Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.10.2023, Az.: 13 ME 183/23

Abschiebung; Abschiebungsverbot; Auslieferung; Aussetzung der Abschiebung; Beschwerde; Entscheidung über die Auslieferung; subjektives Recht; vorläufiger Rechtsschutz; Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 4 AufenthG; Vorrang der Auslieferung vor einer Abschiebung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
19.10.2023
Aktenzeichen
13 ME 183/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 39211
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:1019.13ME183.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 13.09.2023 - AZ: 5 B 3455/23

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    "Entscheidung über die Auslieferung" im Sinne des § 60 Abs. 4 AufenthG ist nicht die gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nach §§ 12 f., 29 ff. IRG, sondern die die Auslieferung bewilligende Entscheidung der nach § 74 IRG zuständigen Behörde.

  2. 2.

    Das formale Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 4 AufenthG vermittelt einem Ausländer keine subjektiven Rechte, wegen derer er eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG beanspruchen könnte.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 5. Kammer - vom 13. September 2023 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes gegen seine sofort vollziehbare Ausweisung aus dem Bundesgebiet.

Der 1980 in der Türkei geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit. Er reiste 1992 in das Bundesgebiet ein, wurde 1995 als Asylberechtigter anerkannt und war seit 1997 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, die seit dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes als Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG fortgalt. 2006 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Anerkennung des Antragstellers als Asylberechtigter und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. Seit 2007 ist der Antragsteller mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet, lebt von dieser aber seit 2015 getrennt. Beide haben zwei gemeinsame, 2006 und 2010 geborene Kinder, die deutsche Staatsangehörige sind.

Der Antragsteller wurde 2006 und seit 2013 wiederholt straffällig. Zuletzt verurteilte ihn das Amtsgericht B-Stadt am 22. Juli 2021 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten und das Landgericht B-Stadt am 21. April 2022 wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung der Entscheidung des Amtsgerichts B-Stadt vom 22. Juli 2021 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten und ordnete die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. Seit Juli 2022 ist der Antragsteller im Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen - B-Stadt (MRVZN B-Stadtl) untergebracht. Nach Anhörung wies die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Bescheid vom 16. Mai 2023 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus dem Bundesgebiet aus, drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an, ordnete gegen ihn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an und befristete dieses auf den Zeitraum von sechs Jahren und acht Monaten ab dem Zeitpunkt der erfolgten Ausreise.

Bereits unter dem 18. Februar 2022 ersuchte die Türkei um Auslieferung des Antragstellers aus Deutschland in die Türkei zur Strafverfolgung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Dem lag ein Haftbefehl des 8. Schwurgerichts in Izmir vom 14. Juli 2021 zu Grunde, der wegen einer von der Staatsanwaltschaft Izmir am 3. Juni 2020 gegen den Antragsteller und weitere Personen erhobenen Anklage ergangen war. Dem Antragsteller wird zur Last gelegt, im Januar 2020 gemeinsam mit weiteren Personen an der bandenmäßigen Einfuhr von Betäubungsmitteln aus dem europäischen Ausland in die Türkei beteiligt gewesen zu sein. Mit Beschluss vom 12. Dezember 2022 ordnete das Oberlandesgericht Celle zum Zwecke der Auslieferung an die Justizbehörden der Republik Türkei zur Strafverfolgung wegen der im Auslieferungsersuchen vom 18. Februar 2022 bezeichneten Straftat die förmliche Auslieferungshaft gegen den Antragsteller an. Die hiergegen erhobenen Einwendungen des Antragstellers wies das Oberlandesgericht Celle unter Aufrechterhaltung des Auslieferungshaftbefehls mit Beschluss vom 6. April 2023 zurück. Mit Beschluss vom 5. Juni 2023 stellte das Oberlandesgericht Celle unter Aufrechterhaltung des Auslieferungshaftbefehls die Entscheidung über den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Celle, die Auslieferung des Antragstellers an die Justizbehörden der Republik Türkei zur Strafverfolgung wegen der im Auslieferungsersuchen vom 18. Februar 2022 bezeichneten Straftat für zulässig zu erklären, zunächst zurück und gab den türkischen Justizbehörden Gelegenheit, ergänzende Informationen zur Art und Weise der Teilnahme des Antragstellers an der im Fall seiner Auslieferung anstehenden Hauptverhandlung wegen der ihm in dem Auslieferungsersuchen vorgeworfenen Tat zu übermitteln. Mit Beschluss vom 4. September 2023 erklärte das Oberlandesgericht Celle die Auslieferung des Antragstellers an die türkischen Justizbehörden zur Strafverfolgung wegen der im Auslieferungsersuchen vom 18. Februar 2022 bezeichneten Straftat und die Aufschiebung der Übergabe des Antragstellers bis zur Erledigung der in Deutschland bestehenden Strafansprüche für zulässig und hielt den Auslieferungshaftbefehl aufrecht. Mit weiterem Beschluss vom 15. September 2023 lehnte das Oberlandesgericht Celle eine erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung und einen Antrag des Antragstellers auf Aufschub seiner Auslieferung an die türkischen Justizbehörden ab und hielt auch den Auslieferungshaftbefehl aufrecht.

