Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.10.2015, Az.: 8 LA 146/15

Ausübung des Selbsteintrittsrechts bei Verschlimmerung der Situation eines Asylbewerbers durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats; Antrag auf Durchführung von Asylfolgeverfahren; Anordnung der Abschiebung von mazedonischen Staatsangehörigen albanischer Volkszugehörigkeit nach Belgien; Ablauf der Überstellungsfrist nach Klageerhebung und vor verwaltungsgerichtlichem Urteil

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
09.10.2015
Aktenzeichen
8 LA 146/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 28369
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2015:1009.8LA146.15.0A

Fundstellen

  • AUAS 2015, 271-273
  • InfAuslR 2016, 35-36
  • NdsVBl 2016, 6-7

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Wird die Situation eines Asylbewerbers, in der dessen Grundrechte verletzt werden, durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert, kann sich das nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO eröffnete Ermessen des Mitgliedstaats, einen Asylantrag abweichend von den Zuständigkeitsvorschriften der Dublin II VO selbst inhaltlich zu prüfen und zu bescheiden, reduzieren und der Mitgliedstaat ausnahmsweise verpflichtet sein, das Selbsteintrittsrecht auszuüben.

  2. 2.

    Ab welcher Dauer ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats derart unangemessen ist, dass eine Verpflichtung zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts entsteht, kann nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls geklärt werden. Hierbei ist neben den individuellen Lebensumständen des Asylbewerbers insbesondere zu berücksichtigen, ob ein Asylantrag des Asylbewerbers von einem Mitgliedstaat bereits sachlich entschieden worden ist, worin die Ursachen für die Notwendigkeit des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens und für die Verzögerungen dieses Verfahrens liegen und wessen Verantwortungsbereich diese zuzurechnen sind sowie ob und bejahendenfalls in welchem Zeitraum eine Überstellung des Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat möglich ist.

[Gründe]

Die Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Anträge auf Durchführung von Asylfolgeverfahren als unzulässig und die Anordnung ihrer Abschiebung nach Belgien.

Die Kläger sind mazedonische Staatsangehörige albanischer Volkszugehörigkeit. Ihre im Mai 2012 in Belgien gestellten Asylanträge wurden abgelehnt. Am 10. Oktober 2012 reisten sie in das Bundesgebiet ein und beantragten hier erneut die Anerkennung als Asylberechtigte. Nach Zustimmung der belgischen Behörden zur Wiederaufnahme der Kläger lehnte das beklagte Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 20. Februar 2013 die Asylanträge als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Belgien an. Am 20. März 2013 wurden die Kläger nach Belgien überstellt.

Am 27. März 2013 reisten die Kläger wieder in das Bundesgebiet ein und beantragten erneut die Anerkennung als Asylberechtigte. Am 5. April 2013 dokumentierte das Bundesamt einen EURODAC-Treffer aus dem vorausgegangenen Verfahren. Unter dem 5. Dezember 2013 richtete das Bundesamt ein Wiederaufnahmeersuchen an die belgischen Behörden, die der Wiederaufnahme am 11. Dezember 2013 zustimmten. Mit Bescheid vom 17. Januar 2014 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Durchführung von Asylverfahren unter Bezugnahme auf die Zuständigkeit Belgiens ab und ordnete die Abschiebung dorthin an.

Hiergegen haben die Kläger Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes ordnete das Verwaltungsgericht Oldenburg mit Beschluss vom 10. Februar 2014 - 5 B 254/14 - die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 17. Januar 2014 an. Die Klage hat das Verwaltungsgericht Oldenburg mit Urteil vom 6. Juli 2015 abgewiesen. Gegen dieses Urteil richtet sich der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung.

II.

Der Antrag bleibt ohne Erfolg. Der von den Klägern allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG ist zum Teil schon nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG genügenden Weise dargelegt und liegt im Übrigen nicht vor.

