Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.10.2020, Az.: 10 LA 217/20
Antrag auf Aussetzung der Überstellung aus tatsächlichen der Abschiebung entgegenstehenden Gründen (hier: aufgrund der COVID-19 Pandemie); Unterbrechung der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO; Antrag auf Zulassung der Berufung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 27.10.2020
- Aktenzeichen
- 10 LA 217/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2020, 42771
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Oldenburg - 11.09.2020
Rechtsgrundlagen
- § 80 Abs. 4 VwGO
- Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO
- Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO
- Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO
Fundstellen
- AUAS 2021, 8-11
- DÖV 2021, 135
- InfAuslR 2021, 81-83
- ZAR 2021, 351
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Die Aussetzung der Überstellung aus tatsächlichen der Abschiebung entgegenstehenden Gründen - hier aufgrund der COVID-19 Pandemie - hat nicht die Unterbrechung der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO zur Folge.
- 2.
Die Sechsmonatsfrist des Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO ist als Höchstfrist anzusehen, binnen derer die Überstellung zu erfolgen hat. Innerhalb dieser Frist hat die Überstellung zu erfolgen, sobald dies praktisch möglich ist.
- 3.
Diejenigen Fälle, in denen die Überstellungsfrist aufgrund tatsächlicher Umstände ausnahmsweise verlängert werden kann, sind in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ausschließlich und abschließend definiert.
Tenor:
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Einzelrichter der 11. Kammer - vom 11. September 2020 wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die Beklagte begehrt die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses ihren Bescheid vom 4. Februar 2020 aufgehoben hat, mit dem sie den Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt und seine Abschiebung nach Griechenland angeordnet hat.
Der C. geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger yezidischen Glaubens. Nach eigenen Angaben hat er den Irak am 29. Juli 2019 verlassen und sich unter anderem 2 Monate in Griechenland aufgehalten. Von dort sei er am 12. November 2019 mit dem Flugzeug nach Deutschland gereist. Im Rahmen einer Anhörung bei der Beklagten am 25. November 2019 gab er an, in keinem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz beantragt zu haben. Am 25.11.2019 stellte er einen förmlichen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Beklagte stellte anhand der EURODAC-Datenbank fest, dass der Kläger bereits am 8. Oktober 2019 in Griechenland Asyl beantragt hat. Am 29. November 2019 stellte die Beklagte ein Wiederaufnahmegesuch bei den griechischen Behörden. Diese erklärten am 9. Dezember 2019 die Übernahme. Über den Asylantrag des Klägers sei in Griechenland noch nicht entschieden.
Mit Bescheid vom 4. Februar 2020 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Griechenland an (Nr. 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, weil Griechenland aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags für die Behandlung desselben zuständig sei (Art. 3 Abs. 2, Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor, weil nicht davon auszugehen sei, dass ihm in Griechenland eine menschenunwürdige Behandlung drohe. Ihm stünden vor Ort verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung, weshalb er keine Benachteiligungen zu befürchten habe. Die humanitären Bedingungen in Griechenland führten ebenfalls nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK drohe.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 14. Februar 2020 Klage erhoben und gleichzeitig um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung der Klage führt die Prozessbevollmächtigte des Klägers - offenbar unter Verwechslung bzw. in Unkenntnis des tatsächlichen Sachverhalts - aus, der Kläger habe in Griechenland bereits internationalen Schutz erhalten. Anerkannten Schutzberechtigten drohe in Griechenland eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK. Es drohe akute Obdachlosigkeit und Verelendung. Es bestehe keine Chance, sich ein Existenzminimum aufzubauen.
Mit rechtskräftigem Beschluss vom 24. Februar 2020 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag des Klägers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ab. Für die Prüfung des Asylantrages des Klägers sei gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO Griechenland zuständig. Das griechische Asylverfahren sei jedenfalls derzeit nicht mit systemischen Mängeln behaftet. Dem Kläger drohe auch keine seine Rechte aus Art. 3 EMRK verletzende Behandlung. Die erkennende Kammer habe bereits mit Urteil vom 20. November 2019 - 11 A 265/19 - entschieden, dass in Griechenland anerkannte Schutzberechtigte, die keinen besonderen Schutzbedarf hätten (also insbesondere arbeitsfähige und gesunde Männer, bei denen jedenfalls die Möglichkeit bestehe, ein Arbeitseinkommen zu erzielen), grundsätzlich nicht mit einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung zu rechnen hätten.
