Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 17.10.2023, Az.: 9 LA 83/23

elektronischer Rechtsverkehr; Fax; Klageschrift; Naturalpartei; Nutzungspflicht; Unzulässige Klageerhebung per Fax durch Rechtsanwalt entgegen § 55d VwGO

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
17.10.2023
Aktenzeichen
9 LA 83/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 38478
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:1017.9LA83.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - 06.07.2023 - AZ: 3 A 87/23

Fundstellen

  • DÖV 2024, 168
  • FA 2023, 301
  • NVwZ 2023, 1855-1856
  • ZUR 2024, 102-103

Amtlicher Leitsatz

Die unterschiedlichen Vorgaben für die Einreichung der Klageschrift durch die Rechtsanwälte einerseits und durch die Naturalpartei andererseits sind gerechtfertigt.

Tenor:

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das ohne mündliche Verhandlung ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 3. Kammer (Einzelrichterin) - vom 6. Juli 2023 wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht Lüneburg die auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf die Gewährung subsidiären Schutzes, weiter hilfsweise auf die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote, weiter hilfsweise auf die Aufhebung der Ausreiseaufforderung und äußerst hilfsweise auf die Aufhebung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gerichtete Klage der Klägerin abgewiesen.

Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei erst nach Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist (§ 74 Abs. 1 Satz 1 AsylG) bei Gericht eingegangen und deshalb unzulässig. Bei der Klageerhebung - wie hier - per Fax durch einen Rechtsanwalt handele es sich um keine zulässige Klageerhebung. Bei einem Verstoß gegen § 55d Satz 1 VwGO sei eine Prozesserklärung nicht wirksam. Es handele sich vorliegend auch nicht um einen Fall der sogenannten Ersatzeinreichung gemäß § 55d Satz 3 VwGO. Der Umstand, dass dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin keine PIN für das besondere elektronische Anwaltspostfach vorlegen habe, stelle hier keinen technischen Grund dar, weshalb die Übermittlung auf elektronischem Wege nicht möglich gewesen sei. Die rechtzeitige Beantragung des PINs für das besondere elektronische Anwaltspostfach gehöre in den Pflichtenkreis des Prozessbevollmächtigten und sei kein unabwendbares technisches Problem. Der Klägerin sei auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die rechtzeitige Beantragung des PINs für das besondere elektronische Anwaltspostfach, welche der Prozessbevollmächtigte der Klägerin versäumt habe, gehöre in seinen Pflichtenkreis, dessen Unterlassen er grundsätzlich zu vertreten habe. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe nicht glaubhaft gemacht, dass er die Klagefrist ohne eigenes Verschulden versäumt habe.

Die Klägerin hat den allein geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechenden Weise dargelegt.

Eine Rechtssache ist grundsätzlich bedeutsam i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, wenn sie eine höchstrichterlich oder - soweit es eine Tatsachenfrage betrifft - obergerichtlich noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsfähig wäre und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fall-übergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (vgl. Senatsbeschluss vom 23.8.2021 - 9 LA 143/20 - juris Rn. 3).

Daran gemessen kommt die Zulassung der Berufung wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Sache nicht in Betracht.

Die Klägerin hat die Frage aufgeworfen,

"inwieweit es dem Unterzeichnenden und somit der Klägerin und Berufungsklägerin zuzurechnen ist, wenn gesetzlich geänderte Zustellungsvorschriften dazu führen, dass eine herkömmliche Klageeinlegung nicht mehr möglich ist".

Hierzu trägt die Klägerin vor, sie sei ohne ihr Verschulden gehindert gewesen, die Klagefrist nach den gesetzlichen Vorschriften einzuhalten, weil ihr Prozessbevollmächtigter am 1. Januar 2023 das elektronische System umgestellt habe und ihm von der Bundesnotarkammer nicht rechtzeitig zum Jahreswechsel ein neuer PIN übermittelt worden sei.

Einer grundsätzlichen Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Frage steht bereits die Formulierung der Frage entgegen, welche auf die Klägerin und ihren Prozessbevollmächtigten und mithin auf den vorliegenden konkreten Einzelfall bezogen ist.