Eine Rechtssache ist nur dann grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG, wenn sie eine höchstrichterlich oder - soweit es eine Tatsachenfrage betrifft - obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich und klärungsfähig ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (vgl. Senatsbeschl. v. 19.1.2011 - 8 LA 297/10 -, Rn. 4; GK-AsylVfG, § 78 Rn. 88 f. (Stand: April 1998); Hailbronner, Ausländerrecht, AsylVfG, § 78 Rn. 140 f. (Stand: Juni 2011) jeweils mit weiteren Nachweisen). Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist daher nur dann im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt, wenn eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte (vgl. Senatsbeschl. v. 12.7.2012 - 8 LA 132/12 -, Rn. 3; GK-AsylVfG, a.a.O., § 78 Rn. 591 f. jeweils mit weiteren Nachweisen).

Hieran gemessen kommt den von den Klägern aufgeworfenen Fragen,

1. "wann eine Abschiebung im Rahmen der Dublin II-VO wegen unangemessen langer Verfahrensdauer unzulässig ist und so die Antragsteller in ihren Rechten nach Art. 18 Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt,"

2. "wie rechtlich zu entscheiden ist, wenn - wie vorliegend - die Überstellungsfrist nach Klageerhebung und vor verwaltungsgerichtlichem Urteil abläuft",

eine die Zulassung der Berufung gebietende grundsätzliche Bedeutung nicht zu.

Soweit die Frage zu 1. einer fallübergreifenden grundsätzlichen Klärung zugänglich ist, ist sie aus dem Gesetz, anhand juristischer Auslegungsmethoden und auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung zu beantworten, so dass es der Durchführung eines Berufungsverfahrens nicht bedarf (vgl. zum Nichtvorliegen der grundsätzlichen Bedeutung in einer solchen Konstellation: BVerwG, Beschl. v. 29.1.2010 - BVerwG 8 B 41.09 -, Rn. 5; Beschl. v. 24.8.1999 - BVerwG 4 B 72.99 -, BVerwGE 109, 268, 270 (jeweils zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO); Senatsbeschl. v. 6.2.2013 - 8 LA 136/12 -, Rn. 15 (zu § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO)).

Nach der für die Auslegung des europäischen Sekundärrechts maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 10.12.2013 - C-394/12 -, Rn. 60 und 62 (Abdullahi), hier und im Folgenden zitiert nach curia.europa.eu, siehe auch die Anmerkung von Marx, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zum Zuständigkeitskriterium illegale Einreise (Art. 10 VO (EG) Nr. 343/2003), in: NVwZ 2014, 198 ff.) kann ein Asylbewerber mit dem in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, (ABl. EU L 50 v. 25.2.2003, S. 1) - Dublin II-VO - vorgesehenen Rechtsbehelf gegen die Überstellung der Heranziehung des in Art. 10 Abs. 1 der Dublin II-VO niedergelegten Zuständigkeitskriteriums nur damit entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden. Es liegt nahe, dass diese Grundsätze auch bei dem in Art. 20 Abs. 1 Buchst. e Dublin II-VO genannten Rechtsbehelf gegen die Wiederaufnahmeentscheidung gelten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.5.2014 - BVerwG 10 B 31.14 -, Rn. 4; Beschl. v. 15.4.2014 - BVerwG 10 B 16.14 -, Buchholz 402.25 § 27a AsylVfG Nr. 1).

Die bloße Berufung auf eine Verletzung von Verfahrens- und Fristenregelungen der Dublin II-VO und eine damit etwa verbundene Verzögerung des Asylverfahrens kann der Klage eines Asylbewerbers gegen die Überstellung in einen um die Aufnahme oder auch die Wiederaufnahme ersuchten Mitgliedstaat daher grundsätzlich nicht zum Erfolg verhelfen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.3.2014 - BVerwG 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039 f. mit Anmerkung von Berlit, jurisPR-BVerwG 12/2014 Anm. 3; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 24.2.2015 - 2 LA 15/15 -, Rn. 7; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 25.6.2015 - 11 LB 248/14 -, Rn. 37; Beschl. v. 6.11.2014 - 13 LA 66/14 -, Rn. 12 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 -, Rn. 25 ff.; Hessischer VGH, Beschl. v. 25.8.2014 - 2 A 976/14.A -, Rn. 15).