Mit Schreiben vom 18. März 2020, gerichtet an die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe, teilte das Bundesamt mit, dass es in den anhängigen Dublin-Verfahren alle Kläger anschreibe und ihnen gegenüber die Vollziehung der Abschiebungsanordnung vorübergehend gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO aussetze. Angesichts der Corona-Krise würden in Europa die meisten Grenzen geschlossen und Reiseverbote ausgesprochen. Da vor diesem Hintergrund Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten seien, setze das Bundesamt bis auf weiteres alle Dublin-Überstellungen aus.
Mit Schreiben vom 12. August 2020 teilte das Bundesamt dem Verwaltungsgericht mit, dass es gegenüber dem Kläger mit Schreiben vom selben Tage den Widerruf der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO erklärt habe. Im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise seien Dublin-Überstellungen nach Griechenland wieder zu vertreten.
Mit Urteil vom 11. September 2020 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid vom 4. Februar 2020 auf. Zwar sei Griechenland ursprünglich gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig gewesen. Die Zuständigkeit sei jedoch wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Beklagte übergegangen. Die reguläre Überstellungsfrist habe mit der Bekanntgabe des Beschlusses vom 24. Februar 2020, zugestellt an die Beklagte am selben Tage, neu zu laufen begonnen. Die Frist habe somit mit Ablauf des 24. August 2020 geendet. Die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO sei nicht durch die aufgrund der Corona-Pandemie ausgesprochene Aussetzung der Vollziehung entsprechend § 80 Abs. 4 VwGO für die Zeit bis zum Widerruf der Aussetzungsentscheidung unterbrochen. Der vorliegende Fall der vorübergehenden Aussetzung ausschließlich aufgrund des Vorliegens tatsächlicher Abschiebungshindernisse während der Beschränkungen infolge der COVID-19 Pandemie falle nicht in den Anwendungsbereich von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO.
Die Beklagte hat am 9. Oktober 2020 die Zulassung der Berufung beantragt. Die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung. Im Berufungsverfahren sei die grundsätzliche Rechtsfrage zu klären,
"ob die Corona-Pandemie und die hierauf - insb. in Form von Aus-/Einreisesperren und der unionsweit faktischen Aussetzung des Dublin-Überstellungsverfahrens - gezeigten Reaktionen in der Europäischen Union das Bundesamt i.S.d. Art. 27 Abs. 3 bzw. 4 Dublin III-VO berechtig(t)en, die Überstellungsentscheidung auszusetzen, mit der Folge, dass damit die Überstellungsfrist unterbrochen wurde, d.h. ob die behördlich entsprechend § 80 Abs. 4 VwGO erklärte Vollzugsaussetzung im Sinn der BVerwG-Rechtsprechung (Urteil vom 09.01.2019 - 1 C 16.18 - juris) aufgrund sachgerechter Erwägungen erfolgt ist."
Die Beklagte ist der Ansicht, die durch das Bundesamt gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgenommene Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung habe die Rechtsfolge, dass die in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist unterbrochen werde. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung seien nur ein möglicher Grund für behördliche Aussetzungsentscheidungen. Auch unterhalb dieser Schwelle sei eine behördliche Aussetzung zulässig, soweit sie auf sachlich vertretbaren, willkürfreien und nicht rechtsmissbräuchlichen Erwägungen beruhe. Dies leitet die Beklagte aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Januar 2019 (a.a.O.) ab. Vorliegend würden eben solche Erwägungen, namentlich die Schutzfunktion dieser Maßnahme, sowie die von den meisten Mitgliedstaaten ausgesprochenen Reise- und Einreiseverbote, die Aussetzungsentscheidung tragen. Die gegenteilige Auffassung des Verwaltungsgerichts begegne durchgreifenden Zweifeln, weil das unionsrechtliche Regelungswerk zum Dublin-Verfahren nicht eindeutig bzw. aus sich heraus auslegbar sei. Auch die Rahmenvorgaben der Dublin III-VO ermöglichten eine Auslegung im Sinne der Beklagten. Denn es zeigten sich keine sachbezogenen Gründe dafür, dass es angesichts des Art. 29 Abs. 1 UA 1 letzte Alt. Dublin III-VO nicht auch möglich sein könne, dass während der Anhängigkeit eines Rechtsmittels zugleich eine begleitende behördliche Überprüfung durchgeführt werde, die aufschiebende Wirkung gemäß § 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufgrund einer Vollzugaussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO entfalte. Ihre Auffassung stehe auch nicht in Widerspruch zu Mitteilungen der EU-Kommission, die sich hierin mit den erheblichen Rechtsgrundlagen gar nicht auseinandersetze. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO sei als Öffnungsklausel zu verstehen, die es den Mitgliedstaaten ermögliche, den Regelungsbereich innerhalb des definierten äußeren Rahmens durch nationales Recht zu gestalten. Auch könne das Risiko einer nicht in den Verantwortungsbereich des ersuchenden Mitgliedstaates fallenden völlig atypischen Sonderkonstellation nicht einseitig der Sphäre des ersuchenden Mitgliedstaates zugeordnet werden. Im Übrigen sei geklärt, dass dem überstellenden Staat in tatsächlicher Hinsicht stets zumindest ein zusammenhängender 6-Monatszeitraum für den Überstellungsvollzug zur Verfügung stehen solle. Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO gehe erkennbar von dem Grundgedanken aus, dass die Überstellungsfrist erst anlaufe, sobald der Überstellungsvollzug praktisch möglich sei. Es stelle sich ohnedies die Frage, ob durch die völlig atypische Situation, bei der ein Überstellungsvollzug praktisch nicht mehr möglich sei, nicht per se bereits eine Unterbrechung der Überstellungsfrist in entsprechender Anwendung von Art. 29 Abs. 1 UA 1 Alt. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 und Abs. 4 Dublin III-VO bewirkt sei. Die Dublin III-VO zeige sich insoweit planwidrig lückenhaft. Eine konkrete Regelung zur Sondersituation einer faktisch-generellen Aussetzung des Dublin-Überstellungsverfahrens enthalte die Dublin III-VO nicht. Auch sei eine solche Situation bei Schaffung der Dublin II- bzw. III-VO nicht absehbar gewesen. Diese planwidrige Regelungslücke könne und müsse durch eine Analogie geschlossen werden. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei die Vollzugsaussetzung rechtswidrig, wenn der Ablauf der Überstellungsfrist auf behördliche Versäumnisse zurückzuführen sei. Dies sei hier gerade nicht der Fall.
II.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil hat keinen Erfolg. Denn der von ihr allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ergibt sich aus ihrem Vorbringen zur Begründung ihres Zulassungsantrages nicht.
Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage oder eine obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich und einer abstrakten Klärung zugänglich ist, im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf, nicht schon geklärt ist und (im Falle einer Rechtsfrage) nicht bereits anhand des Gesetzeswortlauts und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 5, zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; ferner: GK-AsylG, Stand: Juni 2019, § 78 AsylG Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2019, § 78 AsylG Rn. 21 ff. m.w.N).
Vorliegend ist die aufgeworfene Rechtsfrage nicht grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, weil sie bereits anhand des Wortlauts von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens dahingehend beantwortet werden kann, dass die Aussetzung der Überstellung aus tatsächlichen der Abschiebung entgegenstehenden Gründen gemäß § 80 Abs. 4 VwGO - hier aufgrund der COVID-19 Pandemie - durch die Beklagte nicht die Unterbrechung der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO gemäß oder entsprechend Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO zur Folge hat.
Gemäß Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Abs. 1 c oder d Dublin III-VO aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat.
Gemäß Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen.
Diese unionsrechtlich vorgesehene Möglichkeit wird im nationalen Recht durch § 80 Abs. 4 VwGO eröffnet. Die Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO ist zwar generell geeignet, die in Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist zu unterbrechen (BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris Rn. 19). Ob die Aussetzung zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist führt, richtet sich aber in unionsrechtskonformer Auslegung von § 80 Abs. 4 VwGO nach der Dublin III-VO (BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris Rn. 25; Lehnert/Werdermann, NVwZ 2020, 1308, 1309).
1. Bereits der Wortlaut von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO knüpft die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung an das Vorliegen eines Rechtsbehelfs- oder Überprüfungsverfahrens ("um", "bis zum"). Eine Aussetzung aufgrund tatsächlicher Unmöglichkeit - wie hier als Reaktion auf die COVID-19 Pandemie - sieht Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO seinem Wortlaut nach dagegen nicht vor.
2. Dieses Auslegungsergebnis wird durch weitere Auslegungserwägungen hinsichtlich Systematik und Sinn und Zweck der Norm bestätigt.
Die systematische Stellung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO innerhalb der Dublin III-VO unterstreicht die Anknüpfung der Unterbrechung der Überstellungsfrist an ein Rechtsbehelfs- oder Überprüfungsverfahren. So findet sich die Vorschrift in Abschnitt IV "Verfahrensgarantien" und trägt selbst die amtliche Überschrift "Rechtsmittel". Sinn und Zweck der Vorschrift ist mithin die Gewährleistung der Möglichkeit einer rechtlichen Prüfung der mitgliedstaatlichen Überstellungsentscheidung und damit eines effektiven Rechtsschutzes (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 -, juris Rn. 10).