Bereits am 19. Juni 2023 hat der Antragsteller gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Mai 2023 bei dem Verwaltungsgericht Hannover Klage erhoben (5 A 3454/23), zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht und beantragt, die aufschiebende Wirkung seiner Klage wiederherzustellen. Diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht Hannover mit Beschluss vom 13. September 2023 abgelehnt. Gegen diesen Beschluss hat der Antragsteller Beschwerde eingelegt, mit der er sein erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die Beiakten verwiesen.

II.

1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 5. Kammer - vom 13. September 2023 bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den sinngemäß ausgelegten Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Mai 2023 verfügte sofort vollziehbare Ausweisung wiederherzustellen und gegen die in demselben Bescheid verfügte Abschiebungsandrohung anzuordnen (Beschl. v. 13.9.2023, S. 9), der im Beschwerdeverfahren ersichtlich unverändert weiterverfolgt wird (vgl. die Beschwerdeschrift v. 26.9.2023, S. 2 = Blatt 133R der Gerichtsakte), zutreffend abgelehnt. Die hiergegen mit der Beschwerde geltend gemachten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO im Beschwerdeverfahren zu beschränken hat, gebieten eine Änderung der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung nicht.

a) Der Antragsteller beanstandet mit der Beschwerde zum einen die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass das Ausweisungsinteresse deshalb das Bleibeinteresse überwiege, weil er - der Antragsteller - seine Drogentherapie noch nicht abgeschlossen habe und aufgrund der zeitnah drohenden Aufenthaltsbeendigung auch nicht abschließen werde. Dies berücksichtige nicht hinreichend, dass er sich erstmals einer Drogenentwöhnungstherapie unterziehe und bereits nicht unerhebliche Erfolge erzielt habe. Es sei auch mit einem erfolgreichen Abschluss der Therapie zu rechnen, da wegen des laufenden Auslieferungsverfahrens eine zeitnahe Aufenthaltsbeendigung nicht erfolgen werde.

