Sozialgericht Stade
Urt. v. 09.05.2007, Az.: S 17 AS 200/06

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
09.05.2007
Aktenzeichen
S 17 AS 200/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 71786
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
LSG - 29.05.2013 - AZ: L 13 AS 174/07

Urteil durch Urteil des Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen vom 29.05.2013 (L 13 AS 174/07) aufgehoben.

Tenor:

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 13. Juli 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. März 2006 verpflichtet, der Klägerin Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe ab April 2005 bis März 2006 mit der Maßgabe zu gewähren, dass das von der Klägerin bewohnte Eigenheim nicht als Vermögen zu berücksichtigen ist.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Frage, ob das von der Klägerin bewohnte Eigenheim als angemessenes Vermögen von einer Berücksichtigung gemäß § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II ausgenommen ist oder nicht.

Die Klägerin, geboren 1955, bewohnt ein Eigenheim mit einer Wohnfläche von 106 m². Das Grundstück hat eine Größe von 930 m². Das Haus wurde im Jahr 1994 gebaut und ist nicht im Zusammenhang mit Kreditverpflichtungen belastet. Der Wert liegt nach Angaben der Klägerin bei rund 183.000,00 EUR.

Auf den Leistungsantrag vom 21. Dezember 2004 hin bewilligte die Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales (BAgIS) mit Bescheid vom 23. Dezember 2004 für die Monate Januar bis einschließlich März 2005 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II.

Den Folgeantrag vom 18. März 2005 lehnte der mittlerweile zuständig gewordene Beklagte mit Bescheid vom 13. Juli 2005 mit der Begründung ab, dass das Grundeigentum der Klägerin zu verwerten sei. Zwar sei eine Teilung des Grundstücks aufgrund der örtlichen Verhältnisse nicht möglich, wohl aber könne beispielsweise das Dach ausgebaut werden und als eigenständige Wohnung verkauft werden. Zu rechnen sei bei einem Verkauf einer Eigentumswohnung in der Lage mit einem Erlös von rund 135.000,00 EUR, sodass die Investitionskosten dadurch abgedeckt werden könnten. Außerdem sei auch eine Vermietung denkbar, um Kreditraten abzubezahlen. Die Klägerin hat gegen diesen Bescheid Widerspruch eingelegt, da aus ihrer Sicht ihr die finanziellen Mittel zum Ausbau fehlten und die Bildung von Wohnungseigentum aufgrund der Grundrisskonzeption des Hauses ohnehin nicht in Frage komme.

Nach Zurückweisung des Widerspruchs durch Widerspruchsbescheid vom 16. März 2006 hat die Klägerin am 30. März 2006 Klage erhoben.

Die Klägerin trägt vor, eine Verwertung des Hauses durch den Dachausbau sei nicht möglich.

Die Klägerin beantragt,

Den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 13. Juli 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. März 2006 zu verpflichten, ihr Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe ab April 2005 mit der Maßgabe zu gewähren, dass das von ihr bewohnte Eigenheim nicht als Vermögen zu berücksichtigen ist.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, vor dem Hintergrund der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei das eigene Heim der Klägerin nicht mehr als angemessen anzusehen und daher auch nicht über § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II geschützt. Auch könne kein Härtefall gesehen werden, der eine Verwertung des Hauses ausschlösse.

Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu den Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten des Beklagten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 09. Mai 2007 waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage hat Erfolg.

Die angegriffene Entscheidung des Beklagten erweist sich als rechtswidrig und beschwert daher die Klägerin, § 54 Abs 2 SGB II. Die Klägerin hat Anspruch auf die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe ohne vermögensmäßige Berücksichtigung des von ihr bewohnten Eigenheims.

1. Das selbst genutzte Eigenheim der Klägerin ist bei der Ermittlung der Hilfebedürftigkeit gemäß § 9 SGB II in Verbindung mit § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II nicht als Vermögen zu berücksichtigen.

Hilfebedürftig ist gemäß § 9 Abs 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält.

Gemäß § 12 Abs 1 SGB II sind als Vermögen alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen. Nach Abs 3 Nr 4 ist ein selbstgenutztes Hausgrundstück von angemessener Größe oder eine entsprechende Eigentumswohnung als Vermögen nicht zu berücksichtigen.

Die Angemessenheit richtet sich nach dem Wortlaut des Gesetzes allein nach der Größe des Grundstücks bzw des Hauses (aus verfassungsrechtlichen Gründen kritisch dazu: Bundessozialgericht, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 2/05 R –, Rn 15-16).

Hinsichtlich der Angemessenheit des Grundstücks selbst wird von Größen bis zu 500 m² im städtischen und bis zu 800 m² im ländlichen Bereich ausgegangen (vgl Brühl in: LPK - SGB II, § 12, Rn 45). Das Grundstück der Klägerin ist 930 m² groß und übersteigt damit die Orientierungsgröße. Der Beklagte war jedoch bereit, dies aufgrund der Umstände dieses Falles hinzunehmen, so dass die Überschreitung der Angemessenheitsmaßstabs insoweit unberücksichtigt bleiben konnte.

Das Eigenheim der Klägerin mit einer Wohnfläche von 106 qm, das von der Klägerin alleine bewohnt wird, ist als noch angemessen im Sinne des § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II anzusehen (abweichend von BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 2/05 R –, Rn 22).

Unter Anknüpfung an die Wohnflächengrenzen des § 39 Abs 1 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes wird ein Haus oder eine Eigentumswohnung mit einer Wohnfläche von bis zu 130 m² bei bis zu vier Personen für angemessen gehalten (vgl BSG, Urteil vom 16.05.2007 – B 11b AS 37/06 R – in Anlehnung an BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 2/05 R –; Brühl in: LPK-SGB II, § 12, Rn 44; Mecke in: Eicher/Sprellbrink, SGB II, § 12, Rn 71; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 01.09.2006 – L 8 AS 425/06 ER –; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.06.2006 – L 7 AS 443/05 ER –).

Nach der Rechtsprechung des 7b. Senats des Bundessozialgerichts im Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 2/05 R – ist bei der Bestimmung der Angemessenheit von Eigenheimen außerdem eine Differenzierung nach der Anzahl der Personen geboten, wie sie in der Rechtsprechung zur damaligen Arbeitslosenhilfe bereits erwogen worden sei. Der Senat verweist im genannten Urteil (dortige Rn 21-22) darauf, dass im mittlerweile außer Kraft getretenen Zweiten Wohnungsbaugesetz selbst keine Grundlage für eine Reduzierung der Grenzwerte bei einer geringeren Personenzahl als vier vorhanden war, sondern lediglich die Erhöhung um jeweils 20 m² pro Person vorgesehen war. Allerdings habe schon ein Teil der Oberverwaltungsgerichte im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes für eine Reduzierung um jeweils 20 m² pro Person plädiert, wenn weniger als vier Personen im Haushalt leben. Auch das Bundesverwaltungsgericht habe eine Orientierung an der Bewohnerzahl zur Bestimmung der Angemessenheit befürwortet.

Der 7b. Senat hält eine Berücksichtigung auch der Anzahl der Personen vor allem mit Blick auf die Regelung im § 90 Abs 2 Nr 8 Satz 2 SGB XII für geboten. Dort ist festgelegt, dass sich die Angemessenheit eines Hausgrundstücks nach der Zahl der Bewohner, dem Wohnbedarf, der Grundstücksgröße, der Hausgröße, dem Zuschnitt und der Ausstattung des Wohngebäudes sowie dem Wert des Grundstücks einschließlich des Wohngebäudes bemisst. Der Senat befürchtet hier verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbare Ungleichheiten bei der Immobilienverwertungspflicht im SGB II und SGB XII.

Zugleich stellt der 7b. Senat klar, dass die genannten Grenzwerte, dh 80 m² bei bis zu zwei Personen, 100 m² bei bis zu drei Personen, nicht als quasi normative Größen herangezogen werden können. Es müsse Entscheidungsraum für außergewöhnliche, vom Regelfall abweichende Bedarfslagen im Einzelfall bestehen bleiben (BSG a.a.O., Rn 22).

Der dargestellten Rechtsprechung des 7b. Senats ist im Grundsatz uneingeschränkt zuzustimmen, vor allem mit Blick auf eine möglichst gleichartige Behandlung der Immobilienverwertung im SGB II und im SGB XII.

Nach Überzeugung der Kammer ist jedoch im Falle der Klägerin aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit eine Überschreitung der vom BSG aufgestellten Angemessenheitsgrenze von 80 m² bei bis zu zwei Personen geboten. Im Einzelnen:

a. Die Wohnsituation der Klägerin ist für eine über 50 Jahre alte Frau, die viele Jahre ihres Lebens als Finanzbuchhalterin berufstätig war und in dieser Zeit Vermögen bilden konnte, als nicht unüblich anzusehen. Das Eigenheim ist abbezahlt und auch hinsichtlich der Wohnfläche weder außergewöhnlich noch unter Zugrundelegung allgemeiner Maßstäbe im eher ländlichen Bereich als übertrieben einzustufen. Vielmehr stellt sich die Wohnsituation der Klägerin im Grundsatz als sozialadäquat dar.

Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Klägerin in eine wirtschaftliche Notlage geraten ist, die die Beantragung staatlicher Transferleistungen nach dem SGB II erforderlich gemacht hat. Aus Sicht der Kammer kann durchaus in Frage gestellt werden, ob der Bezug von Grundsicherungsleistungen bei gleichzeitigem Vorhandensein von Wohneigentum überhaupt zu rechtfertigen ist, denn das Vorhandensein von Wohneigentum zählt im Gegensatz zum Vorhandensein einer Unterkunft nicht zum unbedingt lebensnotwendigen unverzichtbaren Bedarf. Allerdings liegt mit § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II eine grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers vor, wonach sich der Bezug von Grundsicherungsleistungen und der Besitz von Wohnimmobilien nicht ausschließen. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist es damit noch als sozialadäquat anzusehen, auch als Empfänger existenzsichernder staatlicher Transferleistungen in einem gesetzlich nicht näher definierten Angemessenheitsrahmen Grundeigentümer zu sein.

Dem BSG ist dahingehend zuzustimmen, dass eine Reduzierung der als angemessen anzusehenden Wohnflächen nach der Anzahl der Personen geboten ist, allerdings führt nach Überzeugung der Kammer eine generelle Reduzierung auf nur 80 m² im Ergebnis dazu, dass Alleinstehende oder Paare trotz der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers letztlich kaum noch in geschütztem Wohneigentum verbleiben können.

Denn während Eigentumswohnungen von 80 m² Wohnfläche und weniger im allgemeinen Bestand in großer Zahl vorhanden sind, sind Wohnhäuser mit bis zu 80 m² Wohnfläche nach Einschätzung der Kammer eher selten. Es dürfte sich dabei in erster Linie um alte Häuser oder um ältere kleine Reihenhäuser handeln. Nach modernerem Standard weisen Einfamilienhäuser in aller Regel mindestens eine Wohnfläche von 100 m² auf, wie ein Blick in Angebote von Bauträgern und Hausbauunternehmen zeigt. Die Schutzvorschrift des § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II liefe daher bei Alleinstehenden oder Paaren mit Eigenheim entgegen der Intention des Gesetzgebers letztlich ins Leere.

Hinzukommt, dass gerade ältere Leistungsempfänger bzw Antragsteller auf Grundsicherungsleistungen aufgrund der sich verändernden Lebenssituationen oftmals in größeren Einfamilienhäusern leben, zB nachdem die Kinder ausgezogen sind oder ein Ehepartner verstorben ist. Andererseits werden junge Paare, die ein Haus erwerben oder bauen wollen, mit Blