Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 13.09.2023, Az.: 5 B 3455/23

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
13.09.2023
Aktenzeichen
5 B 3455/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 36407
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:0913.5B3455.23.00

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstands wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen seine mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung versehenen Ausweisung aus dem Bundesgebiet.

Der am D.. E. 1980 in der Türkei geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und jesidischer Religionszugehörigkeit. Er reiste im Juni 1992 gemeinsam mit mehreren seiner sieben Geschwister, jedoch ohne seine Eltern in das Bundesgebiet ein. Nachdem die Mutter des Antragstellers ihren Kindern in das Bundesgebiet nachgereist war, betrieben der Antragsteller, seine Mutter und seine mit ihm eingereisten Geschwister zunächst erfolglos ein Asylverfahren. Auf ihren Folgeantrag wurde u. a. der Antragsteller mit Bescheid des damaligen Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 31. März 1995 als Asylberechtigter anerkannt. Im Jahr 1995 zog auch der Vater des Antragstellers ins Bundesgebiet. Am 13. August 1997 wurde dem Antragsteller eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die seit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes als Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG fortgilt.

Nachdem der Antragsteller zunächst die Förderschule besucht hatte, wechselte er auf die Hauptschule, die er nach der 9. Klasse mit einem Abgangszeugnis verließ. In der Folgezeit übte er diverse Gelegenheitsarbeiten, u. a. als Gärtner, Spüler, Lkw-Fahrer und Pizzalieferant, aus.

Am 19. Februar 2006 wurde der Sohn des Antragstellers, F. G., der die deutsche Staatsangehörigkeit hat, geboren. Mutter des Kindes ist die deutsche Staatsangehörige H. I..

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 15. August 2006 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Anerkennung des Antragstellers als Asylberechtigter vom 31. März 1995 und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. Seine Niederlassungserlaubnis wurde dem Antragsteller belassen.

Am D.. J. 2007 heiratete der Antragsteller die Mutter seines 2006 geborenen Sohns, H. I.. Aus der Ehe ist ein weiterer, im Jahr 2010 geborener Sohn hervorgegangen, der deutscher Staatsangehöriger ist. Seit dem Jahr 2015 sind der Antragsteller und seine Ehefrau getrennt; zudem geht der Antragsteller seitdem keiner geregelten Arbeitstätigkeit mehr nach.

Der Antragsteller ist wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:

Am 29. November 2006 verurteilte ihn das Landgericht B-Stadt wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten. Die Bewährungszeit betrug drei Jahre. Mit Wirkung vom 3. Dezember 2009 wurde die Strafe erlassen.

Am 19. Februar 2013 verurteilte ihn das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge wegen Bedrohung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen.

Am 31. Mai 2016 verurteilte ihn das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen.

Am 8. November 2016 verurteilte ihn das Amtsgericht Syke wegen Anstiftung zur versuchten Nötigung zu einer Geldstrafe von 55 Tagessätzen.

Am 14. Dezember 2017 verurteilte ihn das Amtsgericht Walsrode wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen.

Am 30. Juli 2019 verurteilte ihn das Amtsgericht Braunschweig wegen falscher Verdächtigung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen.

Am 6. August 2019 verurteilte ihn das Amtsgericht Wolfenbüttel wegen vorsätzlichen Gestattens des Fahrens ohne Versicherungsschutz zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen.

Am 25. November 2020 verurteilte ihn das Amtsgericht B-Stadt wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen.

Auf Grund des Haftbefehls des Amtsgerichts B-Stadt vom 22. Januar 2021 befand sich der Antragsteller in der Zeit vom 28. Januar 2021 bis zum 22. Juli 2021 in Untersuchungshaft.

Am 22. Juli 2021 verurteilte ihn das Amtsgericht B-Stadt wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten.

Am 8. September 2021 wurde der Antragsteller auf Grund des Haftbefehls des Amtsgerichts B-Stadt vom 9. August 2021 erneut festgenommen und befand sich seit dem 9. September 2021 erneut in Untersuchungshaft.

Unter dem 18. Februar 2022 ersuchte die Türkei um Auslieferung des Antragstellers aus Deutschland in die Türkei zur Strafverfolgung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Dem lag ein Haftbefehl des 8. Schwurgerichts in Izmir vom 14. Juli 2021 zu Grunde, der wegen einer von der Staatsanwaltschaft Izmir am 3. Juni 2020 gegen den Antragsteller und weitere Personen erhobene Anklage ergangen war. Dem Antragsteller wurde zur Last gelegt, im Januar 2020 gemeinsam mit weiteren Personen an der bandenmäßigen Einfuhr von Betäubungsmitteln aus dem europäischen Ausland in die Türkei beteiligt gewesen zu sein. Das wegen dieser dem Antragsteller zur Last gelegten Auslandstaten eingeleitete Strafverfahren stellte die Staatsanwaltschaft B-Stadt in der Folgezeit gemäß § 154 Abs. 1 StPO vorläufig ein.

Am 21. April 2022 verurteilte das Landgericht B-Stadt den Antragsteller wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung der Entscheidung des Amtsgerichts B-Stadt vom 22. Juli 2021 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten und ordnete die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. In dem Urteil wird u. a. ausgeführt, dass der Antragsteller ausweislich des in der Hauptverhandlung mündlich erstatteten Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen Dr. med. K., Facharzt für Psychiatrie aus L. an einem Abhängigkeitssyndrom durch Kokain (ICD 10 F14.2) sowie durch Cannabinoide (ICD 10 F12.2) leide. Angesichts der zu erwartenden Therapiedauer von mindestens zweieinhalb Jahren sei kein Vorwegvollzug der Strafe vor der Maßregel anzuordnen gewesen.

Nachdem der Antragsteller sich ab dem 29. April 2022 zunächst in Organisationshaft befunden hatte, wurde er am 26. Juli 2022 im Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen - M. (MRVZN M.) aufgenommen.

Mit Schreiben vom 15. August 2022 hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller zu ihrer Absicht an, ihn auf Grund des Urteils des Landgerichts B-Stadt vom 21. April 2022 aus der Bundesrepublik Deutschland auszuweisen, die sofortige Vollziehung anzuordnen, ihm die Abschiebung anzudrohen und diese aus der Haft durchführen zu lassen. Der Antragsteller nahm durch seinen Prozessbevollmächtigen im Wesentlichen wie folgt Stellung: Er, der Antragsteller, durchlaufe erstmals eine Drogentherapie. Soweit ersichtlich gebe es im bisherigen Verlauf der Unterbringung keinerlei Beanstandungen. Nach absolvierter Therapie sei eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch ihn nicht mehr zu befürchten. Auch sei zu berücksichtigen, dass er im Strafverfahren vollumfänglich geständig gewesen sei. Zudem genieße er erhöhten Ausweisungsschutz, da er unter Art. 7 ARB 1/80 falle. Sein Vater, Herr N. G., beziehe eine Altersrente. Dazu legte der Antragsteller seinen eigenen Rentenversicherungsverlauf vom 16. November 2022 sowie einen Rentenversicherungsverlauf seines Vaters vom 16. November 2022 vor. Im Übrigen sei der Ausgang des Auslieferungsverfahrens abzuwarten. Sollte eine Auslieferung unzulässig sein, würde dies auch einer Ausweisung entgegenstehen.

Mit Schreiben vom 24. August 2022 hörte die Antragsgegnerin die Ehefrau des Antragstellers zu der von ihr, der Antragsgegnerin, gegen den Antragsteller beabsichtigten Maßnahmen an. Eine Stellungnahme erfolgte nicht.

Mit Beschluss vom 12. Dezember 2022 ordnete das Oberlandesgericht Celle zum Zwecke der Auslieferung an die Justizbehörden der Republik Türkei zur Strafverfolgung wegen der im Auslieferungsersuchen vom 18. Februar 2022 bezeichneten Straftat die förmliche Auslieferungshaft gegen den Antragsteller an. Die hiergegen erhobenen Einwendungen des Antragstellers wies das Oberlandesgericht Celle unter Aufrechterhaltung des Auslieferungshaftbefehls vom 12. Dezember 2022 mit Beschluss vom 6. April 2023 zurück.

Am 18. Januar 2023 beschloss das Landgericht Göttingen - Strafvollstreckungskammer mit Sitz bei dem Amtsgericht Rotenburg (Wümme) - die Fortdauer der Unterbringung des Antragstellers in einer Entziehungsanstalt. Es könne zurzeit noch nicht festgestellt werden, dass der Antragsteller seine Abhängigkeit so weit überwunden habe, dass zu erwarten sei, dass er außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde.

Unter dem 24. April 2023 teilte das MRVZN M. mit, es beantrage, nachdem es in seiner Stellungnahme vom 5. April 2023 zunächst die Fortdauer der Unterbringung empfohlen habe, auf Grund einer neuen Sachlage nunmehr die Erledigung der Maßregelunterbringung des Antragstellers, nachdem die Staatsanwaltschaft B-Stadt unter Verweis auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 6. April 2023 auf ein erhöhtes Fluchtpotenzial des Antragstellers hingewiesen und Lockerungen in Form von Ausführungen und Ausgängen nicht zugestimmt habe. Auf Grund dessen seien die Lockerungen des Antragstellers ausgesetzt und er auf die geschlossene Station 5 zurückgestuft worden. Eine vollumfängliche Rehabilitation sei jedoch nur möglich, wenn der Antragsteller sich auch in Lockerungen des Vollzuges erprobe. Vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller seine Suchtbewältigungskompetenzen habe stärken und seine Abstinenz habe festigen können, werde die Erledigung der Maßregelunterbringung gemäß § 64 StGB empfohlen.

Mit Bescheid vom 16. Mai 2023 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus dem Bundesgebiet aus, drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an, ordnete gegen ihn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an und befristete dieses auf den Zeitraum von sechs Jahren und acht Monaten ab dem Zeitpunkt der erfolgten Ausreise (Abschiebung). Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, der Antragsteller falle nicht unter die rechtlich privilegierte Personengruppe des § 53 Abs. 3 AufenthG, da er zwar türkischer Staatsangehöriger sei, jedoch kein Aufenthaltsrecht auf Grund des ARB 1/80 habe erwerben können. Ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 ARB 1/80 scheide aus. Der Antragsteller habe ausweislich seines Rentenversicherungsverlaufs seit der erstmaligen Aufnahme einer Arbeitnehmertätigkeit am 1. Dezember 1998 bis heute keine mehrjährige, ununterbrochene Tätigkeit bei demselben Arbeitgeber ausgeübt. Auch wenn der Versicherungsverlauf bis zum Ende seiner letzten Tätigkeit am 30. November 2016 viele Beschäftigungszeiten aufweise, so seien die Zeiten bei dem jeweiligen Arbeitgeber auf Grund von Unterbrechungen immer verlorengegangen. Er habe auch kein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben, da er am 1. Januar 2005, als sein Vater laut dessen Rentenversicherungsverlauf erstmals eine Arbeitnehmertätigkeit aufgenommen habe, bereits 24 Jahre alt und somit kein Familienangehöriger i. S. d. Art. 7 ARB 1/80 mehr gewesen sei. Zudem sei er, der Antragsteller, nie im Besitz eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzugs gewesen und habe auch nicht mehr mit seinem Vater in häuslicher Gemeinschaft gelebt. Ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 scheide aus, da der Antragsteller keine Berufsausbildung abgeschlossen habe. Auch § 53 Abs. 3a AufenthG finde nach dem bestandskräftigen Widerruf der Asylanerkennung keine Anwendung. Die Verurteilung vom 21. April 2022 begründe ein besonders schwer wiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1b AufenthG. Dem stehe das besonders schwer wiegende Bleibeinteresse des § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, da der Antragsteller seit dem 13. August 1997 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei. Ein besonders schwer wiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG komme hingegen nicht in Betracht, da er nach eigenen Angaben seit Jahren keinen Kontakt zu seiner deutschen Ehefrau und seinen deutschen Kindern habe. Es liege aber das schwer wiegende Bleibeinteresse des § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG vor, da die Belange oder das Wohl seiner Kinder zu berücksichtigen seien. Der weitere Aufenthalt des Antragstellers stelle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar. Rauschgiftdelikte würden eine schwerwiegende Sozialschädlichkeit aufweisen. So habe er zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt vor dem 16. September 2019 mit weiteren gesondert Verfolgten den Ankauf einer Menge von 14,9 kg Heroin aus der Ukraine organisiert (Tatkomplex 1). Im Jahr 2020 habe der Antragsteller ein modifiziertes Android-Smartphone ("Kryptophone") genutzt, um über die Kommunikationsplattform Encrochat Vereinbarungen über den Bezug illegaler Drogen zu treffen, und auf diesem Wege am 25. Mai 2020 280 g Kokain von einem nicht ermittelten Verkäufer bestellt, um diese teilweise selbst zu konsumieren und teilweise, wie von vornherein geplant, gewinnbringend weiterzuveräußern (Tatkomplex 2). Durch sein Verhalten habe der Antragsteller besonders schwer wiegende Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erheblich beeinträchtigt. Sein gesamtes Verhalten mache deutlich, dass er über eine erhebliche kriminelle Energie verfüge und nicht gewillt sei, die deutsche Rechtsordnung zu respektieren. Er sei bereits Wiederholungstäter, sodass auch in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch erneute Verfehlungen drohe. Auch der Umstand, dass es dem Antragsteller laut der Stellungnahme des MRVZN M. vom 30. November 2022 gelungen sei, sich in die strukturellen und inhaltlichen Vorgaben einer Maßregelvollzugsbehandlung einzufinden, könne zu keiner anderen Sichtweise führen. Darüber hinaus sei die Ausweisung auch aus generalpräventiven Gründen erforderlich. Die Bekämpfung des illegalen Handels mit Betäubungsmitteln wie Heroin oder Kokain habe wegen der schwerwiegenden Gefahren, die von ihm ausgehen würden, einen hohen Rang und erfordere in den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein möglichst kontinuierliches Vorgehen auch der Ordnungsbehörden. Bei der Entscheidung über die Ausweisung sei abzuwägen, ob das öffentliche Interesse der Ausreise gegenüber dem Interesse des Antragstellers am Verbleib im Bundesgebiet überwiege. Schützenswerte familiäre Bindungen i. S. v. Art. 6 GG lägen nicht vor, da der Antragsteller selbst angegeben habe, seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Ehefrau und seinen Kindern zu haben. Auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK sei die Ausweisung nicht unverhältnismäßig. Es gebe keine Hinweise, dass einer Eingliederung in die Verhältnisse in der Türkei Hindernisse entgegenstünden. Der Antragsteller habe die ersten elfeinhalb Jahre seines Lebens in der Türkei gelebt, sodass ihm die dortigen Verhältnisse samt Kultur und Sprache nicht gänzlich unbekannt seien. Zudem sei er mit 42 Jahren in einem Alter, in dem ihm die Eingliederung in die Verhältnisse in der Türkei durchaus zugemutet werden könne. An der Anordnung der sofortigen Vollziehung bestehe ein besonderes öffentliches Interesse. Die Art und Schwere der vom Antragsteller begangenen Straftat beweise, dass er über eine erhebliche kriminelle Energie verfüge, auf Grund derer die begründete Gefahr bestehe, dass er im Falle der Entlassung aus dem Maßregelvollzug voraussichtlich im April 2024 oder bereits noch früher, falls die nächste dortige Überprüfung ergeben sollte, dass die weitere Unterbringung im MRVZN M. nicht mehr erforderlich sei, vor einer rechtskräftigen Entscheidung über die Ausweisung weitere Straftaten begehe. Es könne nicht hingenommen werden, dass sich sein Aufenthalt bis zur Beendigung eines evtl. langfristigen Klageverfahrens ausdehne und er insbesondere bei einer vorzeitigen Entlassung Gelegenheit hätte, erneut straffällig zu werden. Wegen der weiteren Begründung wird auf den Inhalt des Bescheides Bezug genommen. Der Bescheid wurde am 19. Mai 2023 zugestellt.

Mit Schreiben vom 2. Juni 2023 teilte die Staatsanwaltschaft B-Stadt dem Landgericht Göttingen - Strafvollstreckungskammer mit Sitz bei dem Amtsgericht Rotenburg (Wümme) mit, im Hinblick der Stellungnahme des MRVZN M. vom 24. April 2023 komme eine Fortsetzung der Unterbringung mangels Erfolgsaussicht nicht mehr in Betracht, sodass die Maßregel gemäß §§ 64 Satz 2, 67 d Abs. 5 StGB für erledigt zu erklären sei. Im Hinblick auf die bevorstehende Auslieferung des Antragstellers und den bestehenden Auslieferungshaftbefehl kämen Vollzugslockerungen in Form von Ausgängen etc. mangels (richtig wohl: wegen) Fluchtgefahr nicht in Betracht. Zudem stehe die jederzeitige Überführung des Antragstellers in die Türkei bevor, sodass insgesamt eine Fortsetzung der Maßregel hier in Deutschland nicht erfolgversprechend sei. Daher sei nunmehr Strafhaft zu vollstrecken.

Mit Beschluss vom 5. Juni 2023 stellte das Oberlandesgericht Celle unter Aufrechterhaltung des Auslieferungshaftbefehls vom 12. Dezember 2022 die Entscheidung über den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Celle, die Auslieferung des Antragstellers an die Justizbehörden der Republik Türkei zur Strafverfolgung wegen der im Auslieferungsersuchen vom 18. Februar 2022 bezeichneten Straftat für zulässig zu erklären, zurück und gab den türkischen Justizbehörden Gelegenheit, ergänzende Informationen zur Art und Weise der Teilnahme des Antragstellers an der im Fall seiner Auslieferung anstehenden Hauptverhandlung wegen der ihm in den Auslieferungsersuchen vorgeworfenen Tat zu übermitteln.

Am 19. Juni 2023 hat der Antragsteller Klage erhoben (5 A 3454/23) und zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

Zur Begründung trägt er vor, der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig und verletzte ihn in seinen Rechten.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt des angegriffenen Bescheides.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, des beigezogenen Verwaltungsvorgangs und der beigezogenen Strafakten Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Der Antrag hat keinen Erfolg.

Er ist zulässig, aber unbegründet.

Hinsichtlich der Ausweisungsentscheidung ist der Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässig, da die Antragsgegnerin gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung entfällt gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i. V. m. § 64 Abs. 4 NPOG. Auch insoweit ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft und zulässig.

Die Antragsgegnerin hat das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausweisung ausreichend im Sinne von § 80 Abs. 3 VwGO begründet. Die Begründung erfolgte schriftlich und bezogen auf den konkreten Fall, indem dargelegt wurde, dass an der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ausweisung ein besonderes öffentliches Interesse bestehe. Die Art und Schwere der vom Antragsteller begangenen Straftat beweise, dass er über eine erhebliche kriminelle Energie verfüge, auf Grund derer die begründete Gefahr bestehe, dass er im Falle der Entlassung aus dem Maßregelvollzug voraussichtlich im April 2024 oder bereits noch früher, falls die nächste dortige Überprüfung ergeben sollte, dass die weitere Unterbringung im MRVZN M. nicht mehr erforderlich sei, vor einer rechtskräftigen Entscheidung über die Ausweisung weitere Straftaten begehe. Es könne nicht hingenommen werden, dass sich sein Aufenthalt bis zur Beendigung eines evtl. langfristigen Klageverfahrens ausdehne und er insbesondere bei einer vorzeitigen Entlassung Gelegenheit hätte, erneut straffällig zu werden. Die Frage, ob die gegebene Begründung inhaltlich trägt, ist nicht Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung der Einhaltung des Formerfordernisses des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 15.5.2021 - 13 ME 243/21 -, juris Rn. 23).

Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers oder der betroffenen Ausländerin, von einem Vollzug der Verfügung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit überwiegt. Bei der Interessenabwägung kommt der Erfolgsaussicht der Klage im Hauptsacheverfahren maßgebliche Bedeutung zu. Bei nach summarischer Prüfung offensichtlich Erfolg versprechendem Rechtsbehelf überwiegt im Hinblick auf die Art. 19 Abs. 4 GG zu entnehmende Garantie effektiven Rechtsschutzes das Suspensivinteresse des Betroffenen das öffentliche Vollzugsinteresse, so dass die aufschiebende Wirkung grundsätzlich wiederherzustellen bzw. anzuordnen ist. Ergibt dagegen eine summarische Einschätzung des Gerichts, dass die Anfechtungsklage offensichtlich erfolglos bleiben wird, reicht dies allein zwar noch nicht aus, die Anordnung der sofortigen Vollziehung zu rechtfertigen. Erforderlich ist vielmehr ein über den Erlass des Grundverwaltungsaktes hinausgehendes öffentliches Interesse. Hierfür ist allerdings nicht ein besonders gewichtiges oder qualifiziertes öffentliches Interesse zu fordern; notwendig, aber auch ausreichend ist vielmehr, dass überhaupt ein öffentliches Vollzugsinteresse vorliegt. Bei einem offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsakt reichen daher auch Vollzugsinteressen minderen Gewichts für die Anordnung der sofortigen Vollziehung aus. In den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO, in denen - wie hier bei der Abschiebungsandrohung - die aufschiebende Wirkung bereits kraft gesetzlicher Anordnung entfällt, spricht die gesetzliche Wertung für ein überwiegendes öffentliches Interesse, soweit nicht offensichtlich absehbar ist, dass die Verfügung rechtswidrig ist und die Klage Erfolg hat.

Gemessen hieran überwiegt vorliegend das Vollzugsinteresse, weil sich die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig erweisen und keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass das Vollzugsinteresse ausnahmsweise zurücktritt oder entfällt.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder - wie hier - Entscheidung des Tatsachengerichts (BVerwG, Urteil vom 9.5.2019 - BVerwG 1 C 21.18 -, juris Rn. 11; BVerwG, Urteil vom 22.2.2017 - BVerwG 1 C 3.16 -, juris Rn. 18; Urteil vom 10.7.2012 - BVerwG 1 C 19.11 -, juris Rn. 12).