Mit diesem Beschwerdevorbringen hat der Antragsteller für den Senat nicht nachvollziehbar aufgezeigt, dass die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Mai 2023 verfügte, spezialpräventiv motivierte Ausweisung deshalb rechtswidrig sein könnte, weil die nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG erforderliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch die Begehung weiterer Straftaten des Antragstellers im Bundesgebiet entfallen oder das Gewicht des Ausweisungsinteresses derart reduziert wäre, dass es im Rahmen der Abwägung mit den widerstreitenden Bleibeinteressen nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 AufenthG diese nicht mehr überwöge. Das Verwaltungsgericht hat die Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG und das Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses im Rahmen der Abwägung nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 AufenthG vielmehr anhand eines richtigen rechtlichen Maßstabs (vgl. bspw. Senatsurt. v. 6.5.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 38 und 49 m.w.N.) unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des konkreten Einzelfalls zutreffend bejaht (Beschl. v. 13.9.2023, S. 14 ff.) und dabei auch der vom Antragsteller begonnenen Drogenentwöhnungstherapie das richtige Gewicht beigemessen (Beschl. v. 13.9.2023, S. 18 ff.). Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass bei Straftaten, die auch auf der Suchterkrankung eines Ausländers beruhen, von einem Wegfall der für eine Ausweisung erforderlichen Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen jedenfalls nicht ausgegangen werden kann, bevor der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende durch eine tatsächliche Bewährung außerhalb eines Straf- oder Maßregelvollzugs glaubhaft gemacht hat (vgl. bspw. Senatsbeschl. v. 11.5.2023 - 13 LA 43/23 -, juris Rn. 15; Senatsbeschl. v. 25.4.2023 - 13 LA 268/22 -, V.n.b. Umdruck S. 3 f.; Senatsbeschl. v. 15.6.2022 - 13 ME 126/22 -, V.n.b. Umdruck S. 3 f.; Senatsurt. v. 11.7.2018 - 13 LB 44/17 -, juris Rn. 94 ff.; Senatsbeschl. v. 15.8.2017 - 13 LA 52/17 -, V.n.b. Umdruck S. 3 f.). Diese Voraussetzungen sind im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch nach dem Vorbringen des Antragstellers nicht erfüllt. Angesichts der jahrelangen Delinquenz, der Einbindung des Antragstellers in Strukturen der organisierten Kriminalität, der noch nicht erfolgreich abgeschlossenen Drogenentwöhnungstherapie und einer nicht gegebenen Bewährung des Antragstellers ohne Einbindung in und Aufsicht durch staatliche Vollzugstrukturen bestehen auch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass das Gewicht des öffentlichen Ausweisungsinteresses bereits derart signifikant reduziert sein könnte, dass es hinter die widerstreitenden privaten Bleibeinteressen zurückzutreten hätte.

Im Übrigen ist das Beschwerdevorbringen auch deshalb nicht geeignet, das Ergebnis der erstinstanzlichen Entscheidung in Zweifel zu ziehen (vgl. zum Maßstab der Ergebnisrichtigkeit nach § 146 Abs. 4 VwGO: Senatsbeschl. v. 25.7.2014 - 13 ME 97/14 -, NordÖR 2014, 502 f.- juris Rn. 4).), weil es sich auf den selbstständig tragenden Grund der generalpräventiv motivierten Ausweisung (Beschl. v. 13.9.2023, S. 20 f.) gar nicht bezieht.

b) Der Antragsteller macht mit seiner Beschwerde zum anderen geltend, das Verwaltungsgericht habe fehlerhaft das einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehende Auslieferungsverfahren unbeachtet gelassen. Er habe gegen den Auslieferungshaftbefehl und auch gegen die Entscheidungen des Oberlandesgerichts Celle vom 4. und 15. September 2023 Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht (2 BvR 1368/23) erhoben und zugleich Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, über den noch nicht entschieden worden sei. Das zeitweise Abschiebungsverbot formaler Art nach § 60 Abs. 4 AufenthG bestehe fort. Es ende erst mit der Zustimmung der nach § 74 IRG zuständigen Behörde zur Abschiebung, spätestens aber mit der Entscheidung über die Auslieferung. "Entscheidung über die Auslieferung" sei nicht die Entscheidung des Oberlandesgerichts nach §§ 12 f. IRG, sondern die Entscheidung der nach § 74 IRG zuständigen Behörde. Es wäre widersprüchlich, zwar die Zulässigkeit einer vorzeitigen Abschiebung von der Zustimmung der Behörde abhängig zu machen, dieser aber hinsichtlich der Abschiebung nach Abschluss des Zulässigkeitsverfahrens keinerlei Bedeutung mehr zuzumessen. Die danach erforderliche Entscheidung der § 74 IRG zuständigen Behörde liege noch nicht vor. Im Übrigen sei auch die noch anhängige Verfassungsbeschwerde zu berücksichtigen.

Auch diese Einwände verhelfen der Beschwerde nicht zum Erfolg. Der Antragsteller hat schon nicht aufgezeigt, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 4 AufenthG entgegen § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dem Erlass der Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG entgegensteht. Auch eine - hier zudem nicht beantragte - Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann der Antragsteller nicht deshalb beanspruchen, weil ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 4 AufenthG besteht.

Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer gemäß § 60 Abs. 4 AufenthG bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 IRG für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden. § 60 Abs. 4 AufenthG ordnet ein zeitweises Abschiebungsverbot formaler Art an, das einen Vorrang der Auslieferung vor der Abschiebung sichern soll (so ausdrücklich der Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, BT-Drs. 11/6321, S. 75 (zu § 53 Abs. 3 AuslG): "Absatz 3 sichert den Vorrang der Auslieferung vor der Abschiebung.", und der Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), BT-Drs. 15/420, S. 91 (zu § 60 AufenthG): "Die Absätze 2 bis 7 entsprechen inhaltlich § 53 AuslG."; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 30.3.1993 - 11 S 529/93 -, juris Rn. 11; Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 60 AufenthG Rn. 52 (Stand: Februar 2020); Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1793). Für das Entstehen (und auch den Untergang) des formalen Abschiebungsverbots unerheblich sind daher die das Auslieferungs- oder Festnahmeersuchen des anderen Staates tragenden Gründe, die gegen den Ausländer erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe und prinzipiell auch der Ausgang des Auslieferungsverfahrens (vgl. aber zur möglichen wechselseitigen Beeinflussung von Auslieferungsverfahren und aufenthaltsrechtlicher Abschiebung: Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 60 AufenthG Rn. 115; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1794; Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, AufenthG, § 60 Rn. 33 (Stand: 1.7.2020)).

aa) Dies zugrunde gelegt ist die "Entscheidung über die Auslieferung" im Sinne des § 60 Abs. 4 AufenthG nicht die gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nach §§ 12 f., 29 ff. IRG, sondern die die Auslieferung bewilligende Entscheidung der nach § 74 IRG zuständigen Behörde (so auch Hruschka/Mantel, in: Huber/Mantel, AufenthG, 3. Aufl. 2021, § 60 Rn. 15; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1794; a.A. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 30.3.1993 - 11 S 529/93 -, juris Rn. 11; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 60 AufenthG Rn. 114).

Der Wortlaut des § 60 Abs. 4 AufenthG ("Entscheidung über die Auslieferung") steht dieser Auslegung nicht entgegen. Denn der insoweit ersichtlich in Bezug genommene Wortlaut des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) verwendet den Begriff der "Entscheidung" nicht nur für die gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung im Verfahren nach §§ 29 ff. IRG. "Entscheidungen" können nach dem Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vielmehr neben den Gerichten (vgl. bspw. §§ 13, 21, 22 Abs. 3, 23 und 29 ff. IRG) auch die Staatsanwaltschaft (vgl. bspw. §§ 40 Abs. 7 Satz 3, 80 Abs. 2 Satz 4, 84e und 84h IRG) und andere Behörden (vgl. bspw. §§ 34 Abs. 2 Nr. 2, 74 Abs. 1 und 2 und 74a IRG) treffen. Insbesondere die eigentliche "Bewilligung" der Auslieferung nach § 12 IRG durch die nach § 74 IRG zuständige Behörde wird in dieser Zuständigkeitsbestimmung dem Bereich der (behördlichen) Entscheidungen zugewiesen (vgl. § 74 Abs. 1 Satz 1 IRG: "Über ausländische Rechtshilfeersuchen und über die Stellung von Ersuchen an ausländische Staaten um Rechtshilfe entscheidet das Bundesministerium der Justiz im Einvernehmen mit ..."; § 74 Abs. 2 Satz 1 IRG: "Die Bundesregierung kann die Ausübung der Befugnis, über ausländische Rechtshilfeersuchen zu entscheiden und ausländische Staaten um Rechtshilfe zu ersuchen, im Wege einer Vereinbarung auf die Landesregierungen übertragen.").

Auch den bereits zitierten Gesetzesmaterialen (siehe oben II.1.b): Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, BT-Drs. 11/6321, S. 75 (zu § 53 Abs. 3 AuslG), und Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), BT-Drs. 15/420, S. 91 (zu § 60 AufenthG)), sind keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass "Entscheidung über die Auslieferung" im Sinne des § 60 Abs. 4 AufenthG die gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nach §§ 12 f., 29 ff. IRG sein soll.

Der vom Gesetzgeber mit § 60 Abs. 4 AufenthG verfolgte Zweck, den Vorrang der Auslieferung vor einer Abschiebung zu sichern, und die Systematik des in Bezug genommenen Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen sprechen vielmehr dafür, dass "Entscheidung über die Auslieferung" die die Auslieferung nach § 12 IRG bewilligende Entscheidung der nach § 74 IRG zuständigen Behörde ist.

