Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.06.2021, Az.: 1 LA 85/21

Betrieb; Gaststätte; Gastwirtschaft; Gebiet; Gebietsversorgung; Kapazität; Konkurrenz; Laden; Nachfrage; Versorgung; Wettbewerb; Wohngebiet

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.06.2021
Aktenzeichen
1 LA 85/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 71194
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 10.03.2021 - AZ: 4 A 4555/20

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der Beurteilung, ob ein neuer Betrieb der Versorgung des Gebiets im Sinne von § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO dient, kommt es nicht darauf an, ob die gebietsbezogene Nachfrage bereits durch im Gebiet bestehende Betriebe befriedigt wird.

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 10. März 2021 wird verworfen.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zulassungsverfahren auf 15.000 EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unzulässig, weil er nicht fristgerecht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise begründet worden ist. Wird die Berufung - wie in diesem Fall - nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so sind nach der vorgenannten Bestimmung innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. An den Klägervertreter zugestellt wurde das Urteil am 29. März 2021, sodass die gesetzliche und daher nicht zu verlängernde Begründungsfrist am 31. Mai 2021, einem Montag, endete. Bis zu diesem Zeitpunkt lag dem Senat keine ordnungsgemäße Begründung vor.

Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist gemäß § 60 Abs. 1 VwGO ist dem Kläger nicht zu gewähren, weil sein Bevollmächtigter nicht ohne dem Kläger gemäß § 173 Satz i.V. mit § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden verhindert war, die Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO einzuhalten. Dabei kann offenbleiben, ob eine unvollständige Verwaltungsakte in Bezug auf die Zulassungsbegründung überhaupt geeignet sein kann, eine Säumnis zu rechtfertigen. Akteneinsicht hat der Bevollmächtigte des Klägers ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 17. Mai 2021, mithin zwei Wochen vor Ablauf der Begründungsfrist, erhalten. Offenbar sogleich ist ihm auch aufgefallen, dass die Akte unvollständig war; eine entsprechende Nachfrage gegenüber dem Verwaltungsgericht Hannover erfolgte am 18. Mai 2021. Das Verwaltungsgericht antwortete mit elektronischer Mitteilung am 21. Mai 2021, dass eine Angabe an das Oberverwaltungsgericht erfolgt sei und Rückfragen dorthin zu richten seien. Eine solche Rückfrage, die zehn Tage vor Ablauf der Begründungsfrist möglich war und zu einer sofortigen Aktenübersendung durch den Senat geführt hätte, ist jedoch erst - verbunden mit einem unzulässigen Antrag auf Fristverlängerung - am Tag des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist erfolgt. Das war zu spät, um darauf noch reagieren zu können. Das diesbezügliche Versäumnis begründet ein Verschulden des Bevollmächtigten, das dem Kläger zur Last fällt.

Kommt es demzufolge auf den Schriftsatz vom 31. Mai 2021 an, erfordert eine hinreichende Darlegung nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, dass in der Begründung des Zulassungsantrags im Einzelnen unter konkreter Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ausgeführt wird, weshalb der benannte Zulassungsgrund erfüllt sein soll. Zwar ist bei den Darlegungserfordernissen zu beachten, dass sie nicht in einer Weise ausgelegt und angewendet werden, welche die Beschreitung des eröffneten (Teil-)Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.5.2018 - 2 BvR 287/17 -, juris Rn. 41 mit weiteren Nachweisen zur ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Erforderlich sind aber qualifizierte, ins Einzelne gehende, fallbezogene und aus sich heraus verständliche, auf den jeweiligen Zulassungsgrund bezogene und geordnete Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 8.1.2019 - 13 LA 401/18 -, juris Rn. 7 m.w.N.).

Diesen Anforderungen genügen die kursorischen, vom Verfahrensbevollmächtigten des Klägers (zu Recht) selbst nicht als abschließende Begründung angesehenen Ausführungen in seinem Schriftsatz vom 31. Mai 2021 nicht. Zwar werden dort die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel und der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 und 4 VwGO) der Sache nach bezeichnet. Die weiteren Ausführungen benennen indes nur schlagwortartig, unter welchen Mängeln das verwaltungsgerichtliche Urteil leiden soll.

Der - ohnehin nur ergänzenden („Hinzu kommt“) und das Urteil demzufolge nicht tragenden - Feststellung des Verwaltungsgerichts (S. 12 unten UA), dass sich im Umfeld nur eine geringe Anzahl von Gaststätten befinde, sodass das genehmigte Vorhaben für einen Großteil der Anwohner des Gebietes nicht nur die nächstgelegene, sondern auch die einzige fußläufig erreichbare Schank- und Speisewirtschaft darstelle, setzt der Kläger in seinem fristgerecht eingegangenen Schriftsatz vom 31. Mai 2021 lediglich entgegen, dass es „im relevanten Radius“ mindestens acht weitere Gaststätten gebe, die zu berücksichtigen seien. Dieser Vortrag gestattet es dem Senat schon mangels näherer Angaben nicht, die Feststellung des Verwaltungsgerichts einer ersten Überprüfung zu unterziehen.

