Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 20.10.2023, Az.: 1 ME 73/23

Allgemeines Wohngebiet; Bauvorlagen; Beherbergungsbetrieb; Betriebsbeschreibung; Gewerbelärm; gewerbliche Nutzung; Gutachten; Lärmgutachten; Schallimmissionsprognose; schalltechnische Untersuchung; TA Lärm; Vorbelastung; Erforderlichkeit von Gutachten im Baugenehmigungsverfahren

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
20.10.2023
Aktenzeichen
1 ME 73/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 40725
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:1020.1ME73.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 16.05.2023 - AZ: 2 B 145/23

Fundstellen

  • DÖV 2024, 165
  • KommJur 2024, 12-14
  • NordÖR 2024, 94

Amtlicher Leitsatz

Bestehen Anhaltspunkte, dass die maßgeblichen Immissionsrichtwerte an benachbarten Schutzobjekten überschritten sein können, ist eine genauere Betrachtung des Vorhabens im Genehmigungsverfahren erforderlich. Je nach den Umständen des Einzelfalls erfordert dies nicht zwingend die Erstellung eines Gutachtens. Es kann auch genügen, die Lärmpegel an den maßgeblichen Immissionspunkten nach den allgemeinen Regeln der Schallausbreitung und unter Einbeziehung nachvollziehbarer Erkenntnisse aus vergleichbaren Vorhaben zu schätzen. Um etwaigen Ungenauigkeiten Rechnung zu tragen, wird in diesen Fällen aber regelmäßig zu verlangen sein, dass das Vorhaben hinsichtlich der Einhaltung der maßgeblichen Immissionsrichtwerte deutlich auf der sicheren Seite liegt.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 2. Kammer - vom 16. Mai 2023 geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 24. Juni 2022 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für beide Rechtszüge auf 12.500 EUR festgesetzt; insoweit wird die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung geändert.

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Hotel Garni mit insgesamt 58 Betten, verteilt auf 29 Zimmer.

Die Antragsteller sind je zur Hälfte Miteigentümer des mit einem Einfamilienhaus bebauten Hinterliegergrundstücks I. (Flurstück J., Flur 1, Gemarkung K.). Sie sind verheiratet und haben nach eigenen Angaben Gütertrennung vereinbart. Die Antragstellerin zu 1. ist zudem Eigentümerin des westlich angrenzenden Grundstücks L., das mit einem Wohnhaus bebaut ist. In diesem vermietet die Antragstellerin seit dem Jahr 1979 ohne eine entsprechende Baugenehmigung zwei Ferienwohnungen.

Die Beigeladene ist Eigentümerin der östlich an das Antragstellergrundstück angrenzenden Grundstücke M. und N. (Flurstücke O. und P., Flur 1, Gemarkung K.). Diese waren ursprünglich in ihrem nördlichen Teil mit einem kleinen Einfamilienhaus und kleinen Nebenanlagen bebaut. Östlich schließt sich die Strandhausallee an.

Sämtliche Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 103 "Am Heinrich-Grube-Weg", in Kraft getreten am 10. April 2003. Der hier maßgebliche Teilbereich A wird nördlich durch die Steinmarner Straße, östlich durch die Strandhausallee und südlich durch den Heinrich-Grube-Weg begrenzt. Die westliche Grenze verläuft im Norden zwischen den Grundstücken Steinmarner Straße 107 und 109, weiter südlich östlich der Häuserzeile Alter Duhner Weg 1A-C und schließt den Wohnpark Weser A-Stadt mit ein. Mit Ausnahme des südöstlichen Teils, in dem ein Sonstiges Sondergebiet für großflächige und sonstige Einzelhandelsbetriebe - nach Norden abgegrenzt durch Flächen zum Immissionsschutz - festgesetzt ist, weist der Plan Allgemeine Wohngebiete aus. In den entlang der Steinmarner Straße festgesetzten WA1 beträgt die festgesetzte Grundflächenzahl 0,4 und die Geschossflächenzahl 0,8. Die Zahl der Vollgeschosse begrenzt der Plan auf zwei. Die überbaubare Fläche wird durch Baufenster bestimmt, die - im Norden direkt an der Steinmarner Straße beginnend - überwiegend eine Bebauungstiefe von knapp 20 m ermöglichen. Für die zur Steinmarner Straße in zweiter Reihe liegenden Allgemeinen Wohngebiete (= WA2) ist eine Grundflächenzahl von 0,3, maximal ein Vollgeschoss sowie die abweichende Bauweise in der Weise festgesetzt, dass grundsätzlich die offene Bauweise gilt, die Gebäude aber eine Länge von 18 m nicht überschreiten dürfen (vgl. TF Nr. 3).

