Landgericht Osnabrück
Urt. v. 23.11.2006, Az.: 5 O 1785/06

Anspruch auf Ersatz eines Unfallschadens gegen eine Gemeinde wegen der Verletzung öffentlich-rechtlicher Verkehrsregelungspflichten; Objektiv unrichtige Beschilderung einer Unfallstelle; Amtspflichtverletzung durch Schaffung einer unklaren Verkehrslage; Voraussetzungen und Wirkungen der Nebenintervention; Umfang der "tragenden Feststellungen" eines Ersturteils

Bibliographie

Gericht
LG Osnabrück
Datum
23.11.2006
Aktenzeichen
5 O 1785/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 31134
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGOSNAB:2006:1123.5O1785.06.0A

Redaktioneller Leitsatz

Hat eine Kommune nach Umwidmung einer früheren Bundesstraße in eine Gemeindestraße im Zuge der Rückbauarbeiten an einer Einmündung das Verkehrsschild "Vorfahrt gewähren" entfernt, ohne die Vorfahrtsberechtigung der früheren Bundesstraße entsprechend aufzuheben, haftet sie aus Amtspflichtverletzung für die Folgen eines Verkehrsunfalls, der darauf zurückzuführen ist, dass die Unfallbeteiligten aufgrund der unklaren Verkehrslage jeweils von ihrer Vorfahrtsberechtigung ausgegangen sind.

Tenor:

  1. 1.

    Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.250,04 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5% Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz gem. § 247 BGB seit dem 25.1.2006 sowie 102,37 EUR vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zu zahlen.

  2. 2.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

  3. 3.

    Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Klägerin nimmt die beklagte Stadt wegen der Verletzung ihrer öffentlich-rechtlichen Verkehrsregelungspflicht in Anspruch.

2

Am 30.1.2003 um 17.30 Uhr befuhr Herr Ralf S. mit dem im Eigentum der Klägerin stehenden Pkw Volvo, amtliches Kennzeichen ...., aus Richtung .... kommend in .... die G. Straße. In Fahrtrichtung des Herrn S. gesehen mündete rechts die S-Straße in die G. Straße ein. Aus der S-Straße kommend bog Herr G. mit seinem Pkw Lancia, amtliches Kennzeichen ..., nach links in die G. Straße ein. Im Einmündungsbereich kam es zur Kollision der beiden Fahrzeuge. Hierdurch ist der Klägerin ein Schaden in Höhe von 2.500,08 EUR entstanden. Diesen Schaden hat die Klägerin in den Rechtsstreiten 4c C 1168/04 Amtsgericht Bad Iburg bzw. 2 S 129/05 Landgericht Osnabrück und nach Zurückverweisung und erneuter Berufung 2 S 514/05 Landgericht Osnabrück ersetzt verlangt. In diesem Rechtsstreit hat die Klägerin der nunmehr beklagten Stadt den Streit verkündet. Diese ist dem Rechtsstreit nicht beigetreten. Letztlich hat das Landgericht Osnabrück den Unfallgegner unter dem Aktenzeichen 2 S 514/05 dazu verurteilt, an die Klägerin 1.250,04 EUR zu zahlen, mithin ihr die Hälfte des in Rede stehenden Schadens zu ersetzen.

3

Zur Begründung hat das Landgericht Osnabrück ausgeführt, dass an der Unfallstelle eine unklare Verkehrslage bestanden habe. Diese Beurteilung beruht auf den folgenden Umständen:

4

Bei der G. Straße handelt es sich um die - frühere - Bundesstraße ..., die nach Fertigstellung der Umgehungsstraße von einer Bundesstraße in eine Gemeindestraße umgewidmet worden war. Zum Unfallzeitpunkt war die G. Straße bereits teilweise zurückgebaut worden, jedoch nicht in dem von Herrn S. befahrenen Bereich. Die Rückbauarbeiten waren - aus der Gegenrichtung des Herrn S. gesehen - von dem Beginn der G. Straße bis zur Einmündung S-Straße, an der sich der Unfall ereignete, fortgeschritten. Die Asphaltdecke der G. Straße war dabei ebenso wie die Betonsteine durch verschiedenartige Pflastersteine ersetzt worden. Im Rahmen der Umbauarbeiten sind an der Einmündung der S-Straße in die G. Straße sämtliche vorfahrtsregelnden Verkehrszeichen entfernt worden. In dem von Herrn S. mit dem klägerischen Fahrzeug befahrenen Bereich, der bis zu der Einmündung S-Straße noch nicht zurückgebaut worden war, war die G. Straße hingegen noch durch Zeichen 401 als Bundesstraße und durch Zeichen 306 als Vorfahrtsstraße ausgewiesen. Diese Regelung ist im weiteren Verlauf nicht aufgehoben worden.

