Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 17.10.2002, Az.: 1 LB 28/02

Aufweitung; Bebauung; Fußweg; Platz; Straße; Vorbildwirkung; Weg

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
17.10.2002
Aktenzeichen
1 LB 28/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43964
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 15.12.2000 - AZ: 2 A 180/99

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine platzartige Aufweitung einer Straße kann eine rückwärtige Bebauung als Abrundung der platzartigen Situation erscheinen lassen und gleichzeitig wegen der singulären städtebaulichen Situation eine Vorbildwirkung ausschließen.

Tatbestand:

1

Die Kläger, die Eigentümer des Grundstücks G. 25 in C. sind, möchten auf dem Grundstück ein zweites Wohnhaus errichten.

2

Das Grundstück G. 25 (Flurstücke 192/16 und 16/2 der Flur 17, Gemarkung C.) liegt auf der Nordseite der Straße G., die in einem von Nord nach Süd stark hängigen Gelände von Osten nach Westen verläuft, und auf der Ostseite eines nicht befahrbaren öffentlichen Weges, der von den Anliegern als H. (oder I.) bezeichnet wird. Die Straße G. ist – von einzelnen Lücken abgesehen – beiderseits mit Wohnhäusern bebaut, die in geringer Entfernung zur Straße liegen. Nur auf dem Grundstück westlich der H. – die Parzelle der H. gehört zu diesem Grundstück – liegt das Bettenhaus der Jugendherberge in einem Abstand von 17 m von der Straße, die durch eine ca. 6 m tiefe Stellplatzfläche auf dem Jugendherbergsgrundstück optisch aufgeweitet erscheint. Das Bettenhaus der Jugendherberge ist auf der Talseite zweigeschossig, auf der Bergseite eingeschossig.

3

Das Grundstück G. 25 ist unregelmäßig geschnitten, weil aus einer ca. 30 m breiten und 40 m tiefen Fläche das mit einem Wohnhaus völlig überbaute ca. 80 m² große Grundstück G. 23 „herausgeschnitten“ ist. Die Häuser G. 23 und 25 sind ohne Grenzabstand aneinandergebaut. In der Südwestecke des Grundstücks G. 25 (westlich des Hauses Nr. 23) steht eine Garage. Der rückwärtige Garten steigt deutlich an. Ca. 10 m von der Straße entfernt hat der Garten von alters her eine Pforte zur H..

4

Der Architekt J. stellte im Auftrag der Familie K. am 9. Februar 1998   eine Bauvoranfrage für die Errichtung eines Wohnhauses hinter dem Wohnhaus G. 23. Damit das Wohnhaus von der Straße erreicht werden kann, soll die Garage in der Südwestecke des Grundstücks G. 25 abgebrochen werden.

5

Mit Bescheid vom 11. Mai 1999 versagte der Beklagte den Bauvorbescheid, weil sich das vorgesehene Wohnhaus als Bebauung in der zweiten Reihe nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Den Widerspruch des Architekten vom 20. Mai 1999 wies die Bezirksregierung mit Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 1999 zurück.

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Mit der am 29. November 1999 erhobenen Klage hat der Architekt vorgetragen, das Vorhaben stelle keine Bebauung in der zweiten Reihe dar, weil es an dem öffentlichen Weg H. liege. Es könne über die H. oder die Straße G. erschlossen werden. Eine negative Vorbildwirkung sei nicht zu befürchten, zumal eine Vielzahl von Grundstücken der näheren Umgebung über derartige Stiegen erschlossen würden.

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Der Kläger hat beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 11. Mai 1999 und den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung F. vom 28. Oktober 1999 aufzuheben und die Bauvoranfrage positiv zu bescheiden.

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Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen,

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und die Begründung der angefochtenen Bescheide wiederholt.

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Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 15. Dezember 2000, auf dessen Begründung Bezug genommen wird, die Klage abgewiesen.

11

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung tragen die Kläger vor, die Einordnung ihres Vorhabens als sog. Hinterlandbebauung lasse die Erschließung über die H. als öffentliche Verkehrsfläche außer Acht. Die bebaubare Fläche dürfe nicht allein von der Straße G. aus beurteilt werden. Darüber hinaus gebe es in der näheren Umgebung eine Reihe schmaler steiler Wege, die Baugrundstücke erschließen. Schließlich liege das Vorhaben aber auch weniger als 50 m von der Straße G. entfernt, so dass ein Zugang zu dieser befahrbaren Straße ausreiche.

12

Die Kläger beantragen,

13

unter Änderung des angefochtenen Urteils nach dem Klageantrag zu erkennen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Berufung der Kläger zurückzuweisen.

16

Er erwidert, das Vorhaben der Kläger stelle eine rückwärtige Bebauung dar, die gerade wegen der zahlreichen Stiegen in C. bodenrechtliche Spannungen mit sich bringe.

