Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 26.10.2015, Az.: 4 ME 229/15

Artenschutz; Einschätzungsprärogative; Gefahrerforschungseingriff; Gefahrerforschungsmaßnahme; Zugriffsverbot

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
26.10.2015
Aktenzeichen
4 ME 229/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 45122
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 07.07.2015 - AZ: 5 B 1366/15

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die sonderordnungsrechtliche Generalklausel des § 3 Abs. 2 BNatSchG ermächtigt die Naturschutzbehörden auch zur Anordnung von Gefahrerforschungsmaßnahmen.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 5. Kammer - vom 7.  Juli 2015 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird unter Änderung der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Streitwertfestsetzung für beide Rechtszüge jeweils auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den erstinstanzlichen Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die naturschutzrechtliche Verfügung des Antragsgegners vom 13. Februar 2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2. April 2015 abgelehnt hat, ist unbegründet.

Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass sich der angegriffene Bescheid des Antragsgegners, durch den dem Antragsteller untersagt worden ist, die auf dem Flurstück C. der Flur D. der Gemarkung E. befindliche Allee zu beseitigen, nach summarischer Prüfung als rechtmäßig erweise und die hiergegen vom Antragsteller angestrengte Klage daher voraussichtlich ohne Erfolg bleiben werde; im Rahmen der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO sei ein überwiegendes Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage daher zu verneinen. Das Beschwerdevorbringen des Antragstellers, auf dessen Prüfung der Senat sich nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigt keine andere Entscheidung, denn Gesichtspunkte, die für die Rechtswidrigkeit der angegriffenen naturschutzrechtlichen Verfügung des Antragsgegners sprechen, ergeben sich hieraus nicht.

Der Antragsteller macht in erster Linie geltend, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Entscheidungsfindung zu Unrecht von einer naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative des Antragsgegners ausgegangen sei. Er meint (im Anschluss an Gellermann in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. II, Stand: 76. Ergänzungslieferung 2015, § 44 BNatSchG Rdnr. 24), dass sich im Rahmen der Prüfung der in § 44 BNatSchG geregelten artenschutzrechtlichen Zugriffsverbote eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative allenfalls auf fachliche Wertungen, nicht aber auf die Feststellung des einschlägigen Sachverhalts beziehen könne. Jedenfalls aber setze eine Rücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte unter Verweis auf eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative der Naturschutzbehörde nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. Beschl. v. 18.4.2011 - 12 ME 274/10 -, NVwZ-RR 2011, 597 = NuR 2011, 431) voraus, dass eine den wissenschaftlichen Maßstäben und den vorhandenen Erkenntnissen entsprechende Sachverhaltsermittlung vorgenommen worden ist. Daran fehle es hier.

Für die Rechtswidrigkeit der angegriffenen naturschutzrechtlichen Verfügung des Antragsgegners spricht dieses Vorbringen nicht. Insoweit kommt es auf die dogmatischen Einwände des Antragstellers gegen die den Naturschutzbehörden von der Rechtsprechung im Rahmen der Anwendung der Zugriffsverbote des § 44 BNatSchG zugesprochene naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative (vgl. nur BVerwG, Urt. 27.6.2013 - 4 C 1.12 -, BVerwGE 147, 118 Rdnr. 14; Nds. OVG, a.a.O.) nicht an. Denn unabhängig davon führt das Vorbringen des Antragstellers nicht zu Gesichtspunkten, die für eine unzureichende Aufklärung oder fehlerhafte Bewertung des entscheidungserheblichen Sachverhalts durch den Antragsgegner sprechen. Das ergibt sich aus Folgendem:

Der Antragsgegner hat die angefochtene Verfügung, mit der er dem Antragsteller untersagt hat, die aus 28 oder 29 Bäumen bestehende Allee zu beseitigen, auf der Grundlage von § 3 Abs. 2 BNatSchG i.V.m. § 44 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 BNatSchG erlassen. Wie sich aus der Begründung des Bescheides ergibt, hat der Antragsgegner aufgrund der von ihm durchgeführten Ortsbesichtigungen Anhaltspunkte dafür gesehen, dass die Bäume der Allee u.a. von Fledermäusen und Spechtarten als Quartiere genutzt werden. Weiter heißt es in der Begründung der Verfügung, dass eine weitere Untersuchung der Allee zwingend erforderlich sei, um auszuschließen oder zu bestätigen, dass die aufgefundenen Strukturen tatsächlich von Tieren der besonders und streng geschützten Arten genutzt würden. Die Untersagung werde deshalb nur ausgesprochen, um der zuständigen Behörde die erforderliche Zeit einzuräumen, damit die in Rede stehende Allee dahingehend untersucht werden könne, ob diese von artenschutzrechtlicher Relevanz sei.