5

In seinem Urteil hat das Landgericht Osnabrück festgestellt, dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs auf Grund der Anordnung des Verkehrszeichens 306 ("Vorfahrtsstraße") Vorfahrt gehabt habe. Dies sei für den Unfallgegner jedoch nicht erkennbar gewesen; er habe davon ausgehen können, nach der Verkehrsregel "rechts vor links" Vorfahrt gehabt zu haben. § 10 StVO sei nicht einschlägig, da kein abgesenkter Bordstein vorgelegen habe. Die unklare Verkehrslage habe deshalb bestanden, weil für den aus der S-Straße kommenden Führer des Beklagtenfahrzeugs kein Schild "Vorfahrt gewähren" aufgestellt gewesen sei. Keinem der an dem Unfall beteiligten Verkehrsteilnehmer falle ein Verkehrsverstoß zur Last. Für die Unfallfolgen hätten mithin beide nach den Grundsätzen der Haftung aus Betriebsgefahr zu gleichen Teilen einzustehen.

6

Mit Schreiben vom 20.12.2005 ihres jetzigen Prozessbevollmächtigten hat die Klägerin den bisher nicht regulierten Schaden in Höhe von 1.250,04 EUR bei der Beklagten geltend gemacht. Diese hat die Leistung von Schadensersatz mit Schreiben vom 24.1.2006 verweigert.

7

Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte habe im Zuge der Rückbauarbeiten eine unklare Verkehrslage geschaffen, indem sie die Ausweisung der G. Straße als Vorfahrtsstraße beibehalten, an der Einmündung der S-Straße in die G. Straße jedoch kein Schild mit dem Verkehrszeichen 205 ("Vorfahrt gewähren") aufgestellt hat. Auf Grund der Interventionswirkung des Urteils im Verfahren 2 S 514/05 Landgericht Osnabrück stehe fest, dass den Fahrer des klägerischen Pkws kein Verschulden an dem in Rede stehenden Verkehrsunfall treffe. Mithin habe die Beklagte den Rest-Schaden der Klägerin vollumfänglich zu ersetzen.

8

Die Klägerin beantragt,

die beklagte Stadt zu verurteilen, an die Klägerin 1.250,04 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5% Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz des § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuches seit dem 25.1.2006 sowie 102,37 EUR vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zu zahlen.

9

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10

Sie ist der Auffassung, den Fahrer des klägerischen Pkws treffe ein erhebliches Mitverschulden an dem Zustandekommen des in Rede stehenden Unfalles. Er habe die G. Straße nämlich mit einer Geschwindigkeit von mindestens 40 - 50 km/h befahren, obwohl dort eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 20 km/h ausgeschildert gewesen sei. Auch habe er erkennen müssen, dass das Vorfahrtsschild offensichtlich keine Gültigkeit mehr entfaltet, da die Bundesstraße nur noch eine Gemeindestraße und im Rückbau befindlich war. Damit aber habe er erkennen müssen, dass die Vorfahrtsregelung nicht mehr für die gesamte Ortsdurchfahrt, sondern lediglich im Hinblick auf den noch nicht zurück gebauten Teil der Straße galt. Im übrigen habe sich die Klägerin die Betriebsgefahr ihres Fahrzeuges anrechnen zu lassen. Allein dies führte bereits dazu, dass sie 50% des ihr entstandenen Schadens selbst zu tragen habe, also kein Schadenersatzanspruch gegenüber der Beklagten (mehr) bestehe, nachdem sie von dem Unfallgegner bereits 50% ihres Schadens erstattet erhalten habe.

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Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird der Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze in Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist begründet.

13

Die Beklagte haftet der Klägerin wegen Verletzung ihreröffentlich-rechtlichen Verkehrsregelungspflicht nach § 839 BGB i. V. mit § 42 Abs. 2 StVO, Art. 34 GG für den durch den Verkehrsunfall vom 30.1.2003 in .... auf der G. Straße entstandenen Schaden.