Selbst wenn man den verspäteten Schriftsatz vom 17. Juni 2021 in die Betrachtung einbeziehen wollte, ergäbe sich keine andere Betrachtung. Richtig ist danach zwar, dass es im vom Verwaltungsgericht bestimmten Einzugsgebiet der Gaststätte des Beigeladenen sowie im näheres Umkreis weitere Gaststätten gibt. Rechtlich ist dies jedoch unerheblich. Maßgeblich für die Qualifizierung als gebietsbezogene Anlage sind nach der vom Verwaltungsgericht zutreffend wiedergegebenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts objektive Kriterien, wie insbesondere die Größe und sonstige Beschaffenheit der Anlage, die daraus sich ergebenden Erfordernisse einer wirtschaftlich tragfähigen Ausnutzung, die örtlichen Gegebenheiten und die - möglicherweise regional unterschiedlichen - typischen Verhaltensweisen in der Bevölkerung (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.1998 - 4 C 9.97 -, NVwZ 1999, 417 = juris Rn. 11). In Bezug zu setzen sind danach - vereinfacht ausgedrückt - die Kapazität der Gaststätte und die im Gebiet zu generierende Nachfrage. Bei der Betrachtung der örtlichen Gegebenheiten ist allerdings zu beachten, dass das öffentliche Baurecht nicht darauf abzielt, die Bestandbetriebe zu bevorzugen und die Ansiedlung neuer Betriebe zu verhindern. Ein faktischer Konkurrenzschutz für bestehende Gaststätten zu Lasten von Neuansiedlungen ist dem öffentlichen Baurecht fremd (zutreffend Fickert/Fiesler, BauNVO, 13. Aufl. 2019, § 2 Rn. 9.1 m.w.N., vgl. zum Konkurrenzschutz im öffentlichen Baurecht allgemein Senatsbeschl. v. 11.9.2019 - 1 MN 94/19 -, NordÖR 2019, 527 = juris Rn. 13 f.). Demzufolge kann dem Betrieb des Beigeladenen schon im Ausgangspunkt nicht entgegengehalten werden, die gebietsbezogene Nachfrage werde bereits von den Bestandsbetrieben befriedigt.

Im fristgerechten Vorbringen unsubstantiiert bleibt auch die Behauptung, der Beigeladene werbe stadtweit um gebietsfremde Gäste. Zudem legt der Antragsteller nicht dar, welche Auswirkungen eine derartige Werbung auf das vom Verwaltungsgericht als insofern maßgeblich angesehene genehmigte Betriebskonzept haben könnte, das nach den verwaltungsgerichtlichen Feststellungen nicht auf einen übergebietlichen Kundenkreis ausgerichtet ist (vgl. S. 13 UA). Bei der Überprüfung einer Baugenehmigung kommt es aber ausschließlich auf den genehmigten Betrieb an; eine etwaige Überschreitung ist unerheblich.

Unter Einbeziehung des verspäteten Schriftsatzes vom 17. Juni 2021 würde nichts Anderes gelten. Darin erläutert der Kläger zwar, dass der Beigeladene im Fahrgastfernsehen der städtischen Verkehrsbetriebe sowie zu den großen Messen Anzeigen im Messejournal schaltet und für seine Gaststätte wirbt. Auch insoweit fehlt jedoch die Darlegung, dass dies der Baugenehmigung entspricht. Im Übrigen gilt: Ist die Größe der Gaststätte - wie das Verwaltungsgericht dargelegt hat - im Verhältnis zur gebietsbezogenen Nachfrage angemessen dimensioniert, ist es mit Blick auf § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO unschädlich, wenn sich der Gastwirt ergänzend um darüberhinausgehende Kundschaft bemüht. Das gilt gerade hinsichtlich der von dem Beigeladenen angesprochenen Messekundschaft, die sich nur zu den großen Messen und damit zeitlich eng begrenzt in A-Stadt aufhält und damit für einen Gastronomiebetrieb allein ein - wenn auch attraktives - Zusatzgeschäft darstellen kann.

Die Divergenzrüge benennt schließlich lediglich eine aus Sicht des Klägers fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall; eine derartige Rechtsanwendung wäre aber in Ermangelung eines abweichenden Rechtssatzes schon im Ausgangspunkt ungeeignet, eine Divergenz zu begründen.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen beruht die Entscheidung auf § 162 Abs. 3 VwGO; diese Kosten sind nicht erstattungsfähig, weil sich der Beigeladene im Zulassungsverfahren nicht geäußert hat.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).