Mit dieser Begründung handelt es sich bei der ausgesprochenen (vorläufigen) Untersagung einer Beseitigung der Allee um einen Gefahrerforschungseingriff, der verhindern soll, dass der Antragsteller - wie von ihm beabsichtigt - die in Rede stehenden Bäume fällt und auf diese Weise vollendete Tatsachen schafft, bevor abschließend ermittelt werden kann, ob die Beseitigung der Bäume gegen die in § 44 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 BNatSchG geregelten Verbote verstößt. Gefahrerforschungsmaßnahmen sind von der sonderordnungsrechtlichen Generalklausel des § 3 Abs. 2 BNatSchG in gleicher Weise wie von der allgemeinen Generalklausel des Sicherheits- und Ordnungsrechts gedeckt (vgl. Krohn in: Schlacke, GK-BNatSchG, 2012, § 3 Rdnr. 20; Hendrischke in: Frenz/Müggenborg, BNatSchG, 2011, § 3 Nr. 32; Blum/Agena, Niedersächsisches Naturschutzrecht, Stand: 9. Ergänzungslieferung 2014, § 2 NAGBNatSchG, § 2 Rdnr. 47). Die Anordnung eines Gefahrerforschungseingriffs setzt in tatsächlicher Hinsicht lediglich voraus, dass ein Gefahrenverdacht besteht. Ein Gefahrenverdacht zeichnet sich dadurch aus, dass im Zeitpunkt der Anordnung des Gefahrerforschungseingriffs eine unklare Sachlage besteht, die ebenso gefährlich wie ungefährlich sein kann. Es muss also einerseits die Besorgnis einer Gefahr bestehen, andererseits müssen aber noch Erkenntnislücken vorhanden sein, die geschlossen werden müssen, um die Sachlage endgültig beurteilen zu können (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 29.1.2009 - 11 LC 480/07 -, Nds.VBl 2009, 199).

Hiervon ausgehend ist das Vorbringen des Antragstellers, dass es an einer wissenschaftlichen Maßstäben genügenden Sachverhaltsaufklärung durch den Antragsgegner fehle, von vornherein nicht geeignet, die Rechtmäßigkeit des angeordneten Gefahrerforschungseingriffs in Frage zu stellen, denn die vom Antragsgegner (vorläufig) angeordnete Untersagung, die in Rede stehende Allee zu beseitigen, dient gerade dem Zweck, eine abschließende naturschutzfachliche Sachverhaltsaufklärung und -bewertung erst zu ermöglichen. Deren Methodik wird in den dem Bescheid angefügten Hinweisen beschrieben. Angriffe gegen die bisher erfolgte Sachverhaltsaufklärung durch den Antragsgegner wären nur dann geeignet, die Rechtmäßigkeit der angegriffenen naturschutzrechtlichen Verfügung in Frage zu stellen, wenn sich hieraus Hinweise dafür ergeben würden, dass hinsichtlich eines möglichen Verstoßes gegen die in § 44 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 BNatSchG geregelten Verbote durch ein Fällen der Bäume nicht einmal tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die die Annahme eines Gefahrenverdachts rechtfertigen. Hierfür ist dem Vorbringen des Antragstellers nichts zu entnehmen. Im Übrigen teilt der Senat die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass sich aus den in den Verwaltungsvorgängen des Antragsgegners enthaltenen Schreiben und Vermerken über die Ergebnisse der am 11. Februar 2015 durchgeführten Ortsbesichtigung und der dazugehörenden Fotodokumentation hinreichende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die in Rede stehenden Bäume als Habitate für Fledermaus- und Spechtarten dienen. Daher kann jedenfalls hinsichtlich des Verbotes nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG, Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der wildlebenden Tiere der besonders geschützten Arten zu zerstören, ein Gefahrenverdacht ohne weiteres bejaht werden.