14

Die Unfallstelle war objektiv unrichtig beschildert. Indem die Beklagte an der Einmündung der S-Straße in die G. Straße das Verkehrszeichen Nr. 306 stehen ließ, als sie an der Einmündung der S-Straße in die G. Straße die negative Beschilderung (Zeichen 205 "Vorfahrt gewähren") entfernte, hat sie gegen § 42 Abs. 2 StVO verstoßen. Den Verwaltungsvorschriften zu §§ 41, 42 StVO ist zu entnehmen, dass an jeder Kreuzung und Einmündung, an der für eine Straße durch Zeichen 306 eine Vorfahrtsberechtigung ausgeschildert ist, auf der anderen Straße das Zeichen 205 oder das Zeichen 206 angebracht werden müssen. Dieser Verpflichtung ist die Beklagte - unstreitig - nicht nachgekommen. Vielmehr hat sie an der S-Straße das Verkehrsschild Nr. 205 "Vorfahrt gewähren" entfernt, ohne die Vorfahrtsberechtigung der G. Straße aufzuheben. Hierdurch hat sie eine unklare Verkehrslage geschaffen, also eine Amtspflichtverletzung begangen.

15

Der in Rede stehende Verkehrsunfall ist auch hierauf zurückzuführen. Denn der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges hat der Beschilderung vertraut und seine Vorfahrtsberechtigung angenommen. Deshalb ist er in den Einmündungsbereich mit der S-Straße hineingefahren, wodurch es zu dem Verkehrsunfall kam.

16

Herrn S. selbst trifft kein Verschulden an dem Verkehrsunfall. Dies steht auf Grund der Interventionswirkung des Urteils im Verfahren 2 S 514/05 Landgericht Osnabrück fest. Der Beklagten ist in dem zwischen den Unfallgegnern geführten Rechtsstreit der Streit verkündet worden. Sie ist nicht beigetreten. Dementsprechend hat sie sich gemäß § 74 Abs. 1 ZPO wie ein Nebenintervenient behandeln zu lassen Gemäß § 68 Satz 1 ZPO stehen damit die tragenden Feststellungen des Ersturteils auch für diesen Rechtsstreit fest. Tragende Feststellungen sind die hinreichenden und notwendigen Bedingungen der Erstentscheidung (vgl. OLG Köln NJW-RR 92, 120). Was zu den "tragenden Feststellungen" des Ersturteils gehört, beurteilt sich mithin danach, worauf die Entscheidung objektiv beruht (BGHZ 157, 99 [BGH 27.11.2003 - V ZB 43/03]). Die Entscheidung des Landgerichts Osnabrück im Verfahren 2 S 514/05 beruht darauf, dass das Landgericht ein Verschulden der Unfallgegner ausgeschlossen hat. Haftungsgrundlage beider dortigen Parteien waren allein die Betriebsgefahren der am Unfall beteiligten Fahrzeuge. Diese seien - so das Landgericht auf Seite 4 seiner Entscheidung - "nicht durch Verkehrsverstöße des Zeugen S. und des Beklagten zu 1) erhöht worden". Damit steht auch für diesen Rechtsstreit bindend fest, dass den Fahrer des klägerischen Fahrzeuges kein Mitverschulden an dem Verkehrsunfall vom 30.1.2003 in ... trifft. Folglich ist zu Lasten der Klägerin in die vorzunehmende Abwägung der Verursachungsbeiträge allein die Betriebsgefahr ihres Fahrzeuges einzubringen. Diese wird durch den schuldhaften Verstoß der Beklagten gegen ihre Verkehrsregelungspflicht verdrängt, so dass die Beklagte der Klägerin den geltend gemachten Rest-Schaden in Höhe von 1.250,04 EUR vollumfänglich zu ersetzen hat. Darüber hinaus kann die Klägerin die Erstattung der hälftigen Kosten der außergerichtlichen Anwaltstätigkeit in Höhe von 102,37 EUR verlangen.

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Die Zinsentscheidung beruht auf §§ 286, 288 BGB.

18

Mit dem Ausgleich des Schadensersatzanspruchs in Höhe von 1.250,04 EUR befand sich die Beklagte auf Grund ihres ablehnenden Schreibens vom 24.1.2006 ab dem 25.1.2006 in Verzug.

19

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO.

20

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in § 709 Satz 1, Satz 2 ZPO.