Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.06.2019, Az.: 12 LA 184/18

Abweichung (Baugenehmigung); Abweichungsbescheid; Drittschutz; Isolierter Abweichungsbescheid; Konzentrationswirkung; immissionsschutzrechtliche Konzentrationswirkung; Nachbarschutz; Vorbescheid, immissionsschutzrechtlicher

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.06.2019
Aktenzeichen
12 LA 184/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69736
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 09.08.2018 - AZ: 2 A 333/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur potentiell drittschützenden Wirkung der immissionsschutzrechtlichen Konzentrationswirkung nach § 13 BImSchG

Tenor:

Auf den Antrag der Klägerin wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen - 2. Kammer - vom 9. August 2018 zugelassen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I.

Der Beigeladene plant die Errichtung und den Betrieb einer (weiteren) Windenergieanlage (WEA) mit einer Nabenhöhe von rd. 138 m auf dem Gebiet der Klägerin.

Hierfür stellte er beim Beklagten einen Antrag auf Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung. Dieser ist allerdings der Ansicht, dass „die abschließende Prüfung aller entscheidungserheblicher Tatsachen“ im Rahmen dieses immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens einen erheblichen, ihm und dem Vorhabenträger unzumutbaren Aufwand darstelle, solange etwa die Einhaltung von Grenzabstandvorschriften nicht geklärt sei. Ein solcher Fall sei hier gegeben, da die vom Kläger geplante WEA den Grenzabstand u. a. gegenüber im Eigentum der Klägerin stehenden faktischen Wegeflurstücken (teilweise erheblich) unterschreite.

Antragsgemäß erteilte er deshalb dem Beigeladenen mit dem hier streitigen, auf § 66 NBauO gestützten (gesonderten) Bescheid vom 26. Januar 2017 vorab eine Abweichung von den Grenzabstandsvorgaben des § 5 NBauO gegenüber drei im Eigentum der Klägerin stehenden, in der folgenden Karte gelb gekennzeichneten (Wege-)Flurstücken:

Die dagegen gerichtete Anfechtungsklage der Klägerin hat das Verwaltungsgericht mit dem aus dem Tenor ersichtlichen Urteil abgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt:

Zwar habe der Beklagte die Verfahrensvorschrift des § 66 Abs. 3 Satz 1 NBauO verletzt. § 66 Abs. 3 Satz 1 NBauO sehe vor, dass eine Abweichung nicht in einem gesonderten Verwaltungsakt zugelassen werden dürfe, wenn die Erteilung einer Baugenehmigung von der Abweichung abhänge. Dann müsse die Entscheidung über die Abweichung zwingend innerhalb des Verwaltungsakts der Baugenehmigung erfolgen. § 66 Abs. 3 Satz 1 NBauO gelte auch für den Fall, dass die Erteilung einer Genehmigung – wie hier – nach §§ 4, 13, 19 BImSchG von der Abweichungsgestattung abhänge. Hiergegen habe der Beklagte verstoßen, indem er die Abweichung durch gesonderten Bescheid ausgesprochen habe.

Die Klägerin sei dadurch aber nicht in eigenen Rechten verletzt, weil § 66 Abs. 3 Satz 1 NBauO keinen Drittschutz zugunsten von abweichungsbetroffenen Nachbarn wie der Klägerin entfalte. Dies wiederum wurde damit begründet,