17

De Beigeladene schließt sich dem Vorbringen der Kläger an, ohne einen eigenen Antrag zu stellen.

18

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Schriftsätze und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren. Der Senat hat das Grundstück der Kläger und die nähere Umgebung in Augenschein genommen; auf das Protokoll der Ortsbesichtigung vom 16. Oktober 2002 wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

19

Die Berufung der Kläger, die als Grundstückseigentümer im Einverständnis der Beteiligten an die Stelle des Architekten getreten sind, hat Erfolg.

20

Die Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich nach § 34 BauGB, weil das Baugrundstück in einem im Zusammenhang bebauten Ortsteil liegt, aber nicht beplant ist. Nach § 34 Abs. 1 BauGB ist ein Vorhaben zulässig, wenn es sich u.a. – was hier allein umstritten ist – nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Das ist entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts hier der Fall.

21

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 26.5.1978 – 4 C 9.77 -, DVBl 1978, 815) fügt sich ein Vorhaben i.S. des § 34 Abs. 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung ein, wenn es sich innerhalb des städtebaulichen Rahmens hält, der sich aus der als Maßstab beachtlichen Umgebung ableiten lässt. Auch ein Vorhaben, das sich nicht innerhalb des Rahmens hält, kann sich ohne Vorbild in der näheren Umgebung harmonisch einfügen, wenn es weder selbst noch infolge einer nicht auszuschließenden Vorbildwirkung geeignet ist, bodenrechtliche Spannungen zu begründen oder vorhandene Spannungen zu erhöhen.

22

Das vom Kläger vorgesehene Wohnhaus zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht nur weiter von der Straße G. entfernt liegt als fast alle Häuser an dieser Straße, sondern von der Straße G. aus betrachtet in zweiter Reihe hinter dem Haus Nr. 23 liegen soll. Abgesehen vom Bettenhaus der Jugendherberge liegen alle Wohnhäuser nahe an der Straße, während sich hinter den Häusern die Hausgärten erstrecken. Auch das Bettenhaus der Jugendherberge führt nicht zu einer anderen Beurteilung des Rahmens. Dieses Gebäude steht zwar weiter von der Straße entfernt, aber es eröffnet keine zweite Reihe der Bebauung.

23

Da das Merkmal der „rückwärtigen“ Bebauung durch einen bestimmten räumlichen Bezug zur Erschließungsanlage gekennzeichnet wird, kann auch die Lage des Baugrundstücks an einer weiteren Straße für die Zulässigkeit eines Vorhabens im Hinblick auf die überbaubare Fläche Bedeutung gewinnen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 6.11.1997 – 4 B 172.97 -, BRS 59 Nr. 79). Das Grundstück der Kläger liegt nicht nur an der Straße G., sondern auch an der H.. Von diesem Weg aus betrachtet steht das Vorhaben der Kläger nicht in zweiter Reihe. Die H. ist uneingeschränkt dem öffentlichen Verkehr gewidmet und daher grundsätzlich geeignet, der Erschließung der anliegenden Grundstücke zu dienen. Dass sie nicht befahrbar ist, steht dem nicht entgegen, weil unbefahrbare Wege von begrenzter Länge als Wohnwege die Erschließung auch in landesrechtlicher Hinsicht vermitteln können (vgl. Grosse-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, NBauO, 7. Aufl. 2002, § 5 Rdnr. 12). Allerdings haben die Kläger in der Bauvoranfrage die Erschließung nicht von der H., sondern von der Straße G. vorgesehen. Außerdem hat die H. ebenso wie wohl andere Fußwege in der Stadt C. bisher nur die Funktion eines Verbindungsweges und vermittelt nicht einem Bauvorhaben die erforderliche Erschließung. Ob ein einzelner Anlieger eines solchen Weges die Funktion als Verbindungsweg ändern kann, kann hier jedoch offen bleiben, weil das Vorhaben der Kläger auch als rückwärtige Bebauung zulässig ist.

24

Das Vorhaben der Kläger überschreitet als rückwärtige Bebauung den städtebaulichen Rahmen, der aus der Bebauung der Straße G. abzuleiten ist. Gleichwohl ist es zulässig, weil es sich „harmonisch“ in die Bebauung einfügt und keine bodenrechtlichen Spannungen erzeugt. Durch den Parkplatz der Jugendherberge und das weit zurückgesetzte Bettenhaus wird die Straße G. gleichsam platzartig aufgeweitet, so dass das Bauvorhaben der Kläger optisch nicht als Bebauung in der zweiten Reihe erscheint, sondern die Bebauung dieser platzartigen Erweiterung der Straße abrundet. In diesem Punkt unterscheidet sich das Grundstück der Kläger von allen anderen Grundstücken an der Straße G. – und an anderen Stichwegen der näheren Umgebung -, so dass die Zulassung des Vorhabens der Kläger nicht mit einer Vorbildwirkung verbunden ist, die zu bodenrechtlichen Spannungen führen könnte.