Landgericht Osnabrück
Urt. v. 23.10.2002, Az.: 2 O 1224/00

Feststellung materieller und immaterieller Schadensersatzansprüche aus einer ärztlichen Behandlung; Geltendmachung eines Schadensersatzanspruches aus positiver Vertragsverletzung (pVV); Verpflichtung eines Arztes zur Vornahme einer Stellungskorrektur im Rahmen der Therapie einer Unterarmgrünholzfraktur

Bibliographie

Gericht
LG Osnabrück
Datum
23.10.2002
Aktenzeichen
2 O 1224/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 30438
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGOSNAB:2002:1023.2O1224.00.0A

Tenor:

  1. 1.

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.

    Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits (einschließlich der Kosten des Berufungsverfahrens).

  3. 3.

    Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten um die Feststellung materieller und immaterieller Schadensersatzansprüche aus einer ärztlichen Behandlung.

2

Der am 04.11.1995 geborene Kläger wurde am 28.08.1999 wegen einer distalen, dislozierten und diaphysären Unterarmgrünholzfraktur links im Krankenhaus der Beklagten zu 2., in welcher der Beklagte zu 1. als Chefarzt tätig war, operiert. Die Ärzte der Beklagten zu 2. führten bei dem Kläger eine Reposition am Unterarm mit anschließender Ruhigstellung in Gipsform durch und entließen den Kläger nach einer Röntgenkontrolle wieder aus der stationären Behandlung. Am 30.08.1999 erschien der Kläger mit seiner Mutter erneut im Krankenhaus der Beklagten zu 2. Es wurde zunächst ein weiteres Röntgenbild gefertigt, welches keine Auffälligkeiten zeigte, und sodann bei dem Kläger der Gipsverband erneuert. Eine anschließende Röntgenkontrolle erfolgte am 30.08.1999 nicht. Am 06.09.1999 begab sich der Kläger mit seiner Mutter in die Sprechstunde des Beklagten zu 1., welcher eine weitere Röntgenaufnahme des linken Unterarms des Klägers veranlasste, die eine Fehlstellung der Knochen zeigte. Einen vereinbarten Wiedervorstellungstermin am 10.09.1999 nahm der Kläger nicht wahr. Vielmehr suchte der Kläger am 14.09.1999 mit seiner Mutter die orthopädische Abteilung der Beklagten zu 2. auf. Die Ärzte der orthopädischen Abteilung der Beklagten zu 2. bestätigten die Fehlstellung des Unterarmes. Eine Korrektur dieser Fehlstellung erfolgte bis heute nicht.

3

Der Kläger wirft den Beklagten ärztliche Behandlungsfehler vor. Dazu behauptet er, dass nach dem ersten Verbandswechsel am 30.08.1999 die Stellung seiner Ulna nach dem erneuten Anlegen des Verbandes durch die Fertigung eines Röntgenbildes hätte kontrolliert werden müssen. Der Einsatz des bildgebenden Verfahrens vor dem Verbandswechsel sei nicht ausreichend gewesen. Wäre ein Röntgenbild nach dem erneuten Anlegen des Verbandes gefertigt worden, hätte die Fehlstellung seines Unterarmes erkannt und unproblematisch korrigiert werden können. Als am 06.09.1999 die Fehlstellung seines Unterarmes festgestellt worden sei, wäre eine Stellungskorrektur des Unterarmes medizinisch sinnvoll und angezeigt gewesen. Auf die Möglichkeit einer solchen Stellungskorrektur sei jedoch seine Mutter nicht hingewiesen worden. Spätestens am 14.09.1999, dem Tag seiner Untersuchung in der orthopädischen Abteilung der Beklagten zu 1., hätte ein operativer Eingriff zur Korrektur der Fehlstellung erfolgen müssen. Zu einem Zeitpunkt nach dem 14.09.1999 sei eine Korrektur der Fehlstellung wegen der fortgeschrittenen knöchernden Verheilung nicht mehr möglich gewesen. Es sei nicht zu erwarten, dass sich die Fehlstellung seines Unterarmes "auswachse", so dass in der Zukunft erhebliche Beeinträchtigungen und Schäden zu erwarten seien, selbst wenn er auch zur Zeit noch nicht in außergewöhnlicher Weise durch die Fehlstellung beeinträchtigt sei.

4

Der Kläger beantragt,

festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm alle materiellen und immateriellen Schäden zu erstatten, die er infolge der ärztlichen Behandlung in der Zeit vom 28.08.1999 bis zum 06.09.1999 noch erleidet.

5

Die Beklagten beantragen,

die Klage abzuweisen.

