Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.05.2000, Az.: 6 K 633/96 Ki

Anspruch auf Kindergeld für einen im Heim untergebrachten behinderten Bruder

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
23.05.2000
Aktenzeichen
6 K 633/96 Ki
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2000, 14420
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2000:0523.6K633.96KI.0A

Fundstelle

  • NWB 2001, 3218

Tatbestand

1

Streitig ist, ob dem Kläger (H.) für seinen behinderten Bruder G. Kindergeld zusteht.

2

Der Kläger bezieht als ehemaliger Richter am Amtsgericht von dem Beklagten Ruhegehalt. Sein am 7. Juni 1928 geborener Bruder G. ist zu 80 % schwerbehindert und wegen seiner Behinderung in einem Heim untergebracht. Die daraus erwachsenden Kosten von monatlich rund 3.900,00 DM werden zum größten Teil von dem Kläger getragen. Grundlage für diese Kostentragung ist eine Regelung im Testament des 1989 verstorbenen Vaters des Klägers, der diesen zum Alleinerben eingesetzt und zugleich folgendes bestimmt hatte:

"Mein Sohn H. hat die volle Unterhaltspflicht für meine Ehefrau sowie die Vormundschaft und den Unterhalt meines Sohnes G. zu übernehmen, wobei dessen Altersrente mit zu übernehmen ist."

3

Bis zum 31. Dezember 1995 erhielt der Kläger für seinen Bruder G. Kindergeld nach den Vorschriften des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG). Durch Bescheid vom 31. Januar 1996 hob das seinerzeit noch zuständige Niedersächsische Landesverwaltungsamt die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung vom 1. Januar 1996 auf. Zur Begründung wies es darauf hin, dass sein Bruder nicht als Pflegekind in dem Haushalt des Klägers lebe und daher die Voraussetzungen für die Berücksichtigung als Pflegekind nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht erfülle. Dieser Bescheid wurde mit Ablauf der Rechtsbehelfsfrist bestandskräftig. Durch Bescheid vom 16. August 1996 hob das Niedersächsische Landesverwaltungsamt den Bescheid vom 31. Januar 1996 auf und bewilligte dem Kläger nach der Übergangsregelung des § 78 Abs. 2 EStG für seinen Bruder Kindergeld längstens bis zum 31. Dezember 1996. Der Bescheid erging ohne Rechtsbehelfsbelehrung. Mit einem am 25. September 1996 bei dem Niedersächsischen Landesverwaltungsamt eingegangenen Schreiben legte der Kläger gegen den Bescheid vom 16. August 1996 insoweit Einspruch ein, als dieser die Kindergeldbewilligung bis zum 31. Dezember 1996 befristete. Durch Bescheid vom 2. Oktober 1996 wies das Niedersächsische Landesverwaltungsamt den Einspruch als unbegründet zurück. Es wies darauf hin, dass nach § 78 Abs. 2 EStG für Geschwister, für die bis zum 31. Dezember 1995 Anspruch auf Kindergeld nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 BKGG bestanden habe, Kindergeld nach den Vorschriften des EStG bis längstens 31. Dezember 1996 gewährt werden könne.

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Hiergegen richtet sich die Klage. Der Kläger macht geltend, dass die Vorschriften des EStG insoweit verfassungswidrig seien, als sie ab dem 1. Januar 1997 keinen Kindergeldanspruch für über 27 Jahre alte Behinderte mehr vorsähen. Der Neuregelung liege die Vorstellung zugrunde, dass für Angehörige dieses Personenkreises nunmehr Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung bestehe. Dies treffe auf geistig Behinderte wie seinen Bruder G. aber nicht zu.

5

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Beklagten zu verpflichten, ihm unter Änderung des Bescheides vom 16. August 1996 und des dazu ergangenen Einspruchsbescheides vom 2. Oktober 1996 über den 31. Dezember 1996 hinaus Kindergeld für seinen Bruder G. zu gewähren.

6

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Er weist darauf hin, dass der Bruder G. nach den ab 1. Januar 1996 geltenden Vorschriften des X. Abschnitts des EStG keine als Kind berücksichtigungsfähige Person mehr sei, für die Anspruch auf Kindergeld nach den Vorschriften des EStG bestehe. Soweit ein Berechtigter - hier der Kläger - für einen Geschwisterteil nach dem bis zum 31. Dezember 1995 geltenden Recht Kindergeld bezogen habe, stehe ihm dieses nach § 78 Abs. 2 Satz 1 EStG solange zu, wie er den überwiegenden Unterhalt des Geschwisterteils bestreite und ansonsten die Voraussetzungen für einen Bezug von Kindergeld nach dem neuen Recht erfülle, längstens aber bis zum 31. Dezember 1996. Eine darüber hinaus gehende Weiterbewilligung ließen die Vorschriften des EStG nicht zu.

Gründe

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Die Klage ist nicht begründet.

9

Dies ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass sich der angefochtene Bescheid, durch den dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1996 bis zum 31. Dezember 1996 Kindergeld für seinen Bruder G. gewährt wurde, der Sache nach als eine den Kläger begünstigende Einschränkung des bestandskräftig gewordenen Bescheides vom 31. Januar 1996 darstellt, durch den die nach § 78 Abs. 1 EStG fingierte Kindergeldfestsetzung bereits mit Wirkung vom 1. Januar 1996 aufgehoben worden war. Nach § 351 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) können Verwaltungsakte, die unanfechtbare Verwaltungsakte ändern, zwar nur insoweit angegriffen werden, als die Änderung reicht. Diese Anfechtungsbeschränkung gilt nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift aber nicht, wenn sich aus den Vorschriften über die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten etwas anderes ergibt. So liegen die Dinge im Streitfall. Da nach § 70 Abs. 3 EStG materielle Fehler der letzten Festsetzung jederzeit mit Wirkung für die Zukunft durch Neufestsetzung oder Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden können und der Kläger mit dem Einspruch gegen den angefochtenen Verwaltungsakt die Änderung der Festsetzung (hier Aufhebung) erst mit Wirkung von einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt begehrte, kommt die Anfechtungsbeschränkung aus § 351 Abs. 1 AO im Streitfall nicht zum Tragen.

10

Die Klage ist aber deshalb unbegründet, weil dem Kläger materiell-rechtlich ab 1. Januar 1997 kein Anspruch auf Kindergeld für seinen Bruder G. mehr zusteht. Dieser ist im Verhältnis zum Kläger kein Kind im Sinne des § 63 EStG, für das unter den weiteren Voraussetzungen des § 62 EStG Anspruch auf Kindergeld besteht. Insbesondere ist G. nicht als Pflegekind im Sinne von § 32 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 63 Abs. 1 Nr. 1 EStG anzusehen, weil er nicht in dem Haushalt des Klägers aufgenommen worden ist. Die Übergangsregelung des § 78 Abs. 2 Satz 1 EStG, wonach Berechtigten, die für Dezember 1995 für Enkel oder Geschwister Kindergeld bezogen hatten, das Kindergeld für diese Kinder solange zustand, wie sie die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 BKGG in der bis zum 31. Dezember 1995 geltenden Fassung und die weiteren Anspruchsvoraussetzungen erfüllten, war nur bis zum 31. Dezember 1996 anwendbar.

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Die gesetzliche Regelung, wonach der Kläger für seinen Bruder G. ab 1. Januar 1997 kein Anspruch auf Kindergeld mehr hat, verstößt auch nicht gegen das Grundgesetz (GG). Entgegen der Auffassung des Klägers liegt darin keine gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber solchen Personen, die nach der gesetzlichen Regelung Anspruch auf Kindergeld haben. Wie sich aus § 31 Satz 1 EStG ergibt, soll die Zahlung von Kindergeld nach dem X. Abschnitt des EStG die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes bewirken. Dies trägt der Forderung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) Rechnung, die Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit von Eltern durch die gesetzliche Unterhaltspflicht gegenüber ihren Kindern durch einen Abzug von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer zu berücksichtigen (BVerfGE 82, 60, 85 ff.). Dieser Gesichtspunkt kommt im Verhältnis des Klägers zu seinem Bruder aber schon deshalb nicht zum Tragen, weil Geschwister einander nicht gesetzlich unterhaltsverpflichtet sind. Im übrigen wird der Belastung des Klägers mit dem Großteil der Kosten für die Heimunterbringung steuerlich dadurch Rechnung getragen, dass er diese Aufwendungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 1a Satz 1 EStG in voller Höhe als Sonderausgaben abziehen kann (vgl. BFH-Urteile vom 26. Januar 1994 X R 54/92, BStBl II 1994, 633 und vom 27. Februar 1992 X R 139/88, BStBl II 1992, 612, sowie Textziffer 28 des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen vom 23. Dezember 1996 IV B 3 - S 2257 - 54/96 (BStBl I 1996, 1508) und nach seinem eigenen Vorbringen auch tatsächlich abzieht.

12

Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die hierdurch bewirkte Steuerminderung niedriger sein sollte als der Betrag, der dem Kläger als Kindergeld für seinen Bruder G. zustehen würde, läge hierin keine gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG verstoßenden Benachteiligung des Klägers. Zwar dient das Kindergeld, soweit es nicht zur steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes benötigt wird, nach § 31 Satz 2 EStG der Förderung der Familie. Dieser Förderungszweck ist im Licht des Art. 6 Abs. 1 GG auszulegen, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Gemeinschaft stellt. Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG schützt die Familie zunächst und zuvörderst als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft, wie sie im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern besteht (BVerfGE 80, 81, 90 f. [BVerfG 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84]). Gemessen an diesem verfassungsrechtlichen Leitbild stellt es eine sachgerechte Differenzierung dar, wenn der Gesetzgeber Kindergeldleistungen für volljährige Personen auf solche Fälle beschränkt, in denen im Rahmen einer Hausgemeinschaft Unterhalt oder Beistand geleistet werden. Dies ist im Verhältnis zwischen dem Kläger und seinem Bruder G. nicht der Fall.

13

Schließlich gebietet der Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs. 1 GG die Zahlung von Kindergeld für den Bruder G. auch nicht unter dem Gesichtspunkt, dass Eltern oder Geschwister, die für den Heimunterhalt älterer Körperbehinderter aufkommen, Pflegegeld erhalten. Soweit dies eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung von Personen darstellen sollte, die für die Heimunterbringung geistig Behinderter aufzukommen haben, könnte ein darin liegender Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz nur durch Änderung der Vorschriften über die Gewährung des Pflegegeldes, nicht aber durch die Änderung der Vorschriften über die Gewährung von Kindergeld beseitigt werden.

14

Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 135 Abs. 1 FGO abzuweisen.