Der Antragsgegner erteilte der Beigeladenen ohne vorherige Nachbarbeteiligung und auf der Grundlage diverser Befreiungen (Baugrenze, GRZ, abweichende Bauweise, GFL-Fläche, Anzahl der Vollgeschosse) unter dem 24. Juni 2022 eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Hotel Garni mit 29 Zimmern und 58 Betten. Das geplante Gebäude hat eine Länge von 36,49 m und eine Traufhöhe von 10,25 m (nördlicher Teil) bzw. 7,18 m (südlicher Teil). Auf der Westseite sollen Balkone und Terrassen entstehen. Mit Ausnahme eines sog. Anreisestellplatzes nördlich des Gebäudes entstehen die geplanten 23 Stellplätze in einer Tiefgarage, die über ein Rolltor am Südende des Gebäudes in einem Bogen von Strandhausallee erreicht wird.

Den nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobenen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht abgelehnt. Die Antragsteller könnten sich aufgrund der von ihnen selbst betriebenen, ungenehmigten Vermietung von Ferienwohnungen nicht auf den Gebietserhaltungsanspruch berufen. Diese sei in einem Allgemeinen Wohngebiet unzulässig. Auf die weiteren Festsetzungen des Bebauungsplans, sofern dieser wirksam sei, könnten sich die Antragsteller nicht berufen. Es sei nicht ersichtlich, dass der Plangeber der Festsetzung zu den Baufenstern nachbarschützende Wirkung beimessen wollte. Die offene Bauweise habe zwar drittschützende Wirkung, aber nur soweit sie die Einhaltung des Grenzabstands sichere. Dieser werde ungeachtet der erteilten Befreiung im maßgeblichen Grenzbereich eingehalten. Die übrigen Befreiungen beträfen das Maß der baulichen Nutzung, für das aus dem Bebauungsplan kein drittschützender Charakter herzuleiten sei. Gleiches gelte für die Befreiung von der maximalen Gebäudelänge. Das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt. Das Vorhaben habe keine erdrückende Wirkung. Die hierfür erforderliche Ausnahmesituation sei nicht gegeben; das Grundstück der Antragsteller sei weiterhin nach drei Seiten hin "offen". Auch die Einfahrt zur Tiefgarage erweise sich gegenüber den Antragstellern nicht als rücksichtslos. In dem Bereich, in dem ihr Haus in den Lichtkegel der Scheinwerfer geraten könne, werde die Rampe bereits 1 m unter Geländeniveau geführt. Zudem seien in diesem Bereich zwei versetzt zueinander stehende Bäume zu pflanzen. Das Vorhaben führe auch nicht zu einer unzumutbaren Zunahme von Verkehrslärm. Hier sei die erhebliche Vorbelastung des Antragstellergrundstücks zu berücksichtigen. Zudem habe das Vorhaben hinsichtlich der Strandhausallee teilweise lärmabschirmende Wirkung. Auch bei Funktionslosigkeit des Bebauungsplans hätte der Antrag keinen Erfolg. Ein Verstoß gegen das im Rahmen des "Einfügens" zu beachtende Rücksichtnahmegebot liege - wie aufgeführt - nicht vor. Ob sich das Bauvorhaben hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche in die nähere Umgebung einfüge, könne dahinstehen, da diese Regelungen grundsätzlich - und so auch hier - nicht nachbarschützend seien.

II.

Die Beschwerde der Antragsteller hat Erfolg.

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 24. Juni 2022 wird gemäß § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 VwGO angeordnet, weil nach Prüfung der dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) die Abwägung der wechselseitigen Interessen zugunsten der Antragsteller ausfällt.

Zu Recht machen den Antragsteller geltend, dass von dem streitgegenständlichen Vorhaben Lärmemissionen ausgehen könnten, die sich in einem Allgemeinen Wohngebiet als unzumutbar erweisen. Dabei geht es nicht nur um die von der Zufahrt der Tiefgarage ausgehenden Lärmemissionen, sondern auch um die weiteren mit dem geplanten Hotel Garni verbundenen Störungen, die beispielsweise von den zum Antragstellergrundstück hin ausgerichteten Terrassen und Balkonen (1. Stock und Staffelgeschoss) ausgehen. Die resultierende Immissionsbelastung der Nachbarn ist insgesamt - d.h. auch hinsichtlich der vom Verwaltungsgericht als "Verkehrslärm" bezeichneten Emissionen der Garagenzufahrt - als Gewerbelärm nach Maßgabe der TA Lärm zu beurteilen (vgl. Nr. 7.4 TA Lärm). Insgesamt darf das Vorhaben als ausnahmsweise im Allgemeinen Wohngebiet zulässiger Beherbergungsbetrieb (§ 4 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO) das Wohnen nicht stören. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, hat die Genehmigungsbehörde zu prüfen. Ausgangspunkt sind dabei die nach § 67 Abs. 1 NBauO dem Bauantrag beizufügenden Bauvorlagen, deren Inhalt sich - Werbeanlagen ausgenommen - nach § 5 NBauVorlVO bestimmt. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 NBauVorlVO ist für den Fall, dass - wie hier - eine gewerbliche Nutzung zur Genehmigung gestellt wird, zusätzlich zur Baubeschreibung eine Betriebsbeschreibung einzureichen. § 13 Abs. 2 NBauVorlVO regelt, welche Angaben in die Betriebsbeschreibung aufzunehmen sind. Hierzu gehören u.a. etwa entstehende Einwirkungen auf die Nachbarschaft durch Geräusche (§ 13 Abs. 2 Nr. 7 NBauVorlVO). Dabei ist - wie oben ausgeführt - das gesamte Vorhaben zu betrachten.

