Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 02.05.2000, Az.: 7 K 410/97 Ki
Kindergeld für volljähriges, türkisches Pflegekind ; Voraussetzungen der Anerkennung als Pflegekind
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 02.05.2000
- Aktenzeichen
- 7 K 410/97 Ki
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 21858
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2000:0502.7K410.97KI.0A
Fundstelle
- NWB DokSt 2001, 449
Tatbestand
Die Beteiligten streiten wegen der Nichtgewährung von Kindergeld für den Neffen des Klägers. Es geht im Kern um die Frage, ob trotz Volljährigkeit des Neffen ein Pflegekindschaftsverhältnis zum Onkel, dem Kläger, begründet worden ist.
Der Neffe des Klägers, M., wurde am 17. Oktober 1976 geboren und besitzt die türkische Staatsangehörigkeit. Er wohnt seit Mai 1995 beim Kläger und ist nach Ableisten eines Sprachkurses (Deutsch) seit dem Wintersemester 1996/97 als Student des Studienkollegs (T-Kurs) an der Fachhochschule Hannover eingeschrieben. Die vorgelegten Aufenthaltsberechtigungen aus 1995 und 1996 tragen folgende Hinweise: Nur zur Ableistung eines Praktikums/Studiums und Vorstudiums; Die Aufenthaltsgenehmigung erlischt mit Beendigung des beantragten Reisezweckes; Aufenthaltsbewilligung ... erlischt vorzeitig mit Beendigung des Deutsch-Kurses (bzw. mit der Beendigung des Technik-Kurses) an der Fachhochschule in Hannover oder der Nichtaufnahme eines Studiums. Erwerbstätigkeit nicht gestattet.
Der Kläger beantragte zunächst im November 1995 Kindergeld für seinen Neffen. Die diesbezüglich abschlägigen Bescheide des Beklagten, die noch auf dem damals geltenden Bundeskindergeldgesetz beruhten, sind nicht Gegenstand des Verfahrens. Im Oktober 1996 beantragte der Kläger - neben Kindergeld für seine drei leiblichen Kinder - erneut Kindergeld für seinen Neffen. Er teilte mit, dass die Eltern seines Neffen in der Türkei leben.
Mit Bescheid vom 13. Januar 1997 setzte der Beklagte das Kindergeld insoweit mit 0,00 DM fest und begründete dies mit Hinweisen auf § 63 Abs. 1 EStG und auf Ziffer 2 eines Merkblattes.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhebt der Kläger Klage und trägt im Wesentlichen vor: Er, der Kläger, habe von Ende 1974 bis 1977 seinen Militärdienst in der Türkei geleistet. 1976 habe er seine Frau kennengelernt und kurze Zeit danach geheiratet. Das Kind M. sei in dieser Zeit, im Jahr 1976, geboren worden. Schon seit dieser Zeit kümmerten sich der Kläger und seine Ehefrau um ihren Neffen weitüber ein Maß hinaus, wie es zwischen Neffe und Onkel bzw. Tanteüblicherweise der Fall sei. Nach seiner Rückkehr vom türkischen Militärdienst habe der Kläger von Deutschland aus steten fernmündlichen und schriftlichen Kontakt zu M. gehalten und ihn auch finanziell unterstützt. Insbesondere als der Neffe nach dem Schulabschluss studieren wollte, habe der Kläger dies durch finanzielle Zuwendungen ermöglicht. Auf Einladung des Klägers sei der Neffe 1995 nach Deutschland gekommen, um hier sein Studium fortzusetzen und die innige Beziehung zum Kläger und dessen Ehefrau zu vertiefen. Die Eltern des Neffen seien im Mai 1996 aus Deutschland abgeschoben worden, weil ein Asylantrag abgelehnt worden sei. Die Eltern des Neffen seien in der Türkei untergetaucht; untereinander bestehe kaum noch Kontakt. Der Neffe lebe im Haushalt des Klägers, werde dort trotz seiner Volljährigkeit streng erzogen, teile alles mit den leiblichen Kindern des Klägers, er werde wie ein leibliches Kind vom Kläger behandelt, die Kinder untereinander fühlten sich wie Geschwister, nicht wie Cousin und Cousinen. M. sei völlig in den Familienverband des Klägers eingebunden. Entsprechend werde der Neffe als Pflegekind auf der Lohnsteuerkarte des Klägers geführt. Auch über die AOK Hannover sei M. beim Kläger versichert.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 20. Juni 1997 den Kindergeldbescheid vom 13. Januar 1997 insoweit zu ändern, als für das Kind M. für die Zeit ab Oktober 1996 Kindergeld zu zahlen ist.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die beklagte Behörde verbleibt bei ihrer Ansicht, dass zwischen dem Kläger und seinem Neffen kein Pflegekindschaftsverhältnis besteht. Nach den vorliegenden Umständen bedürfe der volljährige M. keiner dauerhaften Pflege und Obhut durch den Kläger. Bei der Aufnahme von Volljährigen in den Haushalt sei nur unter besonderen Umständen ein Pflegekindschaftsverhältnis anzunehmen, weil Pflegeverhältnisse üblicherweise schon im Kindesalter begründet würden und bei Aufnahme von Volljährigen eine ideelle Dauerbindung die Ausnahme sein dürfte. Hier spreche insbesondere die Tatsache, dass der Neffe erst nach Vollendung seines 18. Lebensjahrs in den Haushalt des Klägers aufgenommen worden sei und zuvor nur zu seinen Eltern in einem Obhuts- und Pflegeverhältnis gestanden habe, gegen die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses. Der vom Kläger behauptete ständige enge Kontakt zu M. seit dessen Geburt begründe nicht automatisch eine besondere ideelle Dauerbindung zwischen dem Kläger und dem Neffen, sondern sei lediglich Ausdruck der verwandtschaftlichen Beziehung.