Das Dublin-System ist von dem Gedanken der Beschleunigung geprägt (vgl. Erwägungsgrund 5 Dublin III-VO), welcher mit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes in einem Spannungsverhältnis steht (EuGH, Urteil vom 07.06.2016 - C-63/15 -, juris Rn. 57; BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris Rn. 26). Bei der Auslegung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO ist dieses Spannungsverhältnis zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund kann eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO, die den Fristbeginn nach Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO verzögert und somit dem Beschleunigungsgedanken zuwiderläuft, nur zugunsten der Gewährung effektiven Rechtsschutzes vorgenommen werden (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 -, juris Rn. 12; VG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 - 9 AE 3364/20 -, juris Rn. 13; VG Karlsruhe, Beschluss vom 15.09.2020 - A 9 K 4825/19 -, juris Rn. 20; VG Ansbach, Beschluss vom 23.07.2020 - AN 17 E 20.50215 -, juris Rn. 26 ff.; VG Aachen, Urteil vom 10.06.2020 - 9 K 2584/19.A -, juris Rn. 29 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 18.05.2020 - 15 L 776/20.A -, juris Rn. 10 ff.; a.A. etwa: VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 - A 1 K 1026/20 -, juris Rn. 36 ff. m.w.N.; VG Minden, Beschluss vom 06.07.2020 - 12 L 485/20.A -, juris Rn. 53 ff.).
Auch Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO liegt das Verständnis zugrunde, dass die tatsächliche bzw. "praktische Möglichkeit" bzw. hier Unmöglichkeit der Überstellung von dem Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist zu trennen ist. Aus Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO ergibt sich, dass die Überstellungsfrist unabhängig von der praktischen Möglichkeit der Überstellung spätestens sechs Monate nach Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs oder der endgültigen Entscheidung über eine rechtliche Prüfung, die aufschiebende Wirkung hat, endet. Diese Sechsmonatsfrist ist als Höchstfrist anzusehen, binnen derer die Überstellung zu erfolgen hat (Senatsbeschluss vom 18.09.2020 - 10 LA 193/20 -, n.v.; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 -, juris Rn. 17). Innerhalb dieser Frist hat die Überstellung zu erfolgen, sobald dies praktisch möglich ist.
Diejenigen Fälle, in denen die Überstellungsfrist aufgrund tatsächlicher Umstände ausnahmsweise verlängert werden kann, sind in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ausschließlich und abschließend definiert (höchstens ein Jahr bei Inhaftierung und höchstens 18 Monate bei Flucht der betreffenden Person). Es handelt sich dabei um enumerativ aufgezählte Fälle.
Eine Analogie zu Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO kommt vorliegend nicht in Betracht. Die Umstände der COVID-19 Pandemie sind mit den in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO geregelten Fallkonstellationen schon nicht zu vergleichen, da der Schutzsuchende keinen Anteil an diesen Umständen hat. Es liegen also keine gleichgelagerten Sachverhalte vor, die eine Analogie überhaupt zuließen. Eine analoge Anwendung des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO auf andere, nicht vom Kläger zu vertretende oder zumindest nicht in seine Sphäre fallende Umstände, widerspräche zudem dem Beschleunigungsgedanken der Dublin III-VO (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 -, juris Rn. 33 ff.; VG Karlsruhe, Beschluss vom 15.09.2020 - A 9 K 4825/19 -, juris Rn. 13), da über die klar begründeten Ausnahmefälle in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO hinaus eine Vielzahl anderer Fallkonstellationen denkbar wäre, in denen die Überstellung aus tatsächlichen Gründen nicht durchgeführt werden könnte. Aus diesem Grund fehlt es auch von vornherein an einer planwidrigen Regelungslücke (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 -, juris Rn. 35), da der Verordnungsgeber eben nur die beiden in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO geregelten Fälle als Fristverlängerungsmöglichkeiten ausdrücklich vorgesehen hat.
3. Diese Auslegung entspricht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris). Denn diese erlaubt die Aussetzung nur vor dem Hintergrund der Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Aus dem Urteil lässt sich dagegen nicht ableiten, dass jede sachlich vertretbare, willkürfreie und nicht rechtsmissbräuchliche Erwägung eine Aussetzung im Sinne von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO stützen kann (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 -, juris Rn. 13 ff.; VG Karlsruhe, Beschluss vom 15.09.2020 - A 9 K 4825/19 -, juris Rn. 13; a.A. etwa VG Minden, Beschluss vom 06.07.2020 - 12 L 485/20.A -, juris Rn. 53; VG Osnabrück, Beschluss vom 12.05.2020 - 5 B 95/20 -, juris Rn. 13 ff.).
