätze ausführlich und in nicht zu beanstandender Weise betrachtet (Bl. 6 f. BA); konkrete Einwendungen gegen die Argumentation des Verwaltungsgerichts erheben die Antragsteller nicht. Zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass das Maß des Verkehrs von und zu den Stellplätzen sich in Grenzen halten wird: Studenten, die die universitären Einrichtungen in der Innenstadt erreichen möchten, werden für diese Strecke von etwa 3 km und bei einer etwa 100 m entfernten Bushaltestelle kaum den Pkw nutzen. Von einem Ermessensausfall kann im Übrigen nicht die Rede sein: Auf Bl. 31 der Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin finden sich Gesprächsnotizen, in denen eine Vielzahl ermessensrelevanter Aspekte niedergelegt ist. Auf Bl. 40 der Verwaltungsvorgänge hat die Antragsgegnerin nochmals gesondert die Frage nach einer übermäßigen Lärmbeeinträchtigung durch die Anordnung der Stellplätze aufgeworfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 8 a) und 18 b)) der Streitwertannahmen des Senats (NordÖR 2002, 197). Nach ständiger Rechtsprechung des Senats sind die außergerichtlichen Kosten eines notwendig Beigeladenen stets erstattungsfähig. Hinsichtlich des Streitwertes ist die erstinstanzliche Entscheidung gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG zu korrigieren. Mit Blick auf die Bedeutung der Sache für die Antragsteller und dabei nicht zuletzt auf die Größe ihres Wohnhauses ist von einem zu halbierenden Hauptsachestreitwert von 20.000,00 EUR auszugehen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).