Aus dem Vorbringen des Antragstellers im Beschwerdeverfahren ergeben sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die naturschutzrechtliche Untersagungsverfügung des Antragsgegners an einem Ermessensfehler leidet und aus diesem Grunde rechtswidrig ist. Das gilt zunächst, soweit der Antragsteller vorträgt, dass der Antragsgegner im Rahmen seiner Ermessenserwägungen nicht berücksichtigt habe, dass die Gefahr bestehe, dass Bäume umstürzen oder Äste herabfallen und hierdurch Personenschäden verursacht werden könnten. Gemäß der Begründung des Widerspruchsbescheides des Antragsgegners sind derartigen Gefährdungen für Anwohner nicht ersichtlich. Das Verwaltungsgericht hat sich dieser Einschätzung ausdrücklich angeschlossen und sich dabei auf die Einschätzungen des öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für Baumpflege, Verkehrssicherheit von Bäumen und Baumwertermittlung F. zur Stand- und Bruchsicherheit der in Rede stehenden Bäume in seinen Schreiben an den Antragsgegner vom 13. Februar 2012 und 8. April 2013 sowie seinem für den Antragsgegner erstellten Gutachten vom 21. März 2012 gestützt. Prüffähige Gesichtspunkte, die gegen die Richtigkeit dieser fachgutachtlichen Einschätzungen sprechen, ergeben sich aus dem Vorbringen des Antragstellers nicht, insbesondere auch nicht aus dem von ihm im Beschwerdeverfahren vorgelegten Zeitungsartikel.

Ein Ermessensfehler besteht auch nicht deshalb, weil in den Ermessenserwägungen des Antragsgegners das Angebot des Antragstellers unberücksichtigt geblieben ist, anstelle der Bäume, die er zu fällen wünscht, neue Jungbäume anzupflanzen. Denn es drängt sich auf, dass die Jungpflanzen schon wegen ihrer geringen Größe über Jahre hinweg (noch) nicht in gleicher Weise wie die vorhandenen Bäume geeignet wären, Fledermäusen und Spechten als Fortpflanzungs- oder Ruhestätten zu dienen.

Für die Rechtswidrigkeit der Ermessensentscheidung des Antragsgegners spricht schließlich auch nicht das Vorbringen des Antragstellers, es sei nicht erforderlich gewesen, ihm das Fällen sämtlicher Bäume zu untersagen, da sich nur „in vier Bäumen Baumhöhlen zeigen, die potenziell attraktiv für Arten aus den genannten Tier- und Pflanzengattungen (Totholzkäfer, Flechtenfauna, Fledermäuse und Spechte) sein sollen“. Entgegen diesem Vortrag des Antragstellers betrifft der Gefahrenverdacht, dass eine Beseitigung von Bäumen gegen artenschutzrechtliche Verbote verstoßen könnte, nicht nur vier Bäume der Allee. Wie bereits das Verwaltungsgericht zutreffend hervorgehoben hat, ergibt sich aus Schreiben des Sachverständigen F. an den Antragsgegner vom 11. Februar 2015, in dem die bei der am selben Tag durchgeführten Ortsbesichtigung gewonnenen Erkenntnisse festgehalten sind, nicht, dass lediglich vier Bäume des Bestandes, sondern dass „mindestens“ vier Bäume nach äußerem Anschein geeignete Höhlen für Fledermausquartiere aufweisen. Weiterhin heißt es in dem Schreiben, dass an weiteren Bäumen Strukturen vorhanden sind, die mögliche Balzquartiere für bestimmte Fledermausarten bieten. Zudem ließen frische Spuren (begonnener Höhlenbau) auf das Vorkommen von Spechtarten schließen. Hieraus hat der Sachverständige den - nachvollziehbaren - Schluss gezogen, dass die betrachteten Bäume aus der Sicht des Artenschutzes als Gesamtbestand (potentiell) bedeutend ist. Diese Aussagen werden sinngemäß in dem Vermerk des Mitarbeiters des Antragsgegners G. vom 12. Februar 2015 bestätigt. Gesichtspunkte, die dafür sprechen, dass in dem Schreiben und dem Vermerk unrichtige Tatsachenfeststellungen oder fehlerhafte naturschutzfachliche Bewertungen enthalten sind, hat der Antragsteller nicht aufgezeigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Eine Halbierung des in § 52 Abs. 2 GKG geregelten Auffangstreitwertes in Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes nimmt der Senat in ständiger Rechtsprechung nicht vor, da eine Abweichung vom Auffangwert in § 52 Abs. 2 GKG anders als in § 23 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 RVG nicht vorgesehen ist.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).