Landgericht Osnabrück
Urt. v. 18.09.2002, Az.: 2 O 1190/01
Kausalität eines ärztlichen Behandlungsfehlers für einen Schaden als Folge einer bestehenden Sicherheit hinsichtlich eines Schadenseintritts bei einer hypothetisch fehlerfreien Behandlung; Anforderungen an die Darlegungslast eines Patienten bezüglich eines behaupteten ärztlichen Aufklärungsfehlers
Bibliographie
- Gericht
- LG Osnabrück
- Datum
- 18.09.2002
- Aktenzeichen
- 2 O 1190/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 30436
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGOSNAB:2002:0918.2O1190.01.0A
Rechtsgrundlagen
- § 823 BGB
- § 847 Abs. 1 BGB
- § 141 ZPO
Amtlicher Leitsatz
Kein Schadensersatz wegen Nervenschädigung nach Entfernung eines Tumors
Tenor:
- 1.
Die Klage wird abgewiesen.
- 2.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
- 3.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Zahlung von Schmerzensgeld sowie um die Feststellung von materiellen und immateriellen Schadensersatzansprüchen.
Die Klägerin leidet an einer Neurofibromatose. Seit Januar 1999 bildeten sich im Bereich der medialen Seite ihres Unterschenkels eine taubeneigroße und auf der lateralen Seite des Unterschenkels eine kirschgroße tumoröse Anschwellung. Die Klägerin begab sich aus diesem Grund am 12.07.1999 in das Krankenhaus X , um dort die für eine Entfernung des o.g. Tumors notwendigen Voruntersuchungen durchführen zu lassen. Am 13.07.1999 um 16.00 Uhr erfolgte die stationäre Aufnahme in das Krankenhaus X. Nach dieser Aufnahme unterschrieb die Klägerin das Einwilligungsformular für den ärztlichen Eingriff. Am 14.07.1999 führte der Beklagte bei der Klägerin den chirurgischen Eingriff durch. Die Klägerin wurde am 24.07.1999 entlassen.
Die Klägerin wirft dem Beklagten einen Aufklärungs- und Behandlungsfehler vor. Dazu behauptet sie, dass der Beklagte bei ihr keine ordnungsgemäße Befunderhebung vor dem Eingriff am 14.07.1999 durchgeführt habe. So habe der Beklagte bei ihr diagnostiziert , dass der zu entfernende Tumor mit einer Sehne der Tibialisgruppe eng verbunden sei, obwohl es sich um einen Nerventumor gehandelt habe. Bei der Operation am 14.07.1999 habe der Beklagte aufgrund der falschen Befunderhebung ihren Schienbeinnerv (Tibialisnerv) beschädigt. Hätte der Beklagte die zutreffende Diagnose gestellt, hätte ihn diese bei der Operation vom 14.07.1999 zu einer anderen, insbesondere vorsichtigeren Vorgehensweise, die nicht zu einer Nervverletzung geführt hätte, veranlassen müssen. Infolge der Tibealisnervverletzung lägen bei ihr Dysästhesien im Fußbereich bis zur Großzehe vor. Des Weiteren leide sie unter erheblichen Schmerzen, die zum Abend stärker werden würden, und an Taubheitsgefühlen in den Zehen. Diese Beschwerden, die sich erst einige Zeit nach der Operation eingestellt hätten, seien auf den Eingriff vom 14.07.1999 zurückzuführen. Darüber hinaus sei sie durch den Beklagten über die Risiken der am 14.07.1999 durchgeführten Operation zu spät, nämlich am 13.07.1999 nach 16.00 Uhr, und in nicht vollständiger Form aufgeklärt worden. Insbesondere hätte es eines Hinweises auf eine mögliche Nervverletzung bedurft. Wäre sie ordnungsgemäß über das Operationsrisiko aufgeklärt worden, hätte sie sich für eine nicht operative Methode, z.B. eine Strahlentherapie, entschieden. Aufgrund der von ihr durch die Operation vom 14.07.1999 erlittenen Schmerzen und Beschwerden, hält die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 8.947,61 EUR für angemessen und erforderlich.
Die Klägerin beantragt,
- 1.
den Beklagten zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 4% Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
- 2.
festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihr alle materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr entstehen und die auf die Durchführung der Operation durch den Beklagten am 14. Juli 1999 in der Paracelsus-Klinik in Osnabrück beruhen, soweit diese Ansprüche nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder sonstigen Dritten übergehen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte behauptet, dass er die Klägerin in dem die Operation vorbereitenden Gespräch am 13.07.1999 auch auf mögliche Komplikationen hingewiesen habe. So habe er der Klägerin mitgeteilt, dass ein schwieriger Eingriff bevorstehe, bei welchem Verletzungen herauskommen könnten, mit denen man derzeit nicht rechne. Darüber hinaus vertritt der Beklagte die Auffassung, dass es auf eine ordnungsgemäße Aufklärung hinsichtlich etwaiger Nervverletzungen nicht ankomme, da die operative Entfernung des Neurinoms bei der Klägerin unvermeidbar gewesen sei und sie daher keine andere Wahl gehabt habe als dem Eingriff vom 14.07.1999 zuzustimmen. Weiter behauptet der Beklagte, dass er bei dem Eingriff am 14.07.1999 bei der Klägerin nicht den Tibialisnerv verletzt habe. Der Tumor sei bei der Kläger zwar leicht adhärent, aber stumpf gut ablösbar gewesen. Der Tumor habe nicht geschnitten, getrennt oder abgelöst werden müssen; er sei ihm vielmehr "gleichsam in die Hände gefallen". Die von der Klägerin geäußerten Beschwerden seien bereits deshalb nicht auf den Eingriff zurückzuführen, da diese erst ca. 6 Wochen nach der Operation aufgetreten seien. Nervverletzungen hätten jedoch den sofortigen Eintritt von Schmerzen zur Folge gehabt. Vielmehr habe der Druck, der vom Tumor und dessen stetiger Vergrößerung ausgegangen sei, zu den von der Klägerin behaupteten Beschwerden geführt.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens und durch Einvernahme eines Zeugen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme und des übrigen Vorbringens der Parteien wird auf den Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld und auch nicht auf die begehrte Feststellung. Solche Ansprüche ergeben sich weder aus §§ 823, 847 Abs. 1 BGB noch, soweit es die Geltendmachung von materiellem Schadensersatz betrifft, aus einer positiven Vertragsverletzung eines zwischen der Klägerin und dem Beklagten geschlossenen Behandlungsvertrages.
Eine Ursächlichkeit zwischen einem Behandlungsfehler des Beklagten während der Operation vom 14.07.1999 und der von der Klägerin behaupteten Nervverletzung und den dadurch hervorgerufenen Beschwerden - Dysästhesien, erhebliche Schmerzen und Taubheitsgefühl in den Zehen - ist nicht gegeben. An der Ursächlichkeit eines Behandlungsfehlers für einen Schaden fehlt es, wenn feststeht, dass der Schaden aus einer anderen Verursachungskette in Ausprägung und Zeitpunkt auch bei einer hypothetisch fehlerfreien Behandlung in entsprechender Weise eingetreten wäre (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Teil B, Rn. 195). Für diese Voraussetzungen trägt die Behandlungsseite die Beweislast (vgl. Geiß/Greiner a.a.O., Rn. 230). Eine solche sog. Reserveursache liegt hier vor, da es zur Überzeugung der Kammer feststeht, dass bei einer anderen Diagnostik oder anderen Operationsmethode, z.B. unter mikrochirurgischen Bedingungen, die von der Klägerin beklagte Nervverletzung und die sich daraus ergebenden Beschwerden ebenfalls eingetreten wären. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. N. vom 21.10.2001 in Verbindung mit seinen schriftlichen Ergänzungsgutachten sowie seinen Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung vom 21.08.2002. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass der Beklagte bei der Klägerin während der Operation am 14.07.1999 ein Neurinom entfernt habe. Bei einer solchen Tumorextirpation würden zwangsläufig Nervenfasern verletzt werden, da das Neurinom mit einer oder mehreren Nervenfasern verbunden sei. Um das Risiko einer Nervschädigung auf ein Minimum zu reduzieren, sei es nach heutigen Erkenntnissen erforderlich, den Tumor unter mikrochirurgischen Bedingungen, d.h. mindestens mit einer Lupenbrille, wenn nicht sogar unter dem Mikroskop, herauszupräperieren, um möglichst wenig von den betroffenen Nervenfasern des Gesamtnervs zu verletzen. Um Verletzungen zu vermeiden sei es weiter notwendig, dass bei einem derartigen Tumor unklarer Dignität das Operationsfeld ausreichend groß dargestellt, der Tumor bezüglich seiner Herkunft lokalisiert und sodann entsprechend der Lokalisation der weitere Eingriff geplant werde. Diese Operationsmethode habe der Beklagte nicht gewählt, sondern die relativ grobe Präparationsart der stumpfen Präparation, bei der einzelne Nervenfasern mit dem bloßen Auge kaum isoliert dargestellt werden könnten. Der Sachverständige führt weiter aus, dass jedoch auch bei der mikrochirurgischen Operationsmethode und einer Ausweitung des Operationsfeldes ein Nervschaden und die dadurch verursachten Beschwerden, wie sie von der Klägerin und dem Zeugen H. dargelegt worden seien, in jedem Fall eingetreten wären. Zwar sei bei der mikrochirurgischen Vorgehensweise das Risiko einer Nervverletzung verringert; daraus könne aber nicht geschlossen werden, dass bei Anwendung der mikrochirurgischen Operationstechnik eine Nervenschädigung ausgeblieben wäre. Dies ergebe sich bereits daraus, dass bei einer Tumorexstirpation unabhängig von der Operationsmethode zwangsläufig Nervenfasern verletzt werden würden, so dass es sowohl bei der einen als auch bei der anderen Methode zu Nervschädigungen komme. Das Gericht folgt den in sich schlüssigen, letztendlich widerspruchsfreien und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen. Der Sachverständige hat sich mit den zur Akte gereichten ärztlichen Unterlagen, dem außerprozessual erstellten Gutachten und den gegen seine Ausführungen vorgebrachten Einwendungen der Parteien ausführlich auseinandergesetzt. Bei der Würdigung der Ausführungen des Sachverständigen hat die Kammer nicht unbeachtet gelassen, dass der Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten zunächst von einem Neurom, welches der Klägerin entfernt worden sein soll, gesprochen und erst in seinen späteren Ausführungen klargestellt hat, dass bei der Klägerin ein Neurinom vorgelegen hat. Insofern hat der Gutachter darauf verwiesen, dass er die Diagnose "Entfernung eines Neuroms" aus dem Arztbericht des Arztes H. übernommen habe. Diese Ungenauigkeit hat jedoch keinen Einfluss auf die Ausführungen des Sachverständigen bzgl. einer Nervverletzung bei der Entfernung eines Neurinoms. Denn es ist für die Kammer ohne Weiteres nachvollziehbar, dass ein Neurinom mit Nerven verbunden ist und dementsprechend bei einer Abtrennung des Neurinoms Nerven verletzt werden. Dementsprechend kann dem Sachverständigen auch darin gefolgt werden, dass bei einer mikrochirurgischen Vorgehensweise zwar das Risiko einer Nervverletzung reduziert ist, aber in einem Umfang, in dem es sich bei der Klägerin realisiert hat, weiterhin besteht. Letztlich hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 21.08.2002 auch keine Einwendungen mehr gegenüber den dort gemachten Ausführungen des Sachverständigen erhoben.