Dem Gericht hat die Kindergeldakte, die beim Beklagten geführt wird, vorgelegen.
Gründe
Die Klage hat Erfolg.
Der angefochtene Kindergeldbescheid ist rechtswidrig und war antragsgemäß zu ändern. Denn der Kläger hat Anspruch auf Kindergeld, weil zwischen ihm und seinem Neffen ein Pflegekindschaftverhältnis besteht.
Nach §§ 62, 63 Abs. 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG besteht auch für Pflegekinder Anspruch auf Kindergeld. Pflegekinder im Sinne dieser Vorschrift sind Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht und der Steuerpflichtige sie mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhält. Unter den Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG in Verbindung mit§ 32 Abs. 4 EStG können Kinder über die Vollendung des 18. Lebensjahrs hinaus kindergeldberechtigt berücksichtigt werden. Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a) EStG wird ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, berücksichtigt, wenn es noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat und für einen Beruf ausgebildet wird.
Nach diesen Vorschriften ist der Kläger kindergeldberechtigt. Denn der Kläger unterhält seinen Neffen, der zwischen 18 und 27 Jahre alt ist und für einen Beruf ausgebildet wird, als Pflegekind zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten.
Der Senat ist insbesondere davon überzeugt, dass der Kläger mit seinem Neffen durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist. Denn das Kind, dessen Eltern im Ausland weilen, ist auf die vom Kläger erhaltene menschliche und wirtschaftliche Hilfe für längere Zeit angewiesen. Der nach Aktenlage erkennbare familiäre Zusammenhalt wird dadurch verstärkt und letztlich belegt, dass die Ausländerbehörde die Aufenthaltsbewilligung für das Kind abhängig macht von dem Aufenthaltszweck Ausbildung/Studium und dem gleichzeitigen Verzicht auf eigene Erwerbstätigkeit des Kindes.
Der Senat folgt nicht der Auffassung des Beklagten, wonach grundsätzlich die Volljährigkeit des Kindes der Anerkennung eines Pflegekindschaftsverhältnisses entgegensteht. Denn die einschlägigen, hier genannten gesetzlichen Bestimmungen enthalten keine Altersbegrenzung für die Berücksichtigung von Pflegekindern. Zwar wird allgemein mit zunehmendem Alter des Kindes, insbesondere mit Eintritt der Volljährigkeit, das tatsächliche Bedürfnis an Personensorge nachlassen (ähnlich Schmidt/Glanegger, Kommentar zum EStG, 18. Auflage 1999, § 32 Anm. 21). Da dies jedoch auch für leibliche Kinder, die zwischen 18 und 27 Jahre alt sind und für einen Beruf ausgebildet werden, zutrifft, kann allein ein bestimmtes, gesetzlich nicht festgelegtes Alter des Kindes nicht zur Ablehnung des Pflege-Kindergeldanspruchs führen. Stattdessen ist hier - wie bereits ausgeführt - zu beachten, dass der in der Türkei aufgewachsene Neffe trotz seiner Volljährigkeit ohne die menschliche und wirtschaftliche Hilfe seines in Deutschland lebenden Onkels, des Klägers, hilflos wäre.
Nach alledem ist der Klage stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.