6

Die Beklagten behaupten, dass sich zwar bei der Röntgenkontrolle am 06.09.1999 ein grenzwertiger Befund hinsichtlich der Fehlstellung ergeben habe. Der einschlägigen Fachliteratur sei jedoch zu entnehmen, dass auch deutlich stärkere Fehlstellungen bei Kleinkindern toleriert werden und demgegenüber Repositionen häufig Auslöser von Falschgelenkbildungen sein könnten. Aufgrund des noch zu erwartenden Wachstums des Klägers sei auch ein Ausgleich der Gradabweichung zu erwarten. Weil eine Stellungskorrektur aber möglicherweise doch noch hätte erforderlich werden können, sei eine Wiedervorstellung für den 10.09. vereinbart und die Mutter des Klägers auch über den Sinn und die Notwendigkeit des weiteren Termins aufgeklärt worden.

7

Das Gericht hat zunächst Beweis erhoben durch die Einvernahme von Zeugen und sodann durch Urteil vom 31.05.2001 die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht Oldenburg durch Urteil vom 30.10.2001 das Urteil vom 31. Mai 2001 aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Landgericht Osnabrück zurückverwiesen. Das erkennende Gericht hat anschließend weiter Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahmen und des übrigen Vorbringens der Parteien wird auf den Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

9

Der Kläger hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf die Feststellung von materiellen oder immateriellen Schadensersatzansprüchen. Solche Ansprüche ergeben sich weder aus den §§ 31, 823, 831, 847 BGB noch, soweit es die Geltendmachung von materiellen Schadensersatzansprüchen betrifft, aus einer positiven Vertragsverletzung in Verbindung mit § 278 BGB.

10

Der Kläger hat nicht bewiesen, dass dem Beklagten zu 1. oder den Ärzten der Beklagten zu 2. bei seiner Behandlung Fehler unterlaufen sind. Der Beklagte zu 1. und die Ärzte der Beklagten zu 2. waren nicht, insbesondere nicht am 06. und 14.09.1999, verpflichtet, beim Kläger eine Stellungskorrektur seines linken Armes durchzuführen oder eine solche Stellungskorrektur dem Kläger bzw. seinen Erziehungsberechtigten anzuraten. Dies ergibt sich aus dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. M. vom 29.04.2002. Der Sachverständige hat durch eigene Untersuchung bei dem Kläger eine sichtbare Fehlstellung des linken Unterarmes, eine endgradige Bewegungseinschränkung der Unterarmdrehung (sowohl für die Pro - als auch für die Supination) und radiologisch nachweisbare Veränderungen (Abweichung der Ulna und des Radius um ca. 25 Grad zur Streckseite, in der ap - Aufnahme eine Achsabweichung von 15 Grad der Ulna) festgestellt. Der Sachverständige führt dazu aus, dass spontane Korrekturen solcher Achsabweichungen im Verlauf des Wachstums des Menschen in allen drei Ebenen des Armes möglich seien. Das Korrekturpotential sei dabei abhängig vom Alter des Patienten, d.h. je jünger desto eher würden Fehlstellungen korrigiert, und von der Lokalisation der Fraktur, d.h. vom Wachstumspotential der jeweiligen nächstliegenden Wachstumsfuge. Grundsätzlich sei an der oberen Extremität das Korrekturpotential stark ausgeprägt, so dass es in die Primärtherapie miteinbezogen werden solle. Bei der Therapie des mittleren und proximalen Unterarmschaftes sei zu beachten, dass Achsabweichungen durch Wachstum nur bedingt korrigiert werden könnten. Hierbei sei besonders das Alter zu berücksichtigen, wobei die Altersgrenze zur Korrektur der Achsknicke in der Frontal - und Sagittalebene nach Auswertung entsprechender Literatur bei fünf Jahren liege. Ein weiteres entscheidendes Kriterium für die Therapie der proximalen und mittleren Untarmschaftfrakturen sei die Differenzierung zwischen stabiler und instabiler Fraktur. Als stabil würden die sogenannten Grünholzfrakturen gelten, wogegen vollständige Frakturen, bei denen die Corticalis allseits durchtrennt, disloziert und verkürzt sei, als instabil bezeichnet würden. Die Kombination einer Grünholzfraktur z.B. des Radius mit einer vollständigen (instabilen) Fraktur der Ulna gelte dabei noch als stabil. Im August 1999 habe bei dem damals 3 3/4 Jahre alten Kläger eine stabile (Grünholz) Fraktur vorgelegen. Nach geschlossener Reposition in Narkose habe die radiologische Kontrolluntersuchung eine achsengerechte Stellung gezeigt. Bei der weiteren Kontrolle am neunten Tag nach dem Unfall habe sich in beiden Ebenen eine Achsabweichung der Ulna und des Radius von 25 Grad gezeigt. Dieser Befund stelle einen Grenzbereich dar. In der ausgewerteten Literatur seien vergleichbare Fälle beschrieben, in denen hoffend auf die Korrekturkräfte des weiteren Wachstumsalters bei Kindern unter 5 Jahren die Kontrolluntersuchungen nach fünf und mehr Jahren - nach erneuter radiologischer Untersuchung - eine völlige Normalisierung und eine freie Beweglichkeit gezeigt hätten. Dementsprechend könne nach dem heute gültigen Stand der Wissenschaft und den eigenen Erfahrungen gesagt werden, dass eine - offene oder geschlossene - Reposition des Bruches am 06.09.1999 a priori nicht erforderlich gewesen sei, da bei Kindern unter 5 Jahren bei diaphysären Frakturen des Unterarmes auch bei Fehlstellungen in diesem Ausmaß das Korrekturpotential eine Normalisierung der Achsabweichungen erwarten lasse. Auch aufgrund der Untersuchung vom 14.09.1999 sei eine Stellungskorrektur des linken Unterarmes des Klägers nicht zwingend angezeigt gewesen. Die Röntgenbilder vom 14.09.1999 hätten ihm - dem Sachverständigen - zwar nicht vorgelegen; die in den ärztlichen Unterlagen angegebenen Fehlstellungsgerade des Unterarms hätten jedoch den von ihm gemessenen Werten auf den Röntgenaufnahmen vom 06.09.1999 entsprochen. Das Gericht folgt den schlüssigen, widerspruchsfreien und überzeugenden Ausführungen des Gutachters. Der Gutachter hat sich im hinreichenden Maße mit den zur Akte gelangen ärztlichen Unterlagen auseinandergesetzt und darüber hinaus den Kläger selbst untersucht. Des Weiteren ergibt sich aus dem Gutachten, dass der Sachverständige bei seiner Urteilsfindung nicht lediglich seine eigene Meinung, sondern ein breites wissenschaftliches Spektrum zugrunde gelegt hat. Der Sachverständige hat darüber hinaus deutliche Parameter - Wachstumsphase, Ort und Art des Bruches - aufgezeigt, aufgrund derer die Kammer die Entscheidung des Sachverständigen, warum in diesem Fall keine Stellungskorrektur zu erfolgen hatte, ohne Weiteres nachvollziehen konnte. Im Übrigen hat der Kläger das Gutachten auch nicht angegriffen. Gegen die Verwertung des Sachverständigengutachtens spricht nicht, dass die Beklagten nach ihrem eigenen Vortrag die Notwendigkeit einer Stellungskorrektur des Unterarmes des Klägers zumindest für möglich gehalten und die Mutter des Klägers entsprechend aufgeklärt haben. Denn es ist davon auszugehen, dass die Beklagten sich die Feststellungen des Sachverständigen auch ohne ausdrücklichen eigenen Vortrag zu Eigen machen, da es einem allgemeinen Grundsatz entspricht, dass sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zu Tage tretenden Umstände, soweit sie ihre Rechtsposition zu stützen geeignet sind, hilfsweise zu Eigen macht (vgl. BGH VersR 1991, S. 467).