„dass allein ein Verstoß gegen § 13 BImSchG bzw. gegen den immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsvorbehalt gerade nicht dazu führt, dass ein Dritter die Aufhebung eines Verwaltungsakts (z.B. eine separat erteilte Befreiung) allein mit der Begründung verlangen kann, es hätte diesen gesonderten (Befreiungs-)Bescheid aufgrund von § 13 BImSchG bzw. des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsvorbehalts nicht geben dürfen; um die Aufhebung des gesonderten Bescheids verlangen zu können, muss der Dritte vielmehr (zusätzlich) in seinen eigenen materiellen Rechten verletzt sein (s. nur BVerwG, Urt. v. 20.08.2008 - 4 C 11/07, juris Rn. 41 sowie Urt. v. 05.10.1990 - 7 C 55/89 u.a., juris Rn. 22; dem folgend OVG Lüneburg, Beschl. v. 01.08.2011 - 12 LA 297/09, juris Rn. 7, st. Rspr., zuvor etwa auch Urt. v. 18.05.2007 - 12 LB 8/07, juris Rn. 48). Dieser Rechtsgedanke gilt entsprechend für einen Verstoß gegen § 66 Abs. 3 Satz 1 NBauO.

Mangels drittschützender Wirkung von § 66 Abs. 3 Satz 1 NBauO bleibt Nachbarn wie der Klägerin, die von gesonderten Abweichungsentscheidungen unter Verstoß gegen § 66 Abs. 3 Satz 1 NBauO betroffen sind, nur die Möglichkeit, die Kommunalaufsichtsbehörde auf den Rechtsverstoß aufmerksam zu machen.“

Der Bescheid vom 26. Januar 2017 sei schließlich auch materiell rechtmäßig, insbesondere ermessensfehlerfrei ergangen.

Allgemeine Ermessensfehler wie ein Ermessensausfall, das Einbeziehen nicht sachgerechter Kriterien oder das Ausgehen von unzutreffenden tatsächlichen oder rechtlichen Annahmen sind nicht ersichtlich. Im Wesentlichen fordert § 66 Abs. 1 Satz 1 NBauO aber eine Abwägung zwischen den Abweichungsinteressen sowie den nachbarlichen und öffentlichen Interessen an der uneingeschränkten Einhaltung des öffentlichen Baurechts (so jüngst nach umfassender Begründung OVG Lüneburg, Urt. v. 27.06.2018 – 1 LC 183/16, juris Rn. 66). Der Beklagte hat das Ermessen im Einklang mit diesen Anforderungen ausgeübt, indem er mögliche Folgen des Vorhabens für die Klägerin und die Vorteile für die Allgemeinheit sowie für den Beigeladenen berücksichtigt hat. Angesichts des Umstands, dass schützenswerte Interessen der Klägerin nicht ersichtlich sind, ist es nicht zu beanstanden, dass er die Abweichung im öffentlichen Interesse an einer möglichst effizienten Ausnutzung der erneuerbaren Energien sowie unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Interessen des Beigeladenen zugelassen hat, der in die erneuerbaren Energien investiert.

II.

Gegen die Richtigkeit dieser das Urteil jeweils selbständig tragenden Erwägungen bestehen aus den von der Klägerin noch hinreichend dargelegten Gründen ernstliche Zweifel i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, so dass sich eine Auseinandersetzung mit ihrem weiteren Zulassungsvorbringen erübrigt.

1.Denn die Klägerin hat unter II 1. c) der Begründung ihres Zulassungsantrages dargelegt, dass die vom Verwaltungsgericht wohl als maßgeblich angesehene Bestimmung des § 66 Abs. 3 Satz 1 NBauO ihr Drittschutz vermittele. Dadurch solle nämlich auch für sie als Nachbarin das Verfahren übersichtlich und rechtssicher gestaltet und verhindert werden, dass „isolierte Entscheidungen ergehen, die in [gemeint ist wohl: bei] der Gesamtbetrachtung des Vorhabens aus anderen Gründen überflüssig wären“. Aus der vom Verwaltungsgericht zitierten Rechtsprechung ergebe sich keine andere Bewertung. Es sei gerade ein Fall gegeben, in dem drittschützendes, materielles Recht durch Verfahren abgesichert werde, hier nämlich zumindest die umfassende Betrachtung aller (späteren) Genehmigungsvoraussetzungen im Rahmen des Ermessens.