Denn der Vorrang der Auslieferung vor einer Abschiebung ist nur dann in Gänze gewährleistet, wenn eine Abschiebung solange ausgeschlossen ist, bis das Auslieferungsverfahren durch die von der zuständigen deutschen Behörde gegenüber dem um die Auslieferung ersuchenden anderen Staat getroffene (positive oder negative) Entscheidung über die Bewilligung der Auslieferung (sog. Bewilligungsverfahren) abgeschlossen ist. Das gerichtliche Verfahren über die Zulässigkeit der Auslieferung nach §§ 12 f., 29 ff. IRG (sog. Zulässigkeitsverfahren) ist ein bloßer Bestandteil des Auslieferungsverfahrens und der Bewilligungsentscheidung regelmäßig vorgeschaltet; es schließt das Auslieferungsverfahren aber nicht ab. Zwar ist die Bewilligungsentscheidung (innerstaatlich) an eine negative Zulässigkeitsentscheidung gebunden; das Auslieferungsverfahren ist aber auch in diesem Fall erst mit der (negativen) Bewilligungsentscheidung abgeschlossen. Liegt hingegen eine positive Zulässigkeitsentscheidung vor, ist die Bewilligungsentscheidung inhaltlich an diese nicht gebunden und die Bewilligung kann aus allgemein- oder außenpolitischen sowie anderen öffentlichen Gründen gleichwohl versagt werden. Im Übrigen kann die für die Bewilligung zuständige Behörde von der Einleitung eines Zulässigkeitsverfahrens von vorneherein absehen, wenn sie die Bewilligung unabhängig vom Ausgang eines Zulässigkeitsverfahrens versagen will, etwa weil keine Auslieferungspflicht besteht und sich die Bundesrepublik Deutschland aus politischen Gründen festgelegt hat, (generell) nicht in einen Auslieferungsverkehr mit dem ersuchenden anderen Staat einzutreten oder (individuell) den Verfolgten nicht auszuliefern, oder wenn sie die Bewilligung ohne Durchführung eines Zulässigkeitsverfahrens erteilen darf, etwa wenn sich der Verfolgte unter den Voraussetzungen des § 41 IRG mit einer vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt hat (vgl. zu Vorstehendem und allgemein zum Verhältnis zwischen Zulässigkeits- und Bewilligungsverfahren bei der Auslieferung: Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 12 IRG Rn. 2 ff. (Stand: 4/2012); König/Voigt, in: Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl. 2020, § 12 IRG Rn. 145 ff. jeweils m.w.N.). Das durch § 60 Abs. 4 AufenthG geschützte Primat der Auslieferung, mithin der von der zuständigen deutschen Behörde gegenüber dem um die Auslieferung ersuchenden anderen Staat zu treffenden Bewilligungsentscheidung, wäre gefährdet, wenn eine Abschiebung schon nach der gerichtlichen Zulässigkeitsentscheidung, aber vor der behördlichen Bewilligungsentscheidung zugelassen würde. Letzteres würde zudem zu (ungewollten) Lücken in der Anwendung § 60 Abs. 4 AufenthG in den Fällen führen, in denen eine gerichtliche Zulässigkeitsentscheidung nicht eingeholt wird oder nicht erforderlich ist. Schließlich sorgt die Anknüpfung des grundsätzlichen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 4 AufenthG an die behördliche Bewilligungsentscheidung auch für einen normsystematischen Gleichklang mit der in dieser Bestimmung enthaltenen Ausnahme, wonach schon vor der behördlichen Bewilligungsentscheidung eine Abschiebung zugelassen ist, wenn die Behörde, die nach § 74 IRG für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, hierzu ihre Zustimmung erteilt hat.