Mit Blick auf die Grundrechte aus Art. 18, 41 Abs. 1, 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die das Asylverfahren bestimmende Beschleunigungsmaxime (vgl. EuGH, Urt. v. 10.12.2013, a.a.O., Rn. 53; BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerfGE 94, 166, 208 f.; BVerwG, Urt. v. 8.9.2011 - BVerwG 10 C 14.10 -, BVerwGE 140, 319, 323; Erwägungsgrund 4 Satz 2 Dublin II-VO) gilt ausnahmsweise dann etwas Anderes, wenn die Situation eines Asylbewerbers, in der dessen Grundrechte verletzt werden, durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert wird (vgl. EuGH, Urt. v. 14.11.2013 - C-4/11 -, Rn. 35 (Puid); Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a. -, Rn. 98 und 108 (N.S.)). Eine solche Situation kann das nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO eröffnete - weite (vgl. EuGH, Urt. v. 10.12.2013, a.a.O., Rn. 57 und zu den bei der Ermessensausübung zu beachtenden Grundsätzen: Niedersächsisches OVG, Urt. v. 25.6.2015, a.a.O., Rn. 39 m.w.N.) - Ermessen des Mitgliedstaats, einen Asylantrag abweichend von den Zuständigkeitsvorschriften der Dublin II-VO selbst inhaltlich zu prüfen und zu bescheiden, reduzieren und ihn ausnahmsweise verpflichten, das Selbsteintrittsrecht auszuüben.

Ab welcher Dauer ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats derart unangemessen ist, dass eine Verpflichtung zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts entsteht, kann indes nicht fallübergreifend, sondern nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls geklärt werden. Hierbei ist neben den individuellen Lebensumständen des Asylbewerbers insbesondere zu berücksichtigen, ob ein Asylantrag des Asylbewerbers von einem Mitgliedstaat bereits sachlich entschieden worden ist, worin die Ursachen für die Notwendigkeit des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens und für die Verzögerungen dieses Verfahrens liegen und wessen Verantwortungsbereich diese zuzurechnen sind sowie ob und bejahendenfalls in welchem Zeitraum eine Überstellung des Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat möglich ist (vgl. hierzu Bayerischer VGH, Urt. v. 13.4.2015 - 11 B 15.50031 -, Rn. 28 f. und nunmehr auch Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. EU L 180 v. 29.6.2013, S. 31) - Dublin III-VO -). Die von den Klägern offenbar erstrebte Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer allein durch Anknüpfung an die bzw. Vervielfachung der in der Dublin II-VO vorgesehenen Fristen und ohne Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls, hält der Senat hingegen für nicht sachgerecht. Denn hierdurch würde dem Fristenregime der Dublin II-VO entgegen dem dargestellten Willen des Verordnungsgebers jedenfalls mittelbar eine subjektive Rechte der Asylbewerber begründende Wirkung beigemessen.

Für die darüber hinaus aufgeworfene Frage zu 2. haben die Kläger die Entscheidungserheblichkeit nicht dargelegt. Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass sich die Frage im erstinstanzlichen Verfahren gestellt hat oder in einem Berufungsverfahren stellen würde. Dies ist für den Senat auch nicht ohne Weiteres ersichtlich. Vielmehr ist die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 20 Abs. 1 Buchst. d Satz 2, Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO noch nicht abgelaufen, da das Verwaltungsgericht Oldenburg mit Beschluss vom 10. Februar 2014 - 5 B 254/14 - im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 17. Januar 2014 angeordnet hat (vgl. zum Ablauf der Überstellungsfrist bei einer Aussetzung der Vollziehung: EuGH, Urt. v. 29.1.2009 - C-19/08 -, Rn. 46 (Petrosian); Hessischer VGH, Beschl. v. 25.8.2014, a.a.O., Rn. 15; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 8.5.2014 - 13 A 827/14.A -, Rn. 5 ff.; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 2.8.2012 - 4 MC 133/12 -; [...] Rn. 15 f.; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 19.6.2012 - A 2 S 1355/11 -, Rn. 23 ff.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).