Dass die vorbezeichneten Gründe der Übersichtlichkeit und Rechtssicherheit sowie die damit verbundene Vermeidung einer möglichen Mehrzahl von Verfahren für einen Drittschutz zugunsten von Nachbarn wie der Klägerin sprechen (vgl. ergänzend Wasielewski, in: Führ (Hrsg.), GK-BImSchG, 2019, § 13, Rn. 23), hat zutreffend bereits das Verwaltungsgericht selbst auf Seite 10 der Urteilsbegründung ausgeführt; zu ergänzen ist, dass sich so auch die andernfalls, d. h. bei „auskonzentrierten“ Teilentscheidungen erforderliche Abgrenzung des jeweiligen Genehmigungsgegenstandes erübrigt.

Soweit das Verwaltungsgericht auch für die vorliegende Fallgestaltung der zitierten Rechtsprechung u. a. des Senats eine abweichende Einschätzung entnommen hat, überzeugt dies nicht. Wie das Verwaltungsgericht mit der Differenzierung (auf S. 10 zu Beginn des letzten Absatzes) zwischen dem immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsvorbehalt einerseits und der (immissionsschutzrechtlichen) Konzentrationswirkung andererseits wohl selbst erkannt hat (vgl. ergänzend Seibert, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand: 89. EL Februar 2019, § 13 BImSchG, Rn. 55a), betrafen diese Entscheidungen nämlich jeweils Fälle, in denen umstritten war, ob statt einer baurechtlichen eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung bzw. ob vor Erteilung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung u. a. eine Öffentlichkeitsbeteiligung erforderlich gewesen wäre (vgl. aber auch BVerwG, Beschl. v. 23.11.2010 - 4 B 37/10 -, juris, Rn. 6); es handelte sich jedoch jeweils um umfassende „Voll(end)genehmigungen“. Dementsprechend hat der Senat sowohl in seinem Urteil vom 18. Mai 2007 (- 12 LB 8/07 -, juris, Rn. 48) als auch in seinem Beschluss vom 1. August 2011 (- 12 LA 297/09 -, juris, Rn. 7) jedenfalls dem Wortlaut nach jeweils einen Drittschutz (nur) des „Genehmigungsvorbehalts nach § 4 BImSchG“ und nicht der Konzentrationswirkung (nach § 13 BImSchG) verneint. Zu der hier entscheidenden Frage, ob eine unter Verstoß gegen eine gesetzliche Konzentrationswirkung vorab erteilte, bewusst „auskonzentrierte“ Teilgenehmigung Verfahrensrechte des Nachbarn verletzen kann, verhalten sich die Entscheidungen demnach nicht, zumindest nicht ausdrücklich.

Ob der Rechtsgedanke der Entscheidungen gleichwohl (erweiternd) auf einen Verstoß gegen die (mit dem immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsvorbehalt verbundene, mit ihm aber nicht identische) Konzentrationswirkung zu übertragen ist, weil etwa eine ähnliche Wirkung durch einen (rechtmäßigen) Vorbescheid nach § 9 BImSchG hätte erreicht werden können, ist nicht im Zulassungsverfahren zu klären.

Da das Verwaltungsgericht tragend auf einen Verstoß gegen den keinen Drittschutz vermittelnden § 66 Abs. 3 Satz 1 NBauO abgestellt und sich die Klägerin als Zulassungsantragstellerin hiermit auseinandergesetzt hat, steht einem Erfolg des Antrags nicht entgegen, dass die Vorschrift hier ohnehin nicht anwendbar gewesen, sondern durch § 13 BImSchG verdrängt worden sein dürfte (vgl. Seibert, a. a. O., Rn. 34, 41; Giesberts, in: BeckOK Umweltrecht, Stand: 1.4.2019, § 13 BImSchG, Rn. 3). Denn inhaltlich stellt sich bezogen auf den – im Übrigen auch vom Verwaltungsgericht angeführten – § 13 BImSchG die eben aufgeworfene Frage nach dem Drittschutz der dadurch vorgeschriebenen (generellen) Konzentrationswirkung in mindestens der gleichen Weise wie bezogen auf § 66 Abs. 3 Satz 1 NBauO.