Rechtsgrundlage der im angefochtenen Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. Dezember 2022 enthaltenen Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Die Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG setzt eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls voraus, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. Sofern nach dieser Gesamtabwägung das öffentliche Interesse an der Ausreise gegenüber dem Interesse des Ausländers oder der Ausländerin am Verbleib in Deutschland überwiegt, wird diese Person ausgewiesen, andernfalls kommt eine Aufenthaltsbeendigung nach § 53 Abs. 1 AufenthG nicht in Betracht. Die Tatbestandsmerkmale der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung" im ausweisungsrechtlichen Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG sind nach der Begründung des Gesetzgebers im Sinne des Polizei- und Ordnungsrechts zu verstehen (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 49). Auch die Gefährdung dieser Schutzgüter bemisst sich nach den im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht entwickelten Grundsätzen. Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der aufgeführten Schutzgüter eintreten wird. Die von § 53 Abs. 1 AufenthG geforderte Abwägung der Interessen an der Ausweisung mit den Interessen an einem weiteren Verbleib in Deutschland erfolgt dabei nach der Intention des Gesetzgebers nicht auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen eines der Ausländerbehörde eröffneten Ermessens, sondern auf der Tatbestandsseite einer nunmehr gebundenen Ausweisungsentscheidung und ist damit gerichtlich voll überprüfbar. Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch die weiteren Ausweisungsvorschriften mehrfache Konkretisierungen. So wird einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen durch den Gesetzgeber in den § 54, § 55 AufenthG von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen, jeweils qualifiziert als entweder "besonders schwerwiegend" (Absatz 1) oder als "schwerwiegend" (Absatz 2). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sind neben den explizit in den § 54, § 55 AufenthG aufgeführten Interessen aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 49).

Ein besonderer Ausweisungsschutz für anerkannte Asylberechtigte gemäß § 53 Abs. 3a Var. 1 AufenthG besteht nicht, da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit bestandskräftigem Bescheid vom 15. August 2006 die Anerkennung des Antragstellers als Asylberechtigter vom 31. März 1995 widerrufen und festgestellt hatte, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen.

Die Ausweisung des Antragstellers ist auch nicht an den erhöhten Anforderungen des besonderen Ausweisungsschutzes gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG zu messen. Gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG darf ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU besitzt, nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Doch dem Antragsteller steht weder ein eigenes Aufenthaltsrecht nach Art. 6 ARB 1/80 noch ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht von seinen Eltern gemäß Art. 7 ARB 1/80 zu.

Gemäß Art. 6 ARB 1/80 hat ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung, in diesem Mitgliedstaat nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt (Spiegelstrich 1); nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedsstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben (Spiegelstrich 2); und (erst) nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis (Spiegelstrich 3) und ein damit jeweils einhergehendes Aufenthaltsrecht.

Der Antragsteller hat schon keine ordnungsgemäße Beschäftigung über einen durchgehenden Zeitraum von (wenigstens) einem Jahr nachgewiesen und damit nicht einmal den Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber erworben. Zwar ergibt sich aus dem im Verwaltungsverfahren vorgelegten Rentenversicherungsverlaufs des Antragstellers vom 16. November 2022, dass der Antragsteller im Zeitraum zwischen der erstmaligen Aufnahme einer Beschäftigung am 1. Dezember 1998 und dem Ende seines letzten, vom 17. Oktober 2016 bis zum 30. November 2016 dauernden Beschäftigungsverhältnisses mehrfach sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Es ist jedoch weder aus dem Rentenversicherungsverlauf ersichtlich noch vom Antragsteller glaubhaft gemacht worden, dass es sich bei den jeweiligen Beschäftigungsverhältnissen um eine ordnungsgemäße Beschäftigung über einen durchgehenden Zeitraum von (wenigstens) einem Jahr handelt.

Der Antragsteller hat auch kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht erworben. Gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 haben die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben (Spiegelstrich 1) und freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben (Spiegelstrich 2).

Maßgeblich für die auf der ersten Stufe erforderliche dreijährige familiäre Lebensgemeinschaft sind (allein) die ersten drei Jahre seit der Einreise ins Bundesgebiet, weil so der Zweck des Familiennachzugs gewahrt und sichergestellt werden soll (VG Hannover, Beschluss vom 10.2.2023 - 5 B 3534/22 -). Während dieses Zeitraums hat der Antragsteller schon nicht mit seinem Vater in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt, weil dieser erst 1995 in das Bundesgebiet eingereist ist.

Der Antragsteller hat sodann - unabhängig von den Beschäftigungszeiten seines Vaters - keine Berufsausbildung abgeschlossen, auf Grund derer er die Rechtsstellung eines Assoziationsberechtigten aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 herleiten könnte.

Am Maßstab des § 53 Abs. 1 AufenthG gemessen ist die Ausweisung rechtlich nicht zu beanstanden. Ohne Rechtsfehler ist die Antragsgegnerin zu dem Ergebnis gekommen, dass den für eine Ausweisung sprechenden Interessen gegenüber den Bleibeinteressen bei einer Abwägung überwiegendes Gewicht zukommt.

Es besteht ein besonders schwerwiegendes Interesse an der Ausweisung des Antragstellers gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b Alt. 2 AufenthG. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist. Gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1b Alt. 2 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 besonders schwer, wenn der Ausländer nach dem Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Der Antragsteller wurde mit Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 21. April 2022 wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung der Entscheidung des Amtsgerichts B-Stadt vom 22. Juli 2021 (Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge) zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt; zudem wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.

Es besteht auch ein besonders schwerwiegendes Interesse an der Ausweisung des Antragstellers gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. b AufenthG. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten, u. a. gegen die körperliche Unversehrtheit (lit. b). Am 29. November 2006 verurteilte das Landgericht B-Stadt den Antragsteller wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Die weiteren im Bundeszentralregisterauszug aufgeführten Verurteilungen des Antragstellers begründen ein schwer wiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG, weil sie einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen die Rechtsordnung darstellen. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift.

Der weitere Aufenthalt des Antragstellers stellt sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen auch gegenwärtig noch eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit i. S. d. § 53 Abs. 1 AufenthG dar.

Die Ausweisung eines Ausländers aus spezialpräventiven Gründen dient der Vorbeuge gegen Gefahren, die nach Würdigung seines bisherigen Verhaltens und seiner Gesamtpersönlichkeit von ihm selbst in Zukunft für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen. Hat der Ausländer Rechtsverstöße begangen, hängt die Rechtfertigung der Ausweisung von einer Gefahrenprognose, insbesondere der Einschätzung der Wiederholungswahrscheinlichkeit, ab. Die Gefährdung bemisst sich nach den im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht entwickelten Grundsätzen (BVerwG, Urteil vom 22.2.2017 - BVerwG 1 C 3.16 -, juris Rn. 23). Die Prognose ist von den Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichten eigenständig zu treffen, ohne dass diese an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. Bei der Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe einer verhängten Strafe, die Schwere einer konkret begangenen Straftat und die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr nach dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (Nds. OVG, Urteil vom 6.5.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 38 m. w. N.). Für bestimmte Fallgruppen besonders schwerer und schädlicher Delikte sind an den Grad der Wiederholungsgefahr nur geringe Anforderungen zu stellen. Zu diesen Fallgruppen gehören neben schweren Gewalt- und Eigentumsdelikten vor allem auch schwere Betäubungsmitteldelikte, wie das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, vor allem mit harten Drogen (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 23.11.2020 - 2 B 314/20 -, juris Rn. 20; Urteil vom 14.8.2019 - 2 B 159/19 -, juris Rn. 11). Eine grenzenlose Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nach unten ist jedoch auch bei schwersten Schäden nicht zulässig. Erforderlich, aber auch ausreichend für die Begründung eines spezialpräventiven Ausweisungsinteresses ist bei schwerwiegenden Gefahren bereits die "ernsthafte Möglichkeit" einer Wiederholung (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 23.11.2020 - 1 B 314/20 -, juris Rn. 20 m. w. N.).