Die Frage ist jedoch auch im Übrigen nicht grundsätzlich klärungsfähig, sondern lässt sich nur anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls beantworten:

§ 55d Satz 1 VwGO verpflichtet - wie auch das Verwaltungsgericht schon ausgeführt hat - Rechtsanwälte, vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument zu übermitteln. Diese Vorschrift bezieht sich auf alle an das Gericht adressierten Schriftsätze, Anträge und Erklärungen (vgl. BT-Drs. 17/12634, S. 27 zu § 130d ZPO; Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 55d Rn. 5), also auch auf die Einreichung der Klageschrift (Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 55d Rn. 2). Eine Übermittlung in Papierform ist nur zulässig, wenn eine elektronische Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend unmöglich ist. Die vorübergehende Unmöglichkeit ist bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen (vgl. § 55d Satz 3 und 4 VwGO). Wird die elektronische Form des § 55d Satz 1 VwGO nicht beachtet, ohne dass die Voraussetzungen des § 55d Satz 3 und 4 VwGO erfüllt sind, führt dies zur Unwirksamkeit der in Papierform eingereichten Erklärungen und zur Unzulässigkeit damit erhobener Rechtsmittel (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.12.2022 - 8 B 51.22 - juris Rn. 2).

Ob aber eine vorübergehende Unmöglichkeit glaubhaft gemacht worden ist - sie also dem Beteiligten nicht "zuzurechnen" ist -, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und kann nicht grundsätzlich geklärt werden. Gleiches gilt für die Frage, ob die Voraussetzungen des § 60 VwGO für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorliegen.

Die Klägerin stellt weiter die Frage,

"inwieweit bei der Verpflichtung eines Rechtsanwalts die elektronische Übermittlung zu wählen, ein Verstoß gegen Art. 3 GG vorliegt".

Sie trägt hierzu vor, dass - wenn sie, die Klägerin, selbst die Klage per Post, per Telefax oder persönlichen Einwurf in den Postbriefkasten des Gerichts eingelegt hätte - diese Form der Zustellung verfahrensrechtlich zulässig gewesen wäre.

Diese Frage bedarf keiner grundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren, sondern lässt sich mit dem Sinn und dem Zweck des § 55d VwGO verneinen.

Die gesetzliche Nutzungsverpflichtung gemäß § 55d VwGO für sogenannte "professionelle Einreicher" (vgl. BR-Drs. 503/12, S. 1) dient dazu, den elektronischen Rechtsverkehr zu etablieren. Denn selbst bei freiwilliger Bereitschaft einer Mehrheit der Rechtsanwälte würde die Nichtnutzung durch eine qualifizierte Minderheit immer noch zu erheblichen Druck- und Scanaufwänden bei den Gerichten und bei Rechtsanwälten führen, welche die Vorteile des elektronischen Rechtsverkehrs nutzen wollen. Die Justiz müsste genauso wie ihre Kommunikationspartner mit erheblichen Investitionen in Vorlage treten, ohne die Gewissheit zu haben, dass tatsächlich die für einen wirtschaftlichen Betrieb erforderliche Nutzung erfolgt (vgl. BT-Drs. 17/12634, S. 27 zu § 130d ZPO).

Für Bürger ist hingegen die Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr angesichts der erforderlichen besonderen technischen Voraussetzungen weiterhin freiwillig. Dies folgt aus dem Justizgewährleistungsanspruch des Art. 19 Abs. 4 GG (vgl. Braun Binder in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 55d Rn. 7).

Dies rechtfertigt die unterschiedlichen Vorgaben für die Einreichung der Klageschrift durch Rechtsanwälte einerseits und durch die Naturalpartei andererseits.

Soweit die Klägerin im Einzelnen ausführt, weshalb ihr ihrer Meinung nach gemäß § 60 VwGO Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist hätte gewährt werden müssen, wendet sie sich gegen die Sachverhaltswürdigung durch das Verwaltungsgericht und macht dem Grunde nach ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils geltend. Diesen Zulassungsgrund sieht § 78 Abs. 3 AsylG im Gegensatz zu § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO aber nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).