Vielmehr macht das Bundesverwaltungsgericht deutlich, dass die in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eröffnete Möglichkeit, dass auch die zuständigen Behörden die Durchführung der Überstellungsentscheidung aussetzen können, die Fallgruppen erweitert, in denen einem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO zukommt (BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris Rn. 20). Dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall lag eine Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes zugrunde, die es auf Anfrage des Bundesverfassungsgerichts getroffen hatte. Es setzte die Vollziehung der Abschiebungsandrohung aus dem dort streitgegenständlichen Bescheid bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde oder den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO aus. Erst mit dieser behördlichen Aussetzungsentscheidung stand für den dortigen Kläger fest, dass während des verfassungsgerichtlichen Verfahrens nicht mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu rechnen ist. Der gesamte vom Bundesverwaltungsgericht entschiedene Fall hält sich mithin im systematischen Rahmen der Aussetzung bis zur Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wie es Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO seinem Wortlaut nach vorsieht.
Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zu lesen, auf die sich die Beklagte bezieht (BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16.18 -, juris Rn. 26 f.), mit denen das Bundesverwaltungsgericht klargestellt hat, dass es in jedem Fall um "die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes" geht. Die Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehen sich mithin auf eine Aussetzung bis zum Abschluss eines Rechtsbehelfsverfahrens unter Berücksichtigung des Spannungsverhältnisses zwischen dem Beschleunigungsgedanken der Dublin III-VO und der Wirksamkeit gerichtlichen Rechtsschutzes.
Soweit die Beklagte sich darauf beruft, dass in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt ist, dass der überstellende Mitgliedstaat über einen zusammenhängenden Sechsmonatszeitraum verfügen solle, um die Überstellung zu bewerkstelligen (EuGH, Urteil vom 29.01.2009 - C-19/08 -, juris Rn. 43; BVerwG, Urteil vom 08.01.2019 - 1 C 16/18 -, juris Rn. 17), steht dies dem Auslegungsergebnis ebenfalls nicht entgegen. Vielmehr fallen tatsächliche Hindernisse, die innerhalb der zusammenhängenden Sechsmonatsfrist auftreten und nicht in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO geregelt sind, in die Risikosphäre des überstellenden Staates.
Auch die (nicht rechtsverbindliche Mitteilung) der EU-Kommission vom 17. April 2020 stützt die hier vertretene Auffassung (Mitteilung der Kommission vom 17.04.2020, COVID-19: Hinweise zur Umsetzung der einschlägigen EU-Bestimmungen im Bereich der Asyl- und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung, 2020/C 126/02, ABl. EU C 126, S. 12, 16; ebenso OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 -, juris Rn. 18; VG Düsseldorf, Beschluss vom 18.05.2020 - 15 L 776/20.A -, juris Rn. 20; Verständnis als unergiebig: VG Karlsruhe, Urteil vom 26.08.2020 - A 1 K 1026/20 -, juris Rn. 50). Zwar wird Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO von der Kommission nicht ausdrücklich erwähnt. Es heißt dort aber sehr deutlich:
"Wird die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat nicht innerhalb der geltenden Frist durchgeführt, so geht die Zuständigkeit nach Artikel 29 Absatz 2 der Dublin-Verordnung auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Keine Bestimmung der Verordnung erlaubt es, in einer Situation wie der, die sich aus der COVID-19-Pandemie ergibt, von dieser Regel abzuweichen."
Wie das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein zutreffend ausführt, fügt sich das Auslegungsergebnis auch in die bislang in Zusammenhang mit der tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung innerhalb der Frist des Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO ergangene obergerichtliche Rechtsprechung ein (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 -, juris Rn. 19). So hat etwa das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in einem Fall, der systemische Mängel des ungarischen Asylsystems betraf, entschieden, dass der dem Dublin-System innewohnende Beschleunigungsgedanke es gebietet, in einer solchen Situation vom Selbsteintrittsrecht des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen. Um den Anspruch auf effektiven Zugang zum Asylverfahren und auf zügige Sachprüfung nicht ins Leere laufen zu lassen, hat ein Mitgliedstaat sein Selbsteintrittsrecht auszuüben, wenn die Überstellung an den an sich für zuständig erachteten Mitgliedstaat wegen dessen mangelnder Aufnahmebereitschaft aussichtslos erscheint (Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 20.12.2016 - 8 LB 184/15 -, juris Rn. 61 m.w.N.). Auch danach ist allein die tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung nicht geeignet, den Beschleunigungsgedanken, der seine besondere Ausprägung in Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO gefunden hat, einzuschränken (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07.2020 - 1 LA 120/20 -, juris Rn. 19).
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).