Betäubungsmitteldelikte gehören zu den schweren, die Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten. Dabei zählt der illegale Drogenhandel zu den Straftaten, die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV als Bereiche besonders schwerer Kriminalität genannt werden. Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit der Bürger nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen hohen Rang ein. Die Folgen, insbesondere für junge Menschen, können äußerst gravierend sein. Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht in der Rauschgiftsucht ein "großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit" (vgl. EuGH, Urteil vom 23.11.2010 - Tsakouridis, C-149/09 - NVwZ 2011, 221 Rn. 47; Urteil vom 22.05.2012 - P.I., C-348/09 - juris Rn. 28). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mehrfach klargestellt, dass er bei Verurteilung eines Ausländers wegen eines Betäubungsmitteldeliktes - wie hier vorliegend - in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf die Bevölkerung Verständnis dafür hat, dass die Vertragsstaaten in Bezug auf diejenigen, die zur Verbreitung dieser Plage beitragen, entschlossen durchgreifen (EGMR, Urteil vom 30.11.1999 - Baghli/Frankreich Nr. 3437/97 - NVwZ 2000, 1401 [EGMR 30.11.1999 - 34374/97], Urteil vom 17.4.2013 - Yilmaz/Deutschland Nr. 52853/99 - NJW 2004, 2147 [BVerwG 13.05.2004 - BVerwG 3 C 45/03]). Die von unerlaubten Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren betreffen die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit, welche in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang einnehmen. Rauschgiftkonsum bedroht diese Schutzgüter der Abnehmer in hohem Maße und trägt dazu bei, dass deren soziale Beziehungen zerbrechen und ihre Einbindung in wirtschaftliche Strukturen zerstört wird. Die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, welche ferner auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss. Bei der Bewertung der Gefährlichkeit eines im Zusammenhang mit dem Handel mit Marihuana strafrechtlich verurteilten Ausländers sind überdies die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den insbesondere Jugendlichen durch den Konsum drohenden gesundheitlichen Schäden in den Blick zu nehmen (vgl. BayVGH, Beschluss vom 25.10.2022 - 19 CS 22.1456 -, juris Rn. 48 m.w.N.).

Die danach hinreichende "ernsthafte Möglichkeit" einer Wiederholung für die Annahme einer Wiederholungsgefahr und eines andauernden Ausweisungsinteresses ist gegeben. Für die Annahme einer Wiederholungsgefahr sprechen die Schwere der vom Antragsteller zuletzt begangenen Straftat sowie seine Betäubungsmittelabhängigkeit. Zur Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf den zutreffenden Inhalt des angegriffenen Bescheides Bezug genommen, denen der Antragsteller nicht substantiiert entgegengetreten ist. Ergänzend ist Folgendes auszuführen:

Ausweislich der Feststellungen des Landgerichts B-Stadt in seinem Urteil vom 21. April 2022 organisierte der Antragsteller mit weiteren gesondert Verfolgten und zumindest auf Verkäuferseite unbekannten Personen den Ankauf einer Menge von 14,9 kg Heroin aus der Ukraine. Die Betäubungsmittel sollten mittels des im Eigentum des Antragstellers stehenden, extra mit einem Hohlraum präparierten Fahrzeugs Audi Q7 in die Bundesrepublik verbracht werden. Dafür sprach der Antragsteller eine weitere, gemeinsam mit ihm angeklagte Person an, ob er gemeinsam mit einer gesondert verfolgten weiteren Person gegen eine Vergütung von 1.000 EUR mit seinem Audi Q7 nach Kiew fahren könne, um das Fahrzeug dort zu verkaufen. Auf Anweisung des Antragstellers fuhren die von ihm angesprochenen Personen Mitte Juni mit dem Audi Q7 in die Ukraine. Das Auto wurde vor einem Hotel in Kiew auf einem Parkplatz abgestellt. Von dort wurde das Auto zwischen dem 16. und 17. Juni 2019 von einem anderen Beteiligten an einen anderen Ort verbracht und die angekauften 14,798 kg Heroin in den besonderen Hohlraum des Fahrzeugs eingebaut, bevor das Fahrzeug wieder auf den Hotelparkplatz zurückgebracht wurde. Die gesondert verfolgte Person teilte der gemeinsam mit dem Antragsteller angeklagten Person daraufhin mit, dass das Auto nun doch nicht habe verkauft werden können und sie auf Anweisung des Antragstellers wieder mit dem Audi Q7 nach Deutschland zurückfahren sollten. In der Nähe von Kiew fanden ukrainischen Sicherheitsbeamte die Betäubungsmittel in einem speziell ausgestatteten Versteck im Kofferraum des Fahrzeugs und beschlagnahmten diese. Die anschließende Wirkstoffuntersuchung des sichergestellten Heroins ergab einen Reinheitsgehalt von 65,7 bis 65,8 % (Diacetylmorphin). Die gesondert verfolgte Person und die gemeinsam mit dem Antragsteller angeklagte Person wurden in der Ukraine festgenommen. Für den Antragsteller wurde wegen dieser Tat auf eine Einzelfreiheitsstrafe in Höhe von vier Jahren erkannt und sodann unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts B-Stadt vom 22. Juli 2021 in Höhe von zwei Jahren und drei Monaten eine Gesamtstrafe von vier Jahren und acht Monaten gebildet. Dabei würdigte das Landgericht B-Stadt zu Gunsten des Antragstellers, dass er bereits ca. ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hatte, was für ihn wegen seiner Betäubungsmittelabhängigkeit besonders belastend gewesen sei.

Der Antragsteller ist damit wegen massiver Betäubungsmitteldelikte straffällig geworden und war an nicht nur nachrangiger Stelle in Strukturen der organisierten Kriminalität eingebunden. Die professionelle Organisation der Tat, die neben den gehandelten Mengen auch an der Verwendung kryptierter Mobiltelefone im Encrochat-Netzwerk deutlich wird, sowie die Stellung des Antragstellers im Organisationsgefüge zeugen von einer erheblichen kriminellen Energie. Die Einbindung des Antragstellers in Strukturen der organisierten Kriminalität wird auch durch das in der Türkei gegen den Antragsteller geführte weitere Ermittlungsverfahren wegen Betäubungsmittelkriminalität verdeutlicht, auf Grund dessen die Türkei die Bundesrepublik Deutschland um die Auslieferung des Antragstellers ersucht hat. Dem Antragsteller wird dort zur Last gelegt, im Januar 2020 gemeinsam mit weiteren Personen an der bandenmäßigen Einfuhr von Betäubungsmitteln aus dem europäischen Ausland in die Türkei beteiligt gewesen zu sein. Auch bei dieser Tat soll ein präpariertes Fahrzeug verwendet worden sein und der Antragsteller von Deutschland aus gemeinsam mit einer anderen Person den Drogenhandel organisiert und geleitet haben.

Das im Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 21. April 2022 verhängte Strafmaß von vier Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe beträgt nahezu das Doppelte des für die Annahme eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und mehr als das Vierfache des für die Erfüllung eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG erforderlichen Strafmaßes.

Aus den Feststellungen im Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 21. April 2022 geht hervor, dass beim Antragsteller ein Abhängigkeitssyndrom durch Kokain (ICD 10 F14.2) sowie durch Cannabinoide (ICD 10 F12.2) besteht. Nach dem in der Hauptverhandlung mündlich erstatteten Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen Dr. med. K., Facharzt für Psychiatrie, äußere sich die Diagnose insbesondere durch eine mit der Zeit entstandene Toleranzentwicklung, verminderte Kontrollfähigkeit, den andauernden starken Konsumwunsch sowie die beim Antragsteller bereits stark ausgeprägte Vernachlässigung andere Interessen bzw. Einengung auf den Substanzkonsum. So sei die Ehe des Antragstellers auf Grund des Substanzkonsums zerbrochen, er habe seit er Zunahme des Cannabis- und Kokainkonsums seit mehreren Jahren ein unstetes Leben geführt, sei keiner geregelten Arbeit mehr nachgegangen und dem stetig steigenden Konsumwunsch verfallen. Der darin begründete Hang des Antragstellers, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, sei zumindest mitursächlich für die Tat, die der Antragsteller zumindest auch zur Finanzierung seines Betäubungsmittelkonsums begangen habe. Eine Erfolgsaussicht einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt werde bereits deshalb gesehen, weil der Antragsteller bislang noch keine Therapieversuche unternommen habe und er sich nunmehr erstmalig krankheits- und behandlungseinsichtig zeige. Zudem sei ein Leidensdruck erkennbar.