Bestehen Anhaltspunkte, dass die maßgeblichen Immissionsrichtwerte - hier die für Gewerbelärm maßgeblichen Richtwerte der TA Lärm - an benachbarten Schutzobjekten überschritten sein können, ist eine genauere Betrachtung des Vorhabens erforderlich. Das erfordert nicht zwingend die Erstellung eines Gutachtens, das mit erheblichem Zeit- und Kostenaufwand verbunden ist. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann es auch genügen, die Lärmpegel an den maßgeblichen Immissionspunkten nach den allgemeinen Regeln der Schallausbreitung zu schätzen. Dabei können sowohl von Seiten des Bauherrn als auch von Seiten der Genehmigungsbehörde nachvollziehbare Erkenntnisse aus vergleichbaren Vorhaben in die Beurteilung miteinfließen. In diesen Fällen wird aber regelmäßig zu verlangen sein, dass das Vorhaben hinsichtlich der Einhaltung der maßgeblichen Immissionsrichtwerte deutlich auf der sicheren Seite liegt. Etwaige Ungenauigkeiten der überschlägigen Ermittlung dürfen nicht zu Lasten der betroffenen Nachbarschaft gehen.

In der vorliegenden Konstellation bestehen aufgrund der erheblichen Vorbelastung der Nachbargrundstücke durch Lärmemissionen des südlich angrenzenden Gebiets mit Einzelhandelsbetrieben und der - von der Antragsgegnerin und dem Verwaltungsgericht gänzlich unberücksichtigt gelassenen - weiteren von dem Vorhaben ausgehenden Lärmemissionen Anhaltspunkte für eine mögliche Überschreitung der Richtwerte. Insbesondere die Tatsache, dass die Errichtung der Einzelhandelsbetriebe offenbar eine massive Lärmschutzwand entlang der Nordgrenze des Betriebsgrundstücks erforderte, weist auf mögliche Immissionskonflikte hin, die durch das genehmigte Vorhaben verschärft werden. Hierzu hat die Beigeladene keinerlei Berechnungen vorgelegt. Dass die Antragsgegnerin aufgrund eigener Berechnungen zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die maßgeblichen Richtwerte auf dem Antragstellergrundstück eingehalten werden, ist von ihr nicht vorgetragen und auch sonst nicht erkennbar. Die Baugenehmigung enthält auch keine Vorgaben, die die Einhaltung der Immissionsrichtwerte hinreichend sicherstellen. Der Hinweis in der Baugenehmigung (S. 1), dass der Anlieferverkehr diese zu beachten und einzuhalten habe, reicht insoweit nicht aus.

Nach den vorstehenden Ausführungen muss der Senat nicht entscheiden, ob die Zulassung des Vorhabens mit dem Gebietserhaltungsanspruch - auf diesen kann sich voraussichtlich mindestens der Antragsteller zu 2. berufen - vereinbar ist. Daran bestehen angesichts der bereits genehmigten Beherbergungsbetriebe erhebliche Zweifel. Zwar stehen nach Angaben der Antragsgegnerin im genehmigten Bestand zwei Beherbergungsbetriebe elf Grundstücken mit Wohnnutzung gegenüber. Allerdings darf diese Gegenüberstellung die Größe der Beherbergungsbetriebe nicht außer Acht lassen. Bei diesen handelt es sich um einen Komplex mit 14 Ferienwohnungen und ein Hotel mit 56 Zimmern und Suiten. Beide entfalten ein erhebliches städtebauliches Gewicht und prägen die Umgebung schon heute in einer Weise, die unter Berücksichtigung der geringen Größe des Gebiets an die Grenzen der allgemeinen Zweckbestimmung des § 4 Abs. 1 BauNVO gerät. Unter Einbeziehung des streitgegenständlichen Vorhabens gewinnen die Beherbergungsbetriebe mit weit über 100 Betten gegenüber der Wohnnutzung in städtebaulicher Hinsicht die Oberhand; der von § 4 Abs. 1 BauNVO gezogene Rahmen dürfte damit überschritten werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 7a), 1 a) und 17 b) der auf der Internetseite des Gerichts veröffentlichten Streitwertannahmen der mit Bau- und Immissionsschutzsachen befassten Senate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts für ab dem 1. Juni 2021 eingegangene Verfahren (NdsVBl 2021, 247). Die Befugnis des Senats zur Änderung der verwaltungsgerichtlichen Streitwertfestsetzung von Amts wegen folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).