11

Bei dieser Sach- und Rechtslage kann dahin gestellt bleiben, ob es am 30.08.1999 nach dem Verbandswechsel erforderlich war, eine neue Röntgenaufnahme zu fertigen und ob der Beklagte zu 1. oder die Ärzte der Beklagten zu 2. mit der Mutter des Klägers Wiedervorstellungstermine am 31.08. und 10.09.1999 vereinbart haben, um in diesen Wiedervorstellungsterminen Röntgenbilder zu fertigen und/oder die Notwendigkeit einer Stellungskorrektur des linken Armes des Klägers zu besprechen. Denn ausweislich des oben dargestellten Ergebnisses des Gutachtens hätten auch die in den Terminen vom 31.08. und 10.09.1999 gefertigten Röntgenbildern nicht zu dem objektiven medizinischen Ergebnis geführt, dass eine Stellungskorrektur des linken Unterarmes bei dem Kläger hätte durchgeführt werden müssen, da der Sachverständige eine solche Stellungskorrektur aufgrund des Alters des Klägers, der Art und des Ortes des Bruches nicht für erforderlich gehalten hat. Klarstellend weist die Kammer jedoch darauf hin, dass sie aufgrund der protokollierten Zeugenaussagen in den mündlichen Verhandlungen vom 22.03., 19.04. und 10.05.2001 weiterhin davon ausgeht, dass die Ärzte der Beklagten zu 2. mit der Mutter des Klägers für den 31.08.1999 einen weiteren Untersuchungstermin vereinbart haben, um eine erneute Röntgenaufnahme vom Unterarm des Klägers erstellen zu können. Des weiteren erachtet die Kammer es aufgrund der vorgenannten Beweisaufnahme für erwiesen, dass die Ärzte der Beklagten zu 2. die Mutter des Klägers anlässlich dessen Behandlung am 06.09.1999 auf eine möglicherweise erforderlich werdende Stellungskorrektur des Unterarmes des Klägers hingewiesen und aus diesem Grund mit der Mutter einen Wiedervorstellungstermin am 10.09.1999 vereinbart haben. Insofern wird auf die in dem Urteil vom 31.05.2001 vorgenommene Beweiswürdigung - soweit sie sich auf die protokollierten Zeugenaussagen stützt - Bezug genommen, von der abzuweichen die Kammer keine Veranlassung hat.