Ob bei einem Verstoß gegen § 13 BImSchG gar von einer Nichtigkeit der „auskonzentrierten“ Teilentscheidung auszugehen ist (so wohl Rebentisch, in: Feldhaus, Immissionsschutzrecht, § 13 BImSchG, Rn. 35 ff., a. A. Seibert, a. a. O., Rn. 51, jeweils m. w. N.), muss nicht geklärt werden.

2.Unabhängig hiervon bestehen aus den von der Klägerin im Kern bereits unter II. 1. c) und dann unter II. 2. ihrer Begründungsschrift noch einmal gesondert und vertieft dargelegten Gründen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils auch insoweit, als das Verwaltungsgericht mit der zuvor zitierten weiteren Begründung von einer ermessensfehlerfreien Entscheidung des Beklagten ausgegangen ist.

Denn ermessenfehlerhaft ist ein Verwaltungsakt, der wesentliche Gesichtspunkte außer Acht lässt oder gar bewusst für unerheblich erklärt, die zu berücksichtigen sind (vgl. nur Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl., § 114, Rn. 12 a. E., m. w. N.).

Die Klägerin weist zu Recht darauf hin, dass bei der gesetzlich vorgegebenen gemeinsamen Entscheidung über die Genehmigung und die Abweichung überhaupt nur dann ein Anlass besteht, eine Abweichung zuzulassen, wenn im Übrigen die Genehmigungsvoraussetzungen gegeben sind; andernfalls würde die Genehmigung schlicht abgelehnt. Zum gesetzeskonformen Prüfprogramm für die Erteilung einer Abweichung nach § 66 NBauO gehört daher die Prüfung, ob im Übrigen die Genehmigungsvoraussetzungen gegeben sind. Dieser Prüfung hat sich der Beklagte hier jedoch bewusst entzogen. Nach Aktenlage dürfte sie im Übrigen schon im Hinblick auf den gegenüber weiteren „Nachbarn“ nicht eingehaltenen Grenzabstand sowie die bislang nicht gesicherte Erschließung (bis heute) zum Nachteil des Beigeladenen ausgehen.

Da der Beklagte gerade keine isolierte, vorgezogene Entscheidung über eine Abweichung treffen darf, kann er sich auch nicht erfolgreich darauf berufen, dass in diesem vorgezogenen Zeitpunkt überhaupt noch nicht absehbar sei, ob im Übrigen die Genehmigungsvoraussetzungen gegeben seien (werden), und dass bei diesem gesetzlichen Prüfprogramm eine vorgezogene Entscheidung sinnwidrig sei. Deutlich wird dies auch bei einem Vergleich mit der am ehesten für die vorliegende Interessenlage rechtlich vorgesehenen Entscheidungsvariante (vgl. zu Bauordnungsrecht: BeckOK Bauordnungsrecht BW/Gassner, Stand Mai 2018, § 56 BWLBO, Rn. 17), dem Erlass eines immissionsrechtlichen Vorbescheides nach § 9 BImSchG. Denn er enthält über die abschließende Feststellung hinaus zwingend auch eine positive vorläufige Gesamtbeurteilung der Anlage (vgl. nur Jarass, BImSchG, 12. Aufl., § 9, Rn. 11 f, m. w. N.).

Da § 66 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 NBauO den Erlass der Abweichung materiell-rechtlich an die „Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange“ knüpft, ist auch nicht ersichtlich, dass sich die Klägerin als Nachbarin auf den zuvor bezeichneten Ermessensmangel nicht erfolgreich berufen kann.

Das Zulassungsverfahren wird deshalb unter dem neuen Aktenzeichen

12 LB 104/19

als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO). Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, oder Postfach 2371, 21313 Lüneburg, oder in elektronischer Form nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig (§ 124a Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 6 VwGO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).