Nach diesem Maßstab besteht derzeit noch ein formales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 4 AufenthG. Es liegt ein formelles Auslieferungsersuchen der Türkei vor. Zwar ist die gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nach §§ 29 ff. IRG vom OLG Celle mit Beschluss vom 4. September 2023 - 2 AR (Ausl) 108/22 - bereits getroffen worden. Dass eine das Auslieferungsverfahren abschließende Bewilligungsentscheidung der nach § 74 IRG zuständigen Behörde getroffen worden ist oder dass diese Behörde einer Abschiebung zugestimmt hat, ist von der Antragsgegnerin aber bisher nicht aufgezeigt worden.

bb) Das formale Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 4 AufenthG vermittelt einem Ausländer aber keine subjektiven Rechte, wegen derer er eine Aussetzung seiner Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG beanspruchen könnte.

Subjektive Rechte setzen eine Schutznorm voraus, die den von ihrem Regelungsgehalt Betroffenen nach dem in ihr enthaltenen Entscheidungsprogramm zu schützen bestimmt ist und diesen die Rechtsmacht verleiht, eine Verletzung der Norm insbesondere vor Gericht geltend zu machen. Fehlt es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Normierung, setzt dies, soweit es um ein subjektiv-öffentliches Recht im Verhältnis Bürger-Staat geht, bei dem die Klagbarkeit durch Art. 19 Abs. 4 GG sichergestellt wird, zum einen voraus, dass sich aus individualisierenden Tatbestandsmerkmalen der Norm ein Personenkreis entnehmen lässt, der sich von der Allgemeinheit hinreichend unterscheidet. Aus dem Schutzzweck der Norm muss sich zum anderen ergeben, dass sie unmittelbar (auch) dem rechtlichen Interesse dieses Personenkreises zu dienen bestimmt ist und nicht nur tatsächlich, also reflexartig, seine Rechte berührt (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 27.9.018 - BVerwG 7 C 23.16 -, juris Rn. 14 m.w.N.).

Hieran gemessen vermittelt § 60 Abs. 4 AufenthG dem von einem Auslieferungsersuchen betroffenen Ausländer kein subjektives Recht auf Abschiebungsschutz (so auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 30.3.1993 - 11 S 529/93 -, juris Rn. 11; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1793; Koch, in: BeckOK Ausländerrecht, § 60 AufenthG Rn. 31 (Stand: 1.7.2020)). Wie dargestellt (siehe oben II.1.b) und II.1.b)aa)) sichert das bloß formale Abschiebungsverbot den Vorrang der Auslieferung vor einer Abschiebung allein in staatlichem Interesse. Die von der zuständigen deutschen Behörde gegenüber dem um die Auslieferung ersuchenden anderen Staat zu treffende (positive oder negative) Entscheidung über die Bewilligung der Auslieferung soll nicht durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen vorweggenommen oder unterlaufen werden, sondern hiervon unbeeinflusst getroffen werden können. Der widerstreitende Hinweis auf Schutzgarantien des Auslieferungsverfahrens für den strafrechtlich verfolgten Ausländer (vgl. dahingehend: Hruschka/Mantel, in: Huber/Mantel, AufenthG, 3. Aufl. 2021, § 60 Rn. 15) trägt insoweit nichts aus. Zum einen können diese nach § 60 Abs. 4 AufenthG schon dadurch überwunden werden, dass die nach § 74 IRG für die Auslieferung zuständige Behörde gegenüber der Ausländerbehörde einer Abschiebung zustimmt (vgl. zur Anfechtbarkeit der Bewilligungsentscheidung als solcher: BVerfG, Urt. v. 18.7.2005 - 2 BvR 2236/04 -, BVerfGE 113, 273, 309 ff. - juris Rn. 101 ff.). Dies verdeutlicht, dass ein durch § 60 Abs. 4 AufenthG etwa eintretender Schutz der Durchführung des auch im Interesse des betroffenen verfolgten Ausländers liegenden gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens nach §§ 29 ff. IRG ein bloßer Rechtsreflex des formalen Abschiebungsverbots ist. Zum anderen sind insbesondere zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG im aufenthaltsrechtlichen Verfahren der Abschiebung - regelmäßig unbeeinflusst vom Stand und Ausgang des Auslieferungsverfahrens (vgl. hierzu Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1794) - von den Ausländerbehörden und in einem darauf bezogenen gerichtlichen Verfahren von den Verwaltungsgerichten selbständig zu prüfen (vgl. Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 60 AufenthG Rn. 52 f. (Stand: Februar 2020)).

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG sowie Nrn. 8.2 und 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).