Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.11.2018, Az.: 10 LA 375/18

Abschiebung von im Ausland anerkannten Flüchtlingen in den Staat ihrer Anerkennung hinsichtlich Abschiebungsverbots wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.R.d. sog. Drittstaatenverfahren

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
08.11.2018
Aktenzeichen
10 LA 375/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 40694
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 14.09.2018

Fundstellen

  • AUAS 2019, 7-9
  • InfAuslR 2019, 111-112

Tenor:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 2. Kammer - vom 14. September 2018 wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Denn sie hat den von ihr allein geltend gemachten Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) nicht hinreichend dargelegt. Dieser liegt auch nicht vor.

Nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ist die Berufung zuzulassen, wenn das angefochtene Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine solche Abweichung liegt vor, wenn sich das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechts- oder Tatsachensatz zu einem in der Entscheidung eines der genannten Divergenzgerichte aufgestellten ebensolchen Rechts- oder Tatsachensatz in Widerspruch gesetzt hat. Dabei muss ein prinzipieller Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines bestimmten Rechtsgrundsatzes bestehen (ständige Rechtsprechung des Senats: zuletzt u.a. Senatsbeschlüsse vom 01.11.2017 - 10 LA 101/17 -, n.v., und vom 24.10.2017 - 10 LA 90/16 -, juris Rn. 58; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 17.08.2018 - 2 LA 1584/17 -, juris Rn. 18; Bayerischer VGH, Beschluss vom 31.07.2018 - 15 ZB 17.30493 -, juris Rn. 7). Eine Divergenz liegt nicht vor, wenn das Berufungsgericht den Rechts- oder Tatsachensatz des Divergenzgerichts, ohne ihm inhaltlich zu widersprechen, in dem zu entscheidenden Fall rechtsfehlerhaft angewandt oder daraus nicht die Folgerungen gezogen hat, die für die Sachverhalts- und Beweiswürdigung geboten sind (Senatsbeschluss vom 01.11.2017 - 10 LA 101/17 -, n.v.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 17.08.2018 - 2 LA 1584/17 -, juris Rn. 18; Bayerischer VGH, Beschluss vom 21.01.2013 - 8 ZB 11.2030 -, juris Rn. 24; BVerwG, Beschluss vom 30.06.2014 - 2 B 99.13 -, juris Rn. 6 zu § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Zur Darlegung der Divergenz ist es erforderlich, dass der Zulassungsantragsteller einen inhaltlich bestimmten, die angegriffene Entscheidung tragenden abstrakten Rechts- oder verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz bezeichnet, mit dem die Vorinstanz einem in der übergeordneten Rechtsprechung ebensolchen Rechts- oder Tatsachensatz widersprochen hat (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.08.2018 - A 11 S 1753/18 -, juris Rn. 11; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.07.2018 - 4 A 1842/18.A -, juris Rn. 3; Hessischer VGH, Beschluss vom 13.06.2018 - 7 A 150/18.Z.A -, juris Rn. 24; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 12.12.2017 - 12 LA 102/17 -, juris Rn. 23; Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Mai 2018, § 124a Rn. 107; vgl. auch Senatsbeschluss vom 24.10.2017 - 10 LA 90/16 -, juris Rn. 59, und Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 03.02.2015 - 9 LA 266/13 -, juris, S. 6).

Die Beklagte trägt zur Begründung dieses Zulassungsgrunds vor, das Verwaltungsgericht sei von dem vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 8. August 2018 (- 1 B 25.18 -, juris) aufgestellten Maßstab für die Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK, wonach es auf die Würdigung aller Umstände des Einzelfalls ankomme, "offenkundig" abgewichen, "indem es seine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - damit insbesondere ohne sich einen eigenen Eindruck von der individuellen Person des Klägers zu verschaffen - und durch, in einer Vielzahl von Verfahren, gleichlautende Urteilsgründe trifft." Eine "individuelle Betrachtung eines jeden Einzelfalles" ergebe sich aus diesem Vorgehen nicht. Es fehle an der "zu fordernden eingehenden richterlichen Tatsachenwürdigung im Einzelfall". Das Verwaltungsgericht stelle "sich somit jedenfalls konkludent gegen den, den Prüfungsmaßstab aufstellenden Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts".

Mit diesem Vorbringen hat die Beklagte schon keinen Rechtssatz bezeichnet, den das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil aufgestellt hat und mit dem es von einem in dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. August 2018 aufgestellten Rechtssatz abgewichen sein soll. Das Verwaltungsgericht hat ausweislich seiner Urteilsgründe (Seite 6 des Urteilsabdrucks) auch überhaupt keinen Rechtssatz zum Maßstab bei der Prüfung von Art. 3 EMRK in seinem Urteil vom 14. September 2018 aufgestellt, der vom genannten Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts abweicht. Die Beklagte wendet sich letztlich dagegen, dass das Verwaltungsgericht aus dieser Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht die ihrer Ansicht nach gebotenen Folgerungen gezogen hat. Dies begründet jedoch nach dem oben Gesagten keine Divergenz im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG.

Das Verwaltungsgericht ist jedoch auch in der Sache nicht von dem vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Prüfungsmaßstab abgewichen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem genannten Beschluss vom 8. August 2018 zu dem bei Art. 3 EMRK zu beachtenden Prüfungsmaßstab ausgeführt, dass der Abschiebung von im Ausland anerkannten Flüchtlingen in den Staat ihrer Anerkennung das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegensteht, wenn die sie dort erwartenden Lebensverhältnisse Art. 3 EMRK widersprechen. Das setzt allerdings voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht wird. Das kann der Fall sein, wenn die anerkannten Flüchtlinge ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (juris 1. Leitsatz und Rn. 11).

Diese Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts hat die Beklagte offensichtlich missverstanden, wenn sie meint, dass es hinsichtlich der Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK auf den "Eindruck von der individuellen Person des Klägers" ankomme. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat insoweit nicht auf die individuellen Besonderheiten des jeweiligen Klägers abgestellt, sondern darauf, ob "die anerkannten Flüchtlinge" unzumutbare Bedingungen im jeweiligen Abschiebungszielstaat vorfinden. Dementsprechend kommt es in den sogenannten Drittstaatenverfahren in der Regel auf "die von den individuellen Besonderheiten weitgehend unabhängige Beurteilung der Lage in dem bestimmten Abschiebungszielstaat" an (BVerwG, a.a.O., juris Rn. 12). Denn in der Regel gleichen diese Fälle sich in Bezug auf die Frage, ob anerkannte Flüchtlinge dort ihren existenziellen Lebensunterhalt sichern, Obdach finden und Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten können, was unter Würdigung aller Umstände in dem jeweiligen Land zu entscheiden ist. Insoweit kommt es daher in der Regel nicht auf die Besonderheiten in der Person des jeweiligen Klägers an. Allerdings können diese beispielsweise dann maßgeblich sein, wenn der Kläger vermögend ist und deshalb zur Sicherung seines Lebensunterhalts nicht darauf angewiesen ist, in dem betreffenden Land einen Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Sozialhilfeleistungen zu erhalten, oder über besondere berufliche Qualifikationen und Sprachkenntnisse verfügt, die ihm einen unmittelbaren Zugang zum Arbeitsmarkt verschaffen. Diesbezügliche Besonderheiten sind im vorliegenden Fall allerdings nicht ersichtlich und auch von der Beklagten nicht geltend gemacht worden.