Die Klägerin kann die von ihr geltend gemachten Ansprüche auch nicht darauf stützen, dass sie angeblich von dem Beklagten vor dem Eingriff am 14.07.1999 nicht über die Möglichkeit einer Nervschädigung aufgeklärt worden ist. Denn eine Haftung eines Arztes wegen eines Aufklärungsfehlers setzt unter anderem die Darlegung des Patienten voraus, dass er - der Patient - sich bei einer aus seiner Sicht ordnungsgemäßen Aufklärung über die Folgen der ärztlichen Behandlung in einem Entscheidungskonflikt befunden hätte (vgl. BGH NJW 1984, Seite 1397). Diese Ausführungen der Klägerin zu einem Entscheidungskonflikt sind erforderlich, da der Beklagte den Einwand der hypothetischen Aufklärung erhoben hat (vgl. BGH VersR 1994, S. 1302 [BGH 14.06.1994 - VI ZR 260/93]; VersR 1996, S. 1239). Der Beklagte hat insofern vorgetragen, dass die Entfernung des Neurinoms unvermeidbar gewesen sei und die Klägerin aus diesem Grund keine andere Wahl gehabt habe als der Operation vom 14.07.1999 zuzustimmen. Hinsichtlich eines Entscheidungskonfliktes ist von der Patientin vorzutragen, in welcher persönlichen Entscheidungssituation sie sich bei vollständiger ordnungsgemäßer Aufklärung befunden hätte und ob sie diese Aufklärung ernsthaft vor die Frage gestellt hätte, ihre Einwilligung zu erteilen oder nicht (vgl. OLG Oldenburg NJW - RR 2000, S. 23 [OLG Oldenburg 30.03.1999 - 5 U 167/98]; OLG Stuttgart NJW - RR 2000, S. 904 [OLG Stuttgart 20.07.1999 - 14 U 1/99]). Eine diesen Voraussetzungen genügende Darlegung seitens der Klägerin ist jedoch nicht erfolgt, auch nicht in der mündlichen Verhandlung vom 21.08.2002, in welcher die Klägerin anwesend war und gem. § 141 ZPO angehört worden ist. Die Klägerin hat zwar zunächst schriftsätzlich vorgetragen, dass sie sich bei einer ordnungsgemäßen Aufklärung hinsichtlich des Operationsrisikos für eine nicht operative Methode, z.B. eine Strahlentherapie, entschieden hätte. Der Sachverständige hat aber in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass die am 14.07.1999 durchgeführte Operation absolut indiziert gewesen sei. Aufgrund dieser gutachterlichen Ausführungen sind der Klägerin in der mündlichen Verhandlung die absolute Indikation der Operation sowie die möglichen Folgen bei Durchführung der Operation und bei Nichtdurchführung der Operation erläutert worden. Die Klägerin konnte nach Überzeugung der Kammer auf diese Erläuterungen hin nicht plausibel darlegen, dass sie sich bei einer solchen ordnungsgemäßen Aufklärung durch den Beklagten vor der Operation am 14.07.1999 in einem ernsthaften Entscheidungskonflikt befunden hätte. Denn die Klägerin hat auf die obigen Ausführungen des Gerichts lediglich erklärt, dass sie darauf schlecht eine Antwort geben könne. Insbesondere unter Berücksichtigung der Darstellung des Sachverständigen, dass hinsichtlich der Operation vom 14.07.1999 eine absolute Indikation bestanden habe, können diese Ausführungen der Klägerin in keiner Weise als ein ernsthafter Entscheidungskonflikt angesehen werden. Im Übrigen wäre ein von der Klägerin dargelegter Entscheidungskonflikt nicht nachvollziehbar gewesen, da der Eingriff absolut indiziert war und die Klägerin sich ausweislich des von ihr vorgelegten Sozialmedizinischen Gutachtens vom 02.08.2000 bereits in der Vergangenheit mehrfach - erfolgreich - Operationen wegen der bei ihr bestehenden Neurofribromatose unterzogen hat. Dementsprechend wäre es nicht verständlich, wenn ein Hinweis auf etwaige Nervverletzungen die Klägerin vor die Wahl gestellt hätte, ihre Zustimmung zu der Operation vom 14.07.1999 zu erteilen oder nicht.
Letztlich kann die Klägerin auch aus dem Umstand, dass der Beklagte die Klägerin bezüglich der Operation vom 14.07.1999 erst am 13.07.1999 nach 16 Uhr aufgeklärt hat, keinen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz ableiten. Denn die Parteien haben in der mündlichen Verhandlung vom 21.08.2002 übereinstimmend angegeben, dass der Beklagte mit der Klägerin bereits zwei bis drei Tage vor dem 14.07.1999 über den Eingriff gesprochen habe. Dementsprechend erfolgte die Vorlage des Einwilligungsformulars am 13.07.1999 zur Operation für die Klägerin nicht überraschend; die Klägerin hatte vielmehr aufgrund des Vorgespräches ausreichend Zeit, um sich mit dem bevorstehenden Eingriff auseinanderzusetzen. Darüber hinaus war zu bedenken, dass die Klägerin sich am 14.07.1999 keinem für sie völlig unbekannten Eingriff unterzogen hat, da bei ihr aufgrund ihrer Neurofibromatose vor dem 14.07.1999 bereits mehrfach erfolgreich Operationen durchgeführt worden waren.
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO abzuweisen.