Die durch die Betäubungsmittelkriminalität des Antragstellers, deren Hintergrund zumindest auch seine Suchtmittelabhängigkeit war, indizierte Gefährlichkeit des Antragstellers ist bislang nicht beseitigt. Bei Straftaten, die - wie im Fall des Antragstellers - auf der Suchterkrankung eines Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit auf einen Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, Beschluss vom 25.10.2022 - 19 CS 22.1456 -, juris Rn. 53 m. w. N.). So liegt es hier.

Der Antragsteller befand sich den Ausführungen im Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 21. April 2022 zufolge zunächst ca. ein Jahr in Untersuchungshaft. Ab dem 29. April 2022 war er in Organisationshaft, bevor er am 26. Juli 2022 im MRVZN M. aufgenommen wurde. Der im beigezogenen Vollstreckungsheft der Staatsanwaltschaft B-Stadt enthaltenen Stellungnahme gemäß § 67e StGB des MRVZN M. vom 30. November 2022 ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass es sich beim Antragsteller um einen jahrelang polytoxikoman erkrankten Mann (ICD-10: F19.21) mit den Hauptdrogen Cannabis und Kokain handelt. Hinweise auf eine bestehende Persönlichkeitsstörung oder mögliche schwerwiegende kognitive Einschränkungen hätten sich beim Erleben des Patienten im Stationsalltag nicht gezeigt. Im bisherigen Behandlungsverlauf sei es dem Antragsteller gelungen, sich in die strukturellen und inhaltlichen Vorgaben einer Maßregelvollzugsbehandlung einzufinden. In allen durchgeführten Atemalkoholtests und Urinkontrollen zum Drogenscreening habe sich kein Anhalt für einen stattgefundenen Rauschmittelkonsum ergeben. Dies korrespondiere mit den Aussagen des Antragstellers, perspektivisch abstinent leben zu wollen. Die von der Staatsanwaltschaft B-Stadt benannte Gefährlichkeit des Patienten habe sich während der bisherigen Behandlung im MRVZN M. nicht gezeigt. Dennoch bedürfe es beim Antragsteller noch weiterer therapeutische Bemühungen, sodass die Fortdauer der Maßregel aus therapeutischer Sicht empfohlen werde.

Am 18. Januar 2023 beschloss das Landgericht Göttingen - Strafvollstreckungskammer mit Sitz bei dem Amtsgericht Rotenburg (Wümme) - die Fortdauer der Unterbringung des Antragstellers in einer Entziehungsanstalt. In Anbetracht der Stellungnahme des MRVZN M. vom 30. November 2022 könne zurzeit noch nicht festgestellt werden, dass der Antragsteller seine Abhängigkeit so weit überwunden habe, dass zu erwarten sei, dass er außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde.

Nachdem das MRVZN M. in seiner Stellungnahme nach § 67e StGB vom 5. April 2023 zunächst die Fortdauer der Maßregelunterbringung gemäß § 64 StGB empfohlen hatte, da der Antragsteller seine Abstinenz stabilisiert und seine gesellschaftliche Teilhabe weiter konkretisiert habe, revidierte es unter dem 24. April 2023 diese Einschätzung und empfahl nunmehr die Erledigung der Maßregelunterbringung. Hierzu führte es im Wesentlichen aus, die Staatsanwaltschaft B-Stadt habe unter Verweis auf ein erhöhtes Fluchtpotenzial des Antragstellers die Unterbringung in einem besonders gesicherten Bereich erbeten und Lockerungen in Form von Ausführungen und Ausgängen nicht zugestimmt. Auf Grund dessen seien die Lockerungen des Antragstellers ausgesetzt und er auf die geschlossene Station 5 zurückgestuft worden. Eine vollumfängliche Rehabilitation des Antragstellers sei jedoch nur möglich, wenn er sich auch in Lockerungen des Vollzuges erprobe. Diese würden einen wesentlichen Bestandteil der Entwöhnungsbehandlung in einer Entziehungsanstalt darstellen. Der Antragsteller habe (bisher) seine Suchtbewältigungskompetenzen stärken und seine Abstinenz festigen können. Ein weiterer Verbleib in den therapeutischen Abläufen der Entziehungsanstalt ohne jedwede Aussicht auf Vollzugslockerungen würde zudem ein gravierendes Motivationshemmnis darstellen, da dem Patienten die Möglichkeit, sich eine suchtmittel- und straffreie Zukunftsperspektive außerhalb der Anstalt zu erschließen, vorenthalten bleibe. Eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht sei für den Antragsteller nicht länger gegeben.

Infolgedessen beantragte die Staatsanwaltschaft B-Stadt unter dem 2. Juni 2023 die Maßregel für erledigt zu erklären. Dazu führte sie im Wesentlichen aus, im Hinblick auf die bevorstehende Auslieferung des Antragstellers und den bestehenden Auslieferungshaftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft Celle seien Vollzugslockerungen nicht in Betracht gekommen. Zudem stehe die jederzeitige Überführung des Antragstellers in die Türkei bevor, sodass eine Fortsetzung der Maßregel in Deutschland nicht erfolgversprechend sei. Daher sei nunmehr Strafhaft zu vollstrecken.

In Anbetracht dessen geht vom Antragsteller zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit hinreichender Sicherheit die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität aus. Der Antragsteller hat die Drogentherapie noch nicht erfolgreich abgeschlossen. Da die Staatsanwaltschaft auf Grund der Fluchtgefahr des Antragstellers - und damit in seiner Person liegenden Umständen - den für weitere Therapieansätze erforderlichen Lockerungen widerspricht und daher sowohl das Maßregelvollzugszentrum als auch die Staatsanwaltschaft die Maßregel für erledigt halten, ist sind weitere Fortschritte auch auf absehbare Zeit nicht mehr zu erwarten.

Für eine Wiederholungsgefahr spricht darüber hinaus auch die aus den beigezogenen Strafakten erkennbare Einbindung des Antragstellers in Strukturen der organisierten Kriminalität. Diese wird durch die in den Ausführungen des MRVZN M. zum Ausdruck kommenden Bemühungen des Antragstellers, seine Suchtbewältigungskompetenzen zu stärken und seine Abstinenz zu festigen, nicht hinreichend aufgewogen. Schon die vom Antragsteller gehandelten Mengen gehen weit über die Deckung des eigenen Bedarfs hinaus. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller nicht nur - auch von ihm selbst konsumiertes - Kokain bestellt hat, sondern mit weiteren gesondert Verfolgten den Ankauf einer Menge von 14,9 kg Heroin aus der Ukraine organisiert hat. Ausweislich des psychiatrischen Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie Dr. med. K. aus L. vom 10. Dezember 2021 konsumiert der Antragsteller gerade kein Heroin. Er habe nur einmal Heroin konsumiert und es nicht vertragen, weswegen er es "nicht weiter angefasst" hätte. Der Antragsteller war dementsprechend kein Kleindealer, der ausschließlich seinen eigenen Konsum finanziert.

Neben dem spezialpräventiven Ausweisungsinteresse begründen die Straftaten des Antragstellers auch ein andauerndes generalpräventives Ausweisungsinteresse, das nach dem Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG (wonach bereits eine Gefahr durch den "Aufenthalt" des Ausländers ein Ausweisungsinteresse begründet) berücksichtigungsfähig ist und auch durch Zeitablauf nicht zurücktritt, weil die Tilgungsfristen des § 46 Bundeszentralregistergesetz (BZRG) noch nicht abgelaufen sind. Voraussetzung für die Berücksichtigung generalpräventiver Interessen ist, dass die Straftat besonders schwer wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Es muss von einer derartigen Straftat eine besonders hohe Gefahr für den Staat oder die Gesellschaft ausgehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.2.2012 - BVerwG 1 C 7.11 -, juris Rn. 24). Das ist hier der Fall. Rauschgiftdelikte gehören zu den gefährlichen und schwer zu bekämpfenden Delikten, die ein Ausweisungsinteresse (auch) aus generalpräventiven Gründen grundsätzlich zu rechtfertigen vermögen (vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 18.7.1979 - 1 BvR 650/77 -, BVerfGE 51, 386-401, Rn. 34; Nds. OVG, Urteil vom 22.4.2013 - 2 LB 365/12, juris Rn. 40). Sie gehören zudem zum Bereich der besonders schwerwiegenden Kriminalität nach Art. 83 Abs.1 AEUV. Die Betäubungsmittelstraftaten des Antragstellers wogen auf Grund der Art und Menge der geschmuggelten Betäubungsmittel und ihrer durchorganisierten und grenzüberschreitenden Begehungsweise auch im Einzelfall besonders schwer, was auch das Strafmaß von vier Jahren und acht Monaten abbildet.

Der Antragsteller kann sich demgegenüber auf ein besonders schwer wiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr.1 AufenthG berufen. Gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiegt das Bleibeinteresse i. S. v. § 53 Abs. 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Dem Antragsteller wurde am 13. August 1997 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die seit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes als Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG fortgilt und ihm auch nach dem im Jahr 2006 erfolgten Widerruf seiner Anerkennung als Asylberechtigter belassen wurde.

Auf ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG kann sich der Antragsteller dagegen trotz seiner Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen sowie seiner zwei minderjährigen deutschen Kinder nicht berufen. § 55 Abs. 1 Nr. 4 Var. 1 AufenthG verlangt allein eine tatsächlich gelebte eheliche, lebenspartnerschaftliche oder familiäre Beziehung mit einem deutschen Staatsangehörigen (vgl. Bergmann/Dienelt/Bauer, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 55 AufenthG, Rn. 11). Hieran fehlt es. Der Antragsteller hat seinen in der Stellungnahme des MRVZN M. vom 30. November 2022 enthaltenen Angaben zur Lebensgeschichte zufolge zu seiner Ehefrau und den beiden Kindern seit Jahren keinen Kontakt mehr, nachdem es auf Grund seines anhaltenden Drogenkonsums zur Trennung gekommen sei. Dem psychiatrischen Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie Dr. med. K. aus L. vom 10. Dezember 2021 zufolge hat der Antragsteller seine Kinder in den letzten Jahren nur unregelmäßig gesehen, den älteren Sohn zuletzt im September 2021. Seit zwei bis drei Jahren habe er keinen Kontakt mehr zu seiner Ehefrau. Sie wolle erst wieder etwas mit ihm zu tun haben, wenn er eine Therapie abgeschlossen habe. Soweit der Antragsteller nunmehr anlässlich seiner Vorführung vor dem Amtsgericht A-Stadt zwecks Bekanntgabe des Inhalts des Auslieferungsverfahrens am 13. Januar 2023 angegeben hat, seine Ehefrau, seine Kinder und er würden nach der Vollstreckung alle zusammenziehen wollen, nachdem er seit der Haft wieder Kontakt zu seiner Ehefrau habe, er sich auf Grund der Therapie wieder mit seiner Frau versöhnt habe und diese nach Beendigung der Therapie wieder zu ihm zurückkommen wolle, vermag dies ein schwer wiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht zu begründen. Ein Ausländer, der sich in Haft befindet, kann sich auf ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse berufen, wenn die eheliche bzw. familiäre Lebensgemeinschaft unmittelbar vor Beginn der Haft bestanden hat und im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Verwaltungsgerichts konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Lebensgemeinschaft unmittelbar nach der Haftentlassung fortgesetzt wird (vgl. BeckOK AuslR/Fleuß, 36. Ed. 1.7.2023, AufenthG § 55 Rn. 43, 46). Hier fehlt es schon nach dem Vortrag des Antragstellers an einem Bestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft unmittelbar vor Beginn der Haft.

Ein schwer wiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG kommt nicht in Betracht, da der Antragsteller weder vorgetragen hat noch sonst ersichtlich ist, dass er bezüglich seiner Kinder derzeit sein Personensorge- bzw. Umgangsrecht ausübt.

Die Belange oder das Wohl der Kinder des Antragstellers sind allerdings gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG als schwer wiegendes Bleibeinteresse zu berücksichtigen.

Bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Bei diesem Kriterienkatalog hat sich der Gesetzgeber an den Maßstäben orientiert, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK als maßgeblich ansieht ("Boultif/Üner-Kriterien"). Die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände sollen sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des Ausländers wirken können und sind nach Auffassung des Gesetzgebers nicht als abschließend zu verstehen (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 9.5.2019 - BVerwG 1 C 21.18 -, juris Rn. 13; BVerwG, Urteil vom 25.7.2017 - BVerwG 1 C 12.16 -, juris Rn. 15; BVerwG, Urteil vom 22.2.2017 - BVerwG 1 C 3.16 -, juris Rn. 20 ff.). Dem konkreten Gewicht des Verstoßes ist im Rahmen der nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 AufenthG vorzunehmenden Abwägung unter umfassender Würdigung aller Umstände des Einzelfalles zu begegnen (Nds. OVG, Urteil vom 14.11.2018 - 13 LB 160/17 -, juris Rn. 40 f.)

Gemessen an diesem Maßstab überwiegen unter den Umständen des Einzelfalles die Ausweisungsinteressen gegenüber den Bleibeinteressen. Außerdem ist weder eine Verletzung des Schutzes der Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG noch des Rechts auf Achtung des Privatlebens i. S. d Art. 8 Abs. 1 EMRK erkennbar.

Das besonders schwer wiegende Bleibeinteresse i. S. v. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiegt das formal gleichrangige Ausweisungsinteresse nicht auf. Zwar ist die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis Ausdruck eines besonderen Vertrauens in die Integrationsfähigkeit eines Ausländers (BeckOK AuslR/Fleuß, 36. Ed. 1.7.2023, AufenthG § 55 Rn. 12). Dieses ihm entgegengebrachte Vertrauen hat der Antragsteller jedoch durch die von ihm begangenen Straftaten und seine insbesondere darin zum Ausdruck kommende mangelnde Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse enttäuscht. Der Antragsteller verfügt auch über keine schutzwürdigen Belange nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK, die einer Ausweisung absolut entgegenstehen würden.

Dies gilt zunächst für die familiären Bindungen des Antragstellers zu seiner Ehefrau und seinen Kindern, da derzeit schon keine in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG fallende tatsächlich gelebte eheliche bzw. familiäre Lebensgemeinschaft besteht. Auch sonstige schutzwürdige familiäre Bindungen des volljährigen Antragstellers i. S. v. Art. 6 Abs. 1 GG sind weder ersichtlich noch vorgetragen.

Selbstständig tragend würden, ihr Vorliegen unterstellt, auch weder eine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte eheliche Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seiner deutschen Ehefrau noch eine ebenfalls von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte familiäre Lebensgemeinschaft des Antragstellers mit seinen deutschen Kindern einer Ausweisung des Antragstellers absolut entgegenstehen.

Ein Ausländer kann auch bei einer bestehenden ehelichen Lebensgemeinschaft mit einer Deutschen ausgewiesen werden, wenn trotz der Ehe sein Aufenthalt im Inland nicht weiter hingenommen werden kann. Das ist der Fall, wenn das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Ausländers wie auch des deutschen Ehegatten überwiegt (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 28.3.2022 - 2 M 1/22 -, juris Rn. 26). Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht können die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann haben, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 6.12.2021 - 2 BvR 860/21 - juris Rn. 41 ff. m.w.N). Nach diesen Maßstäben beansprucht hier die Beendigung des Aufenthalts Vorrang vor dem familiären Interesse und auch gegenüber den Interessen der Kinder.

Der Antragsteller ist, wie zuvor ausgeführt, wegen massiver Betäubungsmitteldelikte straffällig geworden und hat dadurch ein besonders schwer wiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1, 1b AufenthG verwirklicht. Dahinter tritt das formal gleichrangige Interesse des Antragstellers und seiner deutschen Ehefrau sowie der gemeinsamen deutschen Kinder, ihre Ehe bzw. familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zu führen, zurück. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass auch in einer Vater-Kind-Beziehung der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes hat. Allerdings hat die Heirat und Familiengründung den Antragsteller weder von seinem langjährigen Drogenkonsum, der sich nachteilig auf das Familienleben ausgewirkt hat, noch von der Begehung der Straftaten abgehalten. Sämtliche im Bundeszentralregisterauszug aufgeführten Straftaten hat er begangen, als das erste gemeinsame Kind mit seiner späteren Ehefrau bereits geboren war. Zudem sind die beiden Kinder inzwischen 17 bzw. zwischen zwölf und 13 Jahren alt und damit nicht mehr im Kleinkindalter, in dem sie die Trennung von ihrem Vater nicht verstehen und als unwiederbringlich empfinden. Sie sind vielmehr schon nach dem Vortrag des Antragstellers in den letzten Jahren damit aufgewachsen, dass zu ihrem Vater auf Grund dessen Lebenswandels, der Inhaftierung und des Maßregelvollzugs über viele Jahre kein Kontakt bestand. Dem familiären Interesse lässt sich schließlich dadurch hinreichend Rechnung tragen, dass die Wirkungen der Ausweisung befristet werden. Ob die hier gewählte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG) rechtmäßig ist, ist hinsichtlich der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht jedoch regelmäßig und auch hier unerheblich und daher im Verfahren um vorläufigen Rechtsschutz nicht zu prüfen (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.1.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 34).

Dem Antragsteller kommen auch nicht die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 8 EMRK zu Gute. Es ist nicht davon auszugehen, dass er ein durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiertes Privatleben nur noch im Bundesgebiet führen kann. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung muss der Ausländer dazu im Bundesgebiet ein Leben führen, durch das er faktisch so stark in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist, dass ihm das Verlassen des Bundesgebiets nicht zugemutet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.7.2002 - BVerwG 1 C 8.02 -, juris, Rn. 23; OVG Baden-Württemberg, Beschluss vom 2.3.2020 - 11 S 2293/18 -, juris Rn. 31). Der Ausländer muss auf Grund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse bei gleichzeitiger Entfremdung vom Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sein, dass er gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt werden könne, während ihn mit dem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band seiner Staatsangehörigkeit verbindet (BVerwG, Urteil vom 29.9.1998 - BVerwG 1 C 8.96 -, juris Rn. 30; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2010 - 11 S 2359/10 -, juris Rn. 27; VGH München, Beschluss vom 3.7.2017 - 19 CS 17.551 -, juris Rn. 10). Dies hängt zum einen von seiner Integration in Deutschland (Dimension "Verwurzelung") und zum anderen von der Möglichkeit zur (Re-) Integration in seinem Heimatland (Dimension "Entwurzelung") ab. Gesichtspunkte für die Integration des Ausländers in Deutschland sind dabei eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz, einem festen Wohnsitz, ausreichenden Mitteln, um den Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten zu können, und fehlender Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Eine nach Art. 8 EMRK schutzwürdige Verwurzelung im Bundesgebiet kann dabei grundsätzlich nur während Zeiten entstehen, in denen der Ausländer sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 28.2.2018 - 8 ME 1/18 -, juris Rn. 17 m. w. N.; Beschluss vom 1.11.2017 - 13 ME 190/17 -, juris Rn. 27 m. w. N.). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Der Antragsteller verfügt zwar über einen langjährigen rechtmäßigen Aufenthalt, da er seit dem 13. August 1997 durchgängig im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bzw. einer Niederlassungserlaubnis war. Dennoch ist von einer hinreichenden Verwurzelung des Antragstellers im Bundesgebiet auf Grund seiner Straffälligkeit, der fehlenden wirtschaftlichen Integration und des Fehlens sonstiger besonderer Integrationsleistungen nicht auszugehen. Der Antragsteller hat es weder geschafft, eine Berufsausbildung abzuschließen, noch dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Der Antragsteller ist auch nicht derart von seinem Heimatland entwurzelt, dass ihm ein Privatleben in der Türkei unmöglich oder unzumutbar wäre. Dagegen spricht bereits das Auslieferungsersuchen der Republik Türkei, weil der dem zu Grunde liegende Tatvorwurf auf bestehende Verbindungen des Antragstellers in die Türkei hinweist.

Der Antragsteller hat bis zu seiner Ausreise ins Bundesgebiet im Juni 1992 im Alter von elf Jahren gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern in der Türkei gelebt und seinen Angaben in der Stellungnahme des MRVZN M. vom 30. November 2022 zufolge dort auch die Schule besucht. Auch wenn der Antragsteller in der Stellungnahme des MRVZN M. vom 30. November 2022 angibt, in der Familie sei fast nur kurdisch gesprochen worden und er habe nur sehr wenige türkische Sprachkenntnisse gehabt, womit er auch in der Türkei, z. B. in der Schule, unangenehm aufgefallen sei, ist dennoch davon auszugehen, dass der Antragsteller über hinreichende Kenntnisse der türkischen Sprache verfügt. Hierfür spricht, neben dem Schulbesuch des Antragstellers in der Türkei, der Inhalt des in den beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft B-Stadt enthaltene "Sonderheft Encrochat-Auswertung". Die dort ausgewerteten Chatnachrichten des Antragstellers mit anderen Nutzern des Dienstes Encrochat sind ausschließlich auf Türkisch verfasst und wurden für die Auswertung ins Deutsche übersetzt. Im Übrigen hat der Antragsteller anlässlich seiner Vorführung vor dem Amtsgericht A-Stadt zwecks Bekanntgabe des Inhalts des Auslieferungsverfahrens am 13. Januar 2023 auch selbst angegeben, sich über alltägliche Dinge auf Türkisch verständigen zu können. In Anbetracht dessen ist davon auszugehen, dass der Antragsteller sich in der Türkei wird verständigen können, zumal er sich in Teilen des türkischen Staatsgebiets auch auf Kurdisch wird verständigen können. Zudem ist es ihm auf Grund seines Alters von 42 Jahren auch möglich und zumutbar, sich in der Türkei in neue und unbekannte soziale Strukturen einzufügen und ein neues Privatleben aufzubauen, auch wenn dies - was die Kammer nicht verkennt - mit Schwierigkeiten verbunden sein dürfte, zumal der Antragsteller vorträgt, in der Türkei keine Angehörigen mehr zu haben. Auch insofern geht die Kammer davon aus, dass sich ein türkischer Staatsangehöriger, der im Zusammenhang mit der organisierten Einfuhr von Betäubungsmitteln auf türkisches Staatsgebiet strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, auch seinen Alltag innerhalb der Türkei wird organisieren können.

Die Abschiebungsandrohung ist nicht zu beanstanden. Sie entspricht den gesetzlichen Anforderungen der §§ 58, 59 AufenthG.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht Nr. 1.5, 8.2 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NordÖR 2014, 11).