Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 04.12.1990, Az.: 14 L 60/89

Zur Untragbarkeit eines schwerbehinderten Arbeitnehmers in einem Unternehmen und der daraus resultierenden ordentlichen Kündigung desselben; Obszöne Äußerungen eines Arbeitnehmers gegenüber seinen weiblichen Kollegen; Kausalität zwischen Behinderung und Fehlverhalten; Zur Ermessensausübung der Hauptfürsorgestelle und deren Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten; Ausgleich der Nachteile des Schwerbehinderten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt; Abwägung des Arbeitgebers an der wirtschaftlichen Nutzung der vorhandenen Arbeitsplätze gegen das Interesse des Schwerbeschädigten an Erhaltung seines Arbeitsplatzes ; Verletzung der Würde und des Persönlichkeitsrechts anderer Betriebsangehöriger ; Reduzierung des Ermessensspielraums der Behörde auf Null

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
04.12.1990
Aktenzeichen
14 L 60/89
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1990, 12951
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1990:1204.14L60.89.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Schleswig-Holstein - 04.03.1987 - AZ: 13 A 58/86

Fundstelle

  • AP Nr 1 zu § 19 SchwbG 1986

Verfahrensgegenstand

Schwerbehinderten-Kündigung

Amtlicher Leitsatz

Eine Kündigung kann auch bei behinderungsbedingtem Fehlverhalten gerechtfertigt sein, wenn die Würde und das Persönlichkeitsrecht anderer Betriebsangehöriger verletzt werden.

Der 14. Senat des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein hat
auf die mündliche Verhandlung vom 4. Dezember 1990
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Thiem,
die Richter am Oberverwaltungsgericht Figge und Winzer sowie
den ehrenamtlichen Richter Bartels und die ehrenamtliche Richterin Zaddach
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 4. März 1987 - 13 A 58/86 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben, im übrigen ist die Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

I.

Der im Jahre 1940 geborene Kläger ist kinderlos verheiratet. Er hat den Beruf eines Bauglasers erlernt, jedoch keinen entsprechenden Abschluß erlangt. Er ist wegen cerebralen Anfallsleidens, herabgesetzten Sehvermögens beiderseits, Wirbelsäulenveränderungen, Hüftgelenkleidens beiderseits mit beginnender rechter Bewegungseinschränkung schwerbehindert. Ihm ist eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 60 % zuerkannt worden.

2

Im Mai 1975 trat der Kläger bei der Beigeladenen in ein Arbeitsverhältnis ein. Er war zunächst im Stahlbau zur Bedienung spanabhebender Maschinen tätig. Als dieser Arbeitsplatz aus betrieblichen Gründen aufgelöst wurde, wurde er anschließend als Gabelstaplerfahrer in der Transportabteilung, in der Isolierabteilung und als "Ausfeger", später als Fahrstuhlführer beschäftigt. Als die Fahrstühle auf elektronische Steuerung umgestellt wurden, erhielt der Kläger ab 1. Oktober 1981 die Tätigkeit als Hilfsarchivar in der Zeichnungsverwaltung zugewiesen. Im März 1982 äußerte der Kläger in Anwesenheit verschiedener Mitarbeiter u.a. auch der Angestellten ... und ... "Meine Sehnsüchte wären: Ich möchte Frauenarzt sein und Mädchen unter 20 Jahren an einen Stuhl fesseln und sie dann entjungfern. Sie haben ein gebärfreudiges Becken. Wie kann ich Sie überraschen, um Ihre nahtlose Bräune zu sehen." Er wurde deswegen vom Leiter des Archivs, bei dem sich die Kolleginnen beschwert hatten, zur Rede gestellt. Er entschuldigte sich und erklärte, derartiges in Zukunft zu unterlassen. Im Juni 1982 schrieb der Kläger auf einen Zettel folgenden Text: "... komm" in mein Bettchen, wir wollen schmusen und noch mehr. Ich liebe dicke Frauen mit großen Brüsten und dickem Bauch, so dick wie ein Luftballon und auch dicke pralle Schenkel liebe ich". Der Zettel gelangte - die Umstände sind zwischen den Parteien streitig - in den Besitz der Angestellten ... die ihn im August 1982 dem Archivleiter vorlegte.

3

Daraufhin beantragte die Beigeladene mit Schreiben vom 17. August 1982 bei der Beklagten die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung des Klägers, weil er sich gegenüber Mitarbeiterinnen in Wort und Schrift unsittlich geäußert habe, so daß diese nicht mehr gewillt seien, mit ihm zusammen zu arbeiten; viele Versuche in der Vergangenheit, den Kläger in anderen Bereichen des Unternehmens unterzubringen, seien an dessen Verhaltensweisen gescheitert. Der Vertrauensmann der Schwerbehinderten und der Betriebsrat der Beigeladenen stimmten der beabsichtigten Kündigung des Klägers zu. Das Arbeitsamt erhob keine Einwendungen gegen eine Zustimmung, meinte aber, daß der Behinderte bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage bei Verlust des Arbeitsplatzes mit einer längeren Arbeitslosigkeit rechnen müsse. Mit Bescheid vom 17. September 1982 erteilte die Beklagte (Fürsorgestelle für Kriegsopfer und Behinderte der Landeshauptstadt Kiel) die beantragte Zustimmung zur Kündigung, weil der Kläger den Betriebsfrieden empfindlich gestört habe, so daß eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit nicht mehr erwartet werden könne; eine Umsetzung sei wegen des Verhaltens des Klägers an seinen früheren Arbeitsplätzen nicht mehr möglich; die Rechtsgüterabwägung der verschiedenen Interessen ergebe deshalb, daß dem Antrag des Arbeitgebers entsprochen werden müsse.

4

Die Beigeladene kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fristgerecht zum 31. Oktober 1982. Der dagegen vom Kläger durchgeführte Kündigungsschutzprozeß hatte keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht Kiel hat die Klage durch Urteil vom 28. April 1987 - 3 b Ca 2231/82 - abgewiesen; die Berufung des Klägers ist durch - rechtskräftiges - Urteil des Landesarbeitsgerichts Kiel vom 9. September 1987 - 5 Sa 405/87 - zurückgewiesen worden.

5

Der Kläger legte gegen den Zustimmungsbescheid der Beklagten vom 17. September 1982 Widerspruch ein, weil die ihm zur Last gelegten Vorfälle unzutreffend gewürdigt worden seien. Der Widerspruchsausschuß bei der Hauptfürsorgestelle im Sozialministerium des Landes Schleswig-Holstein hob mit Bescheid vom 10. Dezember 1982 den angefochtenen Bescheid auf und versagte die Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung mit der Begründung, daß die von der Beigeladenen vorgetragenen Gründe in keinem Verhältnis zur beabsichtigten Maßnahme stünden; das Fehlverhalten des Schwerbehinderten sei nicht so gravierend, daß eine Beharrlichkeit zu erkennen sei. Die hiergegen erhobene Klage der Beigeladenen wies das Verwaltungsgericht durch Gerichtsbescheid vom 24. Juli 1984 - 10 A 34/83 - als unbegründet ab. In dem von der Beigeladenen angestrengten Berufungsverfahren legte der Kläger ein Attest seiner Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie Dr. ... Dr. ... und ... vom 23. Juli 1985 vor. Darin ist folgendes ausgeführt:

"Herr ... ist mir seit Mitte 1981 als Patient bekannt. Er leidet an einer ausgedehnten Mißbildung der linken Gehirnhälfte, an einer sogenannten partiellen Aplasie des Temporallappens. Dieses bedeutet, daß ein Teil des Schläfenlappens des Gehirnes nicht ausgebildet worden ist. Es handelt sich hierbei um eine angeborene Gehirnmißbildung.

Die durch diese Gehirnmißbildung bedingten Krankheitserscheinungen bestehen in anfallsartig auftretenden neurologischen und neuropsychologischen Ausfällen. Am häufigsten kam es in der Vergangenheit zu Migräneanfällen mit nachfolgender Sprachstörung, d.h., es kam zu anfallsartigen Ausfällen der von diesem Gebiet aus bewirkten Hirnleistungen (Sprachzentrum).

Auch andersartige neurologische Ausfälle wurden beobachtet, wie z.B. Gesichtsfeldausfälle.

Bei der eingehenden neurologisch-psychiatrischen Untersuchung wurde zusätzlich deutlich, daß Herr ... unter nicht übersehbaren sogenannten hirnorganischen Wesensveränderungen leidet, die sich in Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit, Einschränkung der geistigen Wendigkeit, verminderte Stressbelastbarkeit äußern.

Während der oben beschriebenen verschiedenen anfallsartigen Phasen ist Herr ... immer wieder örtlich, zeitlich und auch zur eigenen Person nicht orientiert gewesen.

Irgendwelche aktiven Handlungen, die zu der Annahme einer Gefährdung der Umwelt hätten Anlaß geben können, sind jedoch noch niemals beobachtet worden.

Die bei der Untersuchung erkennbare hirnorganische Wesensänderung und die zusätzlich zu dieser Wesensänderung eintretenden anfallsartigen neurologischen und neuropsychologischen Ausfälle lassen es nach nervenärztlicher Erfahrung als durchaus möglich erscheinen, daß Herr ... im Rahmen eines derartigen Ausnahmezustandes den ihm vorgeworfenen Zettel mit frivolem Inhalt gefertigt hat, welchen die ... AG ihm zum Vorwurf macht und wovon Herr ... uns in Kenntnis gesetzt hat.

Für eine anfallsartige Bewußtseinsstörung würde auch sprechen, daß Herr ... später diesen Zettel in den Papierkorb geworfen hat, wie er selbst angibt. Es würde dies dafür sprechen, daß er nach dem Abklingen des Anfalles und nach der dadurch eingetretenen Wiedererlangung der Steuerungsfähigkeit sein anfallsbedingtes Fehlverhalten erkannt hat und ungeschehen machen wollte.

Es wäre auch durchaus möglich, daß die abgelaufene Handlung im Rahmen eines psychomotorischen epileptischen Anfalles als sogenannter "komplexer Automatismus mit Handlungscharakter" abgelaufen ist.

Insgesamt muß es als wahrscheinlich angesehen werden, daß diese persönlichkeitsfremde Handlung als Krankheitserscheinung und Behinderungsfolge anzusehen ist."

6

Das Oberveraltungsgericht hob durch Urteil vom 25. Juli 1985 - 12 OVG A 144/84 - unter Abänderung des angefochtenen Gerichtsbescheids den Widerspruchsbescheid des Widerspruchsausschusses bei der Hauptfürsorgestelle auf und verpflichtete die Widerspruchsbehörde, über den Widerspruch der - jetzigen - Beigeladenen erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts zu entscheiden. In dem rechtskräftig gewordenen Urteil des Berufungsgerichts ist ausgeführt: Wenn festgestellt werde, daß die Schwerbehinderteneigenschaft zumindest mitursächlich für das die Kündigung auslösende Verhalten gewesen sei, dann könne das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zurückgestellt werden; fehle hingegen dieser Zusammenhang, so sei das Ermessen zu Lasten des Schwerbehinderten und zugunsten des Arbeitgebers eingeschränkt; demgemäß werde die Widerspruchsbehörde zunächst aufzuklären haben, ob die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers für sein Verhalten zumindest mitursächlich gewesen sei; weiter wäre zu ermitteln, ob Änderungen der Arbeitsplatzsituation oder eine Umsetzung eine Verhaltensänderung des Klägers herbeiführen könnten. Wäre eine solche Prognose wahrscheinlich und darüber hinaus die Arbeitsplatzänderung dem Arbeitgeber zumutbar, so könnte die Zustimmung zur Kündigung deshalb versagt werden, weil nicht alle bestehenden Möglichkeiten ausgeschöpft worden seien.

7

Im erneuten Widerspruchsverfahren führte die Beigeladene aus, eine Umsetzung auf eine Arbeitsstelle, auf der ein Verhalten wie das beanstandete hingenommen werden könne, sei nicht möglich; es sei früher bereits mehrfach versucht worden, den Kläger durch Umsetzung entsprechend seiner Behinderung einzusetzen; der Einsatz im Archiv sei die letzte damals noch mögliche Verwendung gewesen; ein Wiedereinsatz dort komme nicht in Betracht, da die Archivabteilung wesentlich verkleinert worden sei; seither seien bei der Beigeladenen ohnehin 1.300 Arbeitsplätze abgebaut worden; ein möglicher Einsatzort für den Kläger sei nicht mehr vorhanden, zumal nur ungelernte Tätigkeiten in Betracht kämen; auch eine Besprechung mit dem Betriebsrat und dem Vertrauensmann der Schwerbehinderten habe kein anderes Ergebnis gebracht. Der Kläger äußerte sich wie folgt:

8

Im Archivbereich seien schon seit zwei Jahren keine weiblichen Mitarbeiter mehr beschäftigt, so daß eine Umsetzung aus dem Archiv heraus nicht erforderlich sei. Ein so großes Unternehmen benötige auch eine Besetzung des Archivs mit mehr als zwei Arbeitern. Eine Umsetzung sei im übrigen auch nicht geeignet, zu einer Verhaltensänderung beizutragen, da der Kläger - wie aus dem nervenärztlichen Attest hervorgehe - sein Verhalten wegen eines Anfalls nicht steuern könne; anderenfalls biete er aber auch während eines Anfalls keine Gefahr für seine Umwelt. Da das beanstandete Verhalten - so das Attest - mit auf der Schwerbehinderung beruhe, dürfe es ohnehin für eine Kündigung nicht herangezogen werden.

9

Der Widerspruchsausschuß hörte in seiner Sitzung am 4. Februar 1986 die Beteiligten an, ihm lagen die Akten des Arbeitsgerichts mit der dort am 15. März 1985 durchgeführten Beweisaufnahme (Vernehmung der Zeugen ... und ... vor. Auf Grund des vom Widerspruchsausschuß gefaßten Beschlusses wurde der Widerspruch des Klägers gegen die Zustimmung der Beklagten zur Kündigung durch Bescheid vom 6. März 1986 zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt:

10

Der Ausschuß sei zur Auffassung gelangt, daß das Fehlverhalten des Widerspruchsführers nicht in ursächlichem Zusammenhang mit der Behinderung stehe; das der Mitarbeiterin zugesteckte obszöne Schriftstück könne nicht im Zustand eines cerebralen Anfalls verfaßt worden sein, denn das Schriftstück lasse eine rational gesteuerte Absicht und Zielsetzung erkennen. Auch das Schriftbild schließe seine Entstehung während eines Anfalles aus. Durch das Verhalten des Widerspruchsführers sei der. Betriebsfrieden ernsthaft gestört, zumal es sich nach den Zeugenaussagen vor dem Arbeitsgericht bei den obszönen Äußerungen des Widerspruchsführers gegenüber seinen Kolleginnen und Kollegen nicht um Einzelfälle gehandelt habe. Eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei dem Arbeitgeber danach nicht zuzumuten.

11

Der Kläger hat hiergegen fristgerecht Klage erhoben und unter Vertiefung seines bisherigen Vorbringens dargelegt, die Widerspruchsbehörde habe ihre Erkenntnisfähigkeit überschritten, wenn sie entgegen dem ärztlichen Attest feststelle, der verfahrensauslösende Vorfall könne nicht während eines cerebralen Anfalles stattgefunden haben; die Behinderung sei jedenfalls mit ursächlich gewesen, weshalb der Vorfall nicht zum Anlaß einer Kündigung genommen werden dürfe; auch sei der Betriebsfrieden durch das Verhalten des Klägers nicht gestört worden; dieser Gesichtspunkt sei von der Beigeladenen nur vorgeschoben worden.

12

Der Kläger hat beantragt,

die Bescheide vom 17. September 1982 und vom 6. März 1986 aufzuheben.

13

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

14

Sie hat die angefochtenen Bescheide für zutreffend gehalten.

15

Die zum Verfahren beigeladene Arbeitgeberin hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

16

Sie hat die angefochtenen Bescheide für zutreffend gehalten.

17

Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 4. März 1987 abgewiesen. Es hat ausgeführt: Die getroffene Ermessensentscheidung, mit der der Kündigung zugestimmt worden sei, sei nicht zu beanstanden. Auf die Frage, ob das Fehlverhalten des Klägers behinderungsbedingt gewesen sei, komme es im Hinblick auf die weiteren Ermittlungen im Widerspruchsverfahren und weitere Überlegungen nicht an. Stehe das Fehlverhalten nicht im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung so sei die Zustimmung zu erteilen gewesen, weil es den Arbeitnehmern der Beigeladenen nicht zuzumuten sei, gegen ihren Willen auf Dauer die obszönen Reden eines Kollegen hinzunehmen. Aber auch wenn das Fehlverhalten im Zusammenhang mit der Behinderung stehe, sei es den übrigen Arbeitnehmern nicht zuzumuten, sich damit wehrlos abzufinden; ein Arbeitgeber müsse einen untragbar gewordenen schwerbehinderten Arbeitnehmer nicht unter allen Umständen behalten, er sei im Falle einer Kündigung lediglich zu einer gesteigerten Rücksichtnahme dem Schwerbehinderten gegenüber verpflichtet. Auch unter diesem Gesichtspunkt sei die Ermessensentscheidung der Beklagten nicht rechtswidrig; stünden die beanstandeten Vorfälle in der im ärztlichen Attest geschilderten Art mit der Behinderung im Zusammenhang, dann wäre eine ständige Wiederholung fast als sicher anzunehmen, weil der Kläger dann sein Verhalten nicht steuern könnte. Die einzige andere Ermessensentscheidung wäre denkbar, wenn der Kläger auf einen Platz umgesetzt werden könnte, auf dem er alleine und in der Regel ohne Kontakt mit anderen Arbeitnehmern arbeiten könnte; das sei jedoch nach den Ermittlungen der Widerspruchsbehörde nicht möglich.

18

Gegen den ihm am 6. März 1987 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 24. März 1987 Berufung eingelegt. Er vertieft sein bisheriges Vorbringen und führt insbesondere aus:

19

Sowohl die Behörden als auch das Verwaltungsgericht hätten die gebotene Sachaufklärung hinsichtlich der Ursächlichkeit und Intensität der Behinderung des Klägers unterlassen. Die Behörde hätte sich nicht bloß auf die Behauptungen der Beigeladenen stützen dürfen, ohne sich eine eigene Überzeugung von deren Richtigkeit zu verschaffen; ebenso wenig habe das Verwaltungsgericht ohne eigene Überprüfung die Ausführungen des Arbeitgerichts sich zu eigen machen dürfen. Dem fachärztlichen Attest könne bei richtiger Würdigung nur entnommen werden, daß die Fertigung des Zettels mit dem frivolen Inhalt, von dem eine Photokopie dem Arzt vorgelegen habe, als Krankheitserscheinung und Behinderungsfolge anzusehen sei. Deshalb habe die Hauptfürsorgestelle ihr Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt, sie hätte sich nicht auf die pauschale Annahme zurückziehen dürfen, daß die Zusammenarbeit mit dem Kläger für die anderen Arbeitnehmer unzumutbar sei, und schon gar nicht hätte von einem regelmäßig wiederkehrenden Fehlverhalten ausgegangen werden dürfen, weil die ärztlichen Feststellungen dafür nichts hergäben. Vielmehr hätte es einer sorgfältigen Abwägung bedurft zwischen dem Interesse des Arbeitgebers an einer wirtschaftlichen Nutzung des Arbeitsplatzes und dem bestehenden besonders schutzwürdigen Interesse des schwerbehinderten Klägers am Erhalt seines Arbeitsplatzes. Zu Unrecht sei bei der bisherigen Entscheidung davon ausgegangen worden, daß der Kläger den hier in Rede stehenden Zettel der Mitarbeiterin Piotrowski zugesteckt habe; tatsächlich habe der Kläger das in einer anfallsartigen Phase verfaßte Schriftstück nach Abklingen des Anfalls zerknüllt und in den Papierkorb geworfen. Weder das Arbeitsgericht noch die Widerspruchsbehörde hätten sich den Originalzettel vorlegen lassen; darin liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Frau ... habe den Zettel aus dem Papierkorb an sich genommen und etwa zwei Monate später den Kläger damit bei den Vorgesetzten angeschwärzt, nachdem der Kläger ihr bei einer Auseinandersetzung vorgehalten habe, daß sie unberechtigterweise Schreibmaterial aus dem Archiv entwendet habe. Bei dem Vorfall im März 1982 habe es sich darum gehandelt, daß in einer Gruppe von Arbeitskollegen unanständige Witze erzählt worden seien, der Kläger habe nicht zurückstehen wollen und die in Rede stehende Äußerung getan. Schließlich habe die Beklagte ihr Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt; denn sie habe nicht geprüft, ob der Kläger nicht anderweitig bei der Beigeladenen beschäftigt werden könne; im übrigen würden schon seit längerem keine weiblichen Arbeitskräfte im Archiv beschäftigt.

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Der Kläger beantragt,

den angefochtenen Gerichtsbescheid aufzuheben und nach dem Klagebegehren zu erkennen.

21

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

22

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und trägt vor, daß der Kläger durch sein Verhalten - die hier zur Sprache gekommenen obszönen Äußerungen seien keine Einzelfälle - den Betriebsfrieden gestört habe; im übrigen sei sie nach wie vor der Ansicht, daß die Schwerbehinderteneigenschaft nicht ursächlich gewesen sei für sein Verhalten; das Attest beruhe auf der falschen Tatsache, daß der Kläger den Zettel in den Papierkorb geworfen hätte.

23

Die Beigeladene beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

24

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend, zumal die Kündigungsschutzklage des Klägers vom Arbeitsgericht rechtskräftig abgewiesen worden sei; sie behauptet, daß der Kläger den Zettel nicht im Zustand einer Ausfallserscheinung geschrieben, sondern zielbewußt gehandelt habe. Sie ist der Ansicht, daß die Beweisaufnahme durch das Arbeitsgericht habe verwertet werden können.

25

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Prozeßbeteiligten wird auf die Gerichtsakten, die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Hauptfürsorgestelle sowie auf die Akten des Arbeitsgerichts Kiel Ab Ca 2231/82 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

26

II.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Mit Recht hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen.

27

Gemäß § 12 des Schwerbehindertengesetzes in der hier anzuwendenden Fassung der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 (SchwbG) bedarf die (ordentliche) Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers als Schwerbehinderten durch die Beigeladene der vorherigen Zustimmung der Hauptfürsorgestelle. Die Entscheidung, ob sie die Zustimmung erteilt oder nicht, hat die Hauptfürsorgestelle nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen zu treffen (BVerwG, Urt. v. 28.11.1958 - V C 32.56 - E 8, 46; 17.12.1958 - V C 177.56 - BB 1959, 780; 18.12.1958 - V C 56.56 - BB 1959, 234). Bei der Ausübung des Ermessens ist dem Fürsorgecharakter des Schwerbehindertengesetzes (BVerwG, Urt. v. 15.4.1964 - V C 45.63 - E 18, 216/221) Rechnung zu tragen, um die Nachteile des Schwerbeschädigten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugleichen, damit er nicht gegenüber gesunden Arbeitnehmern "ins Hintertreffen" gerät (BVerwG, Urt. v. 12.1.1966 - V C 62.64 - E 23, 123/127; 28.2.1968 - V C 33.66 - E 29, 140/141). Der Gesetzeszweck erfordert danach, daß bei der Entscheidung über den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung das Interesse des Arbeitgebers an der wirtschaftlichen Nutzung der vorhandenen Arbeitsplätze gegen das Interesse des Schwerbeschädigten an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes abgewogen wird (BVerwG, Urt. v. 21.10.1964 - 5 C 14.63 - E 19, 327/328; BVerwGE 29, 141 [BVerwG 28.02.1968 - V C 33/66]). Dabei ist dem Schwerbehindertenschutz in erhöhtem Maße Rechnung zu tragen, wenn das dem behinderten Arbeitnehmer zum Vorwurf gemachte Verhalten seine Ursache gerade in der Behinderung hat (BVerwG, Urt. v. 27.10.1971 - V C 78.70 - E 39, 36/38). Auch in einem derartigen Fall ist jedoch zu beachten, daß der Schwerbehindertenschutz nicht den Zweck verfolgt, die Schwerbehinderten praktisch unkündbar zu machen (BVerwGE 23, 127;  29, 142) [BVerwG 28.02.1968 - V C 33/66]. Der Schutz des einzelnen Schwerbehinderten findet seine Grenze an der Zumutbarkeit bzw. Unzumutbarkeit für den Betrieb. Er darf nicht die Gestaltungsmöglichkeit des Arbeitgebers aushöhlen und muß der Ordnung im Betrieb und dem Betriebsfrieden Rechnung tragen (BVerwGE 29, 142, 144) [BVerwG 28.02.1968 - V C 33/66]. Im Rahmen des so abgesteckten (engen) Ermessensspielraums kommt im Hinblick auf den Betriebsfrieden ein besonderes Gewicht dem Abwägungskriterium zu, daß der Schwerbeschädigte durch sein Verhalten, auch wenn dieses behinderungsbedingt ist, nicht die Würde und das Persönlichkeitsrecht anderer Betriebsangehöriger verletzen darf. Allerdings gebietet auch in solchen Situationen die vom Gesetz dem Arbeitgeber auferlegte besondere Fürsorgepflicht, alle Möglichkeiten im Betrieb für eine Umsetzung des schwerbehinderten Arbeitnehmers auszunutzen, wenn dieser an seinem bisherigen Arbeitsplatz untragbar geworden ist. Sind solche Möglichkeiten aber erschöpft oder gab es sie gar nicht, dann liegt es im Rahmen einer sachgerechten Ermessensausübung, ja diese gebietet es geradezu, die Zustimmung zur Kündigung zu erteilen; denn der Schwerbehindertenschutz steht nicht über der Würde und dem Persönlichkeitsrecht anderer Mitarbeiter.

28

Unter Beachtung dieser Grundsätze sind die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen, wie das Verwaltungsgericht mit zutreffender Begründung dargelegt hat, nicht zu beanstanden. Die Behörden haben ihr Ermessen in nicht fehlerhaften Weise ausgeübt. Zu Unrecht macht der Kläger geltend, die Behörden hätten den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt und das Verwaltungsgericht habe sich in fehlerhafter Weise die Ausführungen des Arbeitsgerichts zu eigen gemacht. Daß letzteres nicht zutrifft, ergibt sich schon daraus, daß der angefochtene Gerichtsbescheid zugestellt worden war, bevor das Urteil des Arbeitsgerichts erging. Der Widerspruchsausschuß bei der Hauptfürsorgestelle hat sich entgegen der Ansicht des Klägers nicht darauf beschränkt, das Vorbringen der Beigeladenen am Vortrag des Klägers abzuwägen; er hat auch das vom Kläger vorgelegte ärztliche Attest und die Aussagen der vom Arbeitsgericht am 15. März 1985 vernommenen Zeugen gewürdigt. Der Widerspruchsausschuß hat - wie dem Widerspruchsbescheid zu entnehmen ist - angenommen, daß der Kläger das "obszöne Schriftstück" der Mitarbeiterin ... "zugesteckt" hat. Diese Annahme entspricht verständiger Würdigung der Zeugenaussagen. Frau ... hat ausgesagt, daß es ihr "mit diesen Briefen des Klägers" langsam zuviel gewesen sei und daß sie den letzten Brief "vom Kläger erhalten" habe. Der Zeuge ... hat bekundet, daß er den erwähnten "Brief" schon vorher gekannt habe, weil der Kläger diesen ihm vorher zum Lesen gegeben habe. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat dazu während der Beweisaufnahme vor dem Arbeitsgericht keine Fragen an die Zeugen gestellt, obwohl er im Schriftsatz vom 27. Februar 1985 vorgetragen hatte, daß der Kläger diesen Zettel zerknüllt und weggeworfen habe. Daraus ergibt sich, daß der Kläger gerade nicht, wie er vorträgt und im ärztlichen Attest angenommen wird, den während einer ausfallsbedingten Bewußtseinsstörung geschriebenen Zettel nach Wiedererlangung der Steuerungsfähigkeit unbemerkt verschwinden lassen und sein Fehlverhalten ungeschehen machen wollte. Rechtlich nicht zu beanstanden ist weiter, daß der Widerspruchsausschuß aufgrund des fachärztlichen Attestes die Anfertigung des Zettels im Juni 1982 nicht als Krankheitserscheinung und Behinderungsfolge im Rahmen eines "anfallsartigen neurologischen und neuropsychologischen" Ausnahmezustandes, sondern als Fehlverhalten gewürdigt hat, das nicht in ursächlichem Zusammenhang mit der Behinderung des Klägers gestanden hat. Die im fachärztlichen Attest dargelegte Wahrscheinlichkeit einer Behinderungsfolge beruhte, wie sich aus den Ausführungen ergibt, im konkreten Bezug wesentlich auf der vom Kläger erhaltenen Information, daß dieser den Zettel in den Papierkorb geworfen habe. Diese Voraussetzung im ärztlichen Attest traf jedoch, wie aus der zutreffenden Würdigung der Zeugenaussagen folgt, nicht zu. Nicht zu beanstanden ist, daß der Widerspruchsausschuß aufgrund der Zeugenaussagen das "Zustecken" als rational gesteuerte Handlung gewertet und hieraus sowie aus dem Schriftbild ausgeschlossen hat, daß sich das Fehlverhalten während eines cerebralen Ausfalleidens ereignet habe. Die Würdigung des Schriftbildes ließ sich sehr wohl an der Photokopie des Zettels vornehmen. Das Original wäre allein für die Frage, ob der Zettel zerknüllt worden ist, bedeutsam gewesen. Auf diese Frage kam es jedoch nicht an, da etwaige Knüllspuren keine Rückschlüsse darauf zulassen, daß der Kläger den Zettel beseitigt hat, ohne daß andere von seinem Inhalt Kenntnis erhielten, zumal der Zeuge ... den Zettel vom Kläger zum Lesen erhalten und die Zeugin ... ihn vom Kläger zugesteckt erhalten hat. Danach ist es folgerichtig, daß der Widerspruchsausschuß das Fehlverhalten des Klägers als nicht behinderungsbedingt gewürdigt hat. Bei dieser nachvollziehbaren Wertung des Sachverhaltes ist es ermessensgerecht, daß der Widerspruchsausschuß auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Kläger sich in den letzten Jahren erfolglos um andere Arbeitsstellen bemüht hat, der Kündigung zugestimmt hat.

29

Aber selbst wenn das Fehlverhalten des Klägers seine Ursache in seiner Behinderung gehabt hätte, würde die Zustimmung zur Kündigung nicht auf einem Ermessensfehler beruhen; denn, wie das Verwaltungsgericht mit Recht ausgeführt hat, war es den Mitarbeitern nicht zuzumuten, das obszöne Verhalten des Klägers länger hinzunehmen. Der Widerspruchsausschuß hat den Aussagen der vom Arbeitsgericht vernommenen Zeugen in rechtlich einwandfreier Würdigung entnommen, daß es sich bei den zwei Vorfällen, die zum Kündigungsbegehren seitens der Beigeladenen führten, nicht um Einzelfälle gehandelt hat und daß das Verhalten des Klägers zu einer beträchtlichen Unruhe und Betriebsstörung geführt hat, so daß die Mitarbeiter in der Archivabteilung unabhängig voneinander eine weitere Zusammenarbeit mit dem Kläger abgelehnt haben. Fürsorgestelle und Widerspruchsausschuß haben auch gesehen, daß ein Einsatz des Klägers in einem anderen Betriebsbereich nicht möglich war, nachdem die in Betracht kommenden Umsetzungsmöglichkeiten erschöpft waren. Für den Kläger kamen nur Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte in Betracht. Solche sind teilweise aus organisatorischen Gründen inzwischen weggefallen. Für einzelne andere Einsatzmöglichkeiten hat sich der Kläger, wie der Bericht der Abteilung FKT 2 vom 13. November 1979, der der Beklagten und der Widerspruchsbehörde vorgelegen hat, über seinen mangelnden Arbeitsernst zeigt, selbst disqualifiziert. Der vom Verwaltungsgericht angesprochenen exzeptionellen Möglichkeit, den Kläger auf einen Platz zu setzen, auf dem er alleine und in der Regel ohne Kontakt mit anderen Arbeitnehmern arbeiten könnte, kommt keine realistische Bedeutung zu, so daß ihr nicht nachgegangen zu werden brauchte; denn in einem so großen Betrieb wie dem der Beigeladenen sind Kontakte mit anderen, auch weiblichen, Betriebsangehörigen mindestens in der Kantine oder beim allgemeinen Verlassen des Betriebsgeländes bei Arbeitsschluß unvermeidbar. Bei dieser Situation gebührt entsprechend den obigen Darlegungen dem Persönlichkeitsrecht der Mitarbeiter der Vorrang vor dem Schwerbehindertenschutz des Klägers. Es ist ferner zu berücksichtigen, daß der Betriebsrat und der Vertrauensmann der Schwerbeschädigten der Kündigung zugestimmt, das Arbeitsamt dagegen keine Einwendungen erhoben hat.

30

Danach war im Falle des Klägers, auch wenn sein Fehlverhalten behinderungsbedingt gewesen sein sollte, der Ermessensspielraum der Behörde auf Null reduziert, so daß nur die Erteilung der Zustimmung zur Kündigung in Betracht kam.

31

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO, § 167 VwGO i.V.m. § 710 ZPO. Aus Billigkeitsgründen ist davon abgesehen worden, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen gemäß § 162 Abs. 3 VwGO dem Kläger aufzuerlegen.

32

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) sind nicht gegeben.

Thiem
Figge
Winzer