Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.11.2018, Az.: 2 LA 1496/17

Anhörungsrüge; Begründung; Berufungszulassung; Endentscheidung; rechtliches Gehör; Verletzung; Zulassung der Berufung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.11.2018
Aktenzeichen
2 LA 1496/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 74257
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 20.06.2017 - AZ: 9 A 461/16

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Gegen einen die Berufung zulassenden Beschluss ist eine Anhörungsrüge nicht statthaft, weil es sich bei der Zulassungsentscheidung um eine der Endentscheidung vorausgehende Entscheidung handelt (§ 152a Abs. 1 Satz 2 VwGO). Art. 103 Abs. 1 GG erfordert keine andere Betrachtung.

Tenor:

Die Anhörungsrüge der Beklagten gegen die Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts - 2. Senat - vom 6. November 2018 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Anhörungsrügeverfahrens.

Gründe

Die Anhörungsrüge des Klägers gegen den Beschluss vom 6. November 2018, mit dem der Senat auf Antrag der Beklagten die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 20. Juni 2017 zugelassen hat, ist bereits unstatthaft; jedenfalls aber unbegründet.

Gemäß § 152a Abs. 1 Satz 2 VwGO findet eine Anhörungsrüge gegen eine der
Endentscheidung vorausgehende Entscheidung nicht statt. Um eine solche Entscheidung handelt es sich bei der Zulassung der Berufung. Diese Entscheidung führt gemäß § 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO, § 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG dazu, dass das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt wird. Die Zulassung gibt demzufolge den Weg frei, den Streitfall gemäß § 128 VwGO im Rahmen des Berufungsantrags umfassend zu überprüfen. Die Sachentscheidung wird damit nicht vorweggenommen. Es handelt sich – anders als im Fall der Nichtzulassung – um eine dem späteren Urteil, also der Endentscheidung, vorausgehende Zwischenentscheidung im Sinne des § 152a Abs. 1 Satz 2 VwGO.

Die Auffassung des Klägers, § 152a Abs. 1 Satz 2 VwGO sei aus verfassungsrechtlichen Gründen teleologisch zu reduzieren, weil eine spätere Überprüfung der Richtigkeit der Zulassung im Berufungsverfahren nicht stattfinde, teilt der Senat nicht. Richtig ist zwar, dass die einmal ausgesprochene Zulassung den Senat bindet und von diesem grundsätzlich nicht mehr korrigiert werden kann (vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, 5. Aufl. 2018, § 124a, Rn. 302 ff.). Verfassungsrecht gebietet es dennoch nicht, das Anhörungsrügeverfahren entgegen dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung auf den Fall der Zulassung der Berufung zu übertragen.

Art. 103 Abs. 1 GG steht insofern in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtswegegarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, aufgrund derer die Gerichte durch ihre Auslegung und Anwendung des Prozessrechts den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren dürfen. Während die Rechtswegegarantie den Zugang zum Verfahren sichert, zielt Art. 103 Abs. 1 GG auf einen angemessenen Ablauf des Verfahrens. Daher gebietet Art. 103 Abs. 1 GG, dass sowohl die normative Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Ausmaß an rechtlichem Gehör eröffnen, das sachangemessen ist, um dem in Rechtsstreitigkeiten aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden, und das den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Insofern muss auch eine fachgerichtliche Abhilfe bei Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf rechtliches Gehör gewährleistet sein (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.10.2007 - 1 BvR 782/07 -, juris Rn. 13 f.).

Davon ausgehend verlangt es Art. 103 Abs. 1 GG nicht, dass auch nach einer Zulassung der Berufung die Anhörungsrüge eröffnet ist. Die Zulassung der Berufung schränkt die Möglichkeit des Berufungsbeklagten, seine materielle und verfahrensbezogenen Rechte im Berufungsverfahren geltend zu machen, in keiner Weise ein. Im Gegenteil ist das Oberverwaltungsgericht nach der Zulassung im Berufungsverfahren gemäß § 128 VwGO gehalten, den Streitfall im gleichen Umfang wie das Verwaltungsgericht zu überprüfen, dabei die verfahrensmäßigen Rechte zu beachten und insbesondere die Argumente des Berufungsbeklagten in seine Überlegungen einzustellen. Ein wirkungsvoller Rechtsschutz, auf den Art. 103 Abs. 1 GG abzielt, steht bei einer Zulassung der Berufung in keiner Weise in Frage.

Ungeachtet dessen ist die Anhörungsrüge unbegründet. Der Senat hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nicht in entscheidungserheblicher Weise verletzt (§ 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Eine solche Rechtsverletzung folgt insbesondere nicht daraus, dass der Senat in seinem Zulassungsbeschluss keine Ausführungen zu der Erfüllung des Darlegungserfordernisses (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) gemacht hat. Zu derartigen Ausführungen war der Senat schon gemäß § 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG nicht verpflichtet, weil der Beschluss überhaupt keiner Begründung bedurfte. Daraus folgt aber nicht, dass sich der Senat mit den Darlegungsanforderungen und der Stellungnahme des Klägers dazu nicht befasst hat. Die Befassung damit gehört vielmehr in jedem Fall – und so auch hier – zum üblichen Prüfungsprogramm im Zulassungsverfahren; auf schriftliche Ausführungen dazu durfte der Senat nach dem klaren Willen des Gesetzgebers allerdings verzichten.

In der Sache waren die Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG erfüllt. Dabei konnte offenbleiben, ob die Begründung der Divergenzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) selbst ausreichend war. Denn die Beklagte hatte zugleich eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) beantragt und dies mit dem Hinweis auf die Klärungsbedürftigkeit der Frage einer politischen Verfolgung in Syrien aufgrund von Wehrdienstentziehung hinreichend begründet. Dieser Antrag auf Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache war nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in einen Antrag auf Zulassung wegen Divergenz umzudeuten, weil die aufgeworfene Rechtsfrage in einem nachträglich ergangenen oder erst nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist mit Gründen veröffentlichten Urteil grundsätzlich geklärt worden war, die angefochtene Entscheidung hiervon abwich und das angegriffene Urteil auf der Abweichung beruhte (vgl. hierzu etwa BVerwG, Beschl. v. 21.2.2000 - 9 B 57.00 -, juris). Diese Sachbehandlung entspricht der ständigen Praxis des Senats (vgl. nur Senatsbeschl. v. 29.9.2017 - 2 LA 238/17 -, juris Rn. 6 ff. m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).