Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 14.06.2019, Az.: 1 ME 84/19
Balkon; Gebot der Rücksichtnahme; Grenzabstand; Rücksichtnahmegebot
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 14.06.2019
- Aktenzeichen
- 1 ME 84/19
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 69711
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 13.05.2019 - AZ: 2 B 54/19
Rechtsgrundlagen
- § 5 Abs 3 Nr 2 BauO ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Der Grenzabstand, der nach § 5 Abs. 3 NBauO um bis zu 1/3 unterschritten werden kann, ist der des vortretenden Gebäudeteils, nicht der der dahinterliegenden Hauswand.
Zur Bedeutung einer faktischen rückwärtigen Baugrenze iRd Gebots der Rücksichtnahme.
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 2. Kammer - vom 13. Mai 2019 wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.
Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.500 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsteller sind Eigentümer des mit einem selbstgenutzten Einfamilienhaus bebauten Grundstücks H. I. in E-Stadt. Dieses steht etwa mittig auf dem von Süden erschlossenen, länglichen Grundstück. Auf Höhe ihres Wohnhauses haben sie an der an der östlichen Grundstücksgrenze stehenden Garage eine Terrasse errichtet. Am 16.1.2019 erteilte der Antragsgegner dem Beigeladenen die Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit vier Wohneinheiten auf dem östlichen Nachbargrundstück der Antragsteller, H. J.. Das Gebäude soll der gemeinsamen Grundstücksgrenze die Traufseite (Traufhöhe ca. 4,20 m) zuwenden, auf der Höhe der Garage der Antragsteller jedoch ein in den Bauvorlagen und von den Antragstellern als Gaube bezeichnetes Bauteil – einen bündig mit der Außenmauer auf diese aufsetzenden weiteren Giebel mit einer Breite von 5,60 m und einer Firsthöhe von 7,50 m – aufweisen. Der Abstand zur gemeinsamen Grundstücksgrenze beträgt an der schmalsten Stelle 3,97 m. Vor die Fassade der „Gaube“ springt im ersten Obergeschoss ein 5 m breiter Balkon mit einer Tiefe von 1,87 m. Die Rückseite des Vorhabens reicht ca. 2-3 m weiter als das Wohnhaus der Antragsteller in die rückwärtigen, gärtnerisch genutzten Grundstücksbereiche hinein.
Den dagegen gerichteten Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs und nach dessen Ablehnung ihrer Klage hat das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, das Vorhaben verletze voraussichtlich keine Nachbarrechte der Antragsteller. Eine etwaige faktische rückwärtige Baugrenze habe keine nachbarschützende Wirkung. Grenzabstände seien eingehalten. Der insoweit allein strittige Balkon halte sich mit einem Grenzabstand von 2,10 m im Rahmen des nach § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO Erlaubten, namentlich unterschreite er den ohne diese Regelung maßgeblichen Grenzabstand nicht um mehr als ein Drittel. Entgegen der Auffassung der Antragsteller betrage dieser reguläre Grenzabstand hier 3 m, nicht (½ x 7,50 m =) 3,75 m, da das Giebeldreieck der „Gaube“ – tatsächlich ein Zwerchhaus – nach § 5 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 NBauO unberücksichtigt bleibe. Auf einen Gebietserhaltungsanspruch könnten sich die Antragsteller nicht berufen. Das Rücksichtnahmegebot sei nicht verletzt. Die Einhaltung der Grenzabstandsvorschriften indiziere, dass die vom Vorhaben ausgehenden Verschattungswirkungen und Einsichtnahmemöglichkeiten zumutbar seien. Einsichtsmöglichkeiten seien in innerörtlichen Lagen zudem grundsätzlich hinzunehmen; es bleibe ihnen überlassen, diesen ggf. durch geeignete Maßnahmen entgegenzuwirken.
II.
Die Beschwerde bleibt erfolglos. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist in der Sache nicht zu beanstanden.
Soweit die Antragsteller rügen, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht angenommen, der Giebel der Gaube bzw. des Zwerchhauses unterfalle nicht dem Abstandsprivileg des § 5 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 NBauO, ist ihr Vortrag – unabhängig davon, dass die Sichtweise des Verwaltungsgerichts zutreffen dürfte – unerheblich. Der maßgebliche Grenzabstand, der nach § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO unterschritten werden kann, ist nicht der, den der Giebelaufbau, sondern der, den der Balkon nach Abs. 1 und 2 einhalten müsste. Dessen Oberkante liegt jedoch unstreitig nicht mehr als 6 m über der maßgeblichen Geländehöhe; die grüngestempelten Bauzeichnungen zeigen eine Brüstungshöhe von ca. 3,80 m. Der vom Balkon ohne die Privilegierung des § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO einzuhaltende Grenzabstand beträgt mithin 3 m, wird bei einem tatsächlichen Grenzabstand von 2,10 m also um nicht mehr als ein Drittel überschritten. Der Giebelaufbau selbst hält bei einem tatsächlichen Grenzabstand von mindestens 3,97 m den erforderlichen Grenzabstand von ½ h selbst ohne Berücksichtigung des § 5 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 NBauO ein.
Entgegen der Auffassung der Antragsteller ergibt sich auch aus der Überschreitung einer vermeintlichen faktischen rückwärtigen Baugrenze kein Verstoß gegen das im Erfordernis des „Einfügens“ in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene Gebot der Rücksichtnahme. Ein Automatismus dieser Art besteht nicht; das liefe darauf hinaus, faktischen rückwärtigen Baugrenzen eben doch eo ipso drittschützende Wirkung zuzuerkennen. Zutreffend dürfte sein, dass die von einem Vorhaben ausgehenden Wirkungen eher als unzumutbar und daher rücksichtslos eingestuft werden können, wenn das Vorhaben insgesamt oder seine die fraglichen Wirkungen zeitigenden Teile in einem Bereich, der bislang als rückwärtige Ruhezone von solchen Wirkungen verschont geblieben ist, liegen, als wenn sie sich in einem durch Nachbarbebauung „vorbelasteten“ Bereich befinden. Auch unter Berücksichtigung dieses Gedankens ist hier indes eine Unzumutbarkeit nicht festzustellen. Soweit die Antragsteller Einsichtnahmemöglichkeiten von den Balkonen des Vorhabens auf ihre an der Grundstücksgrenze errichtete Terrasse anführen, verkennen sie, dass die Balkone nicht einmal bei strengster Betrachtung hinter einer möglichen faktischen rückwärtigen Baugrenze lägen – ihre Nordseite liegt vielmehr in einer Flucht mit der Rückwand des Wohnhauses und der Garagendachterrasse der Antragsteller. Die von den Antragstellern angeführte Möglichkeit, dass der Beigeladene, hätte er die behauptete Baugrenze einhalten müssen, sein Vorhaben insgesamt und damit auch die Balkone weiter nach Süden verschoben hätte, stellt keinen inneren Bezug zwischen der Überschreitung und Nachbarrechten der Antragsteller her – selbst wenn der Beigeladene das Gebäude im Übrigen verschieben müsste, könnte er die Balkone rechtmäßig an Ort und Stelle belassen. Eine unzumutbare „erdrückende Wirkung“ durch das in den bislang von Hauptgebäuden freien rückwärtigen Grundstücksbereich selbst bei strengster Betrachtung nur um wenige Meter hineinragenden Teils des Vorhabens ist bei einer traufständigen Gebäudeanordnung und einer Traufhöhe von unter 4 m nicht ansatzweise erkennbar.
Soweit die Antragsteller unabhängig von einer etwaigen Überschreitung einer faktischen rückwärtigen Baugrenze eine Rücksichtslosigkeit der Lage der Balkone geltend machen, ist auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu verweisen: Mit Einsichtsmöglichkeiten von schräg oben auf eine grenzständig errichtete Terrasse ist in innerörtlichen Lagen stets zu rechnen; insoweit ist unerheblich, ob die Terrasse genehmigt ist und ob die Eigentümer durch seitlichen Sichtschutz Möglichkeiten architektonischer Selbsthilfe haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 2 VwGO.
Hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen beruht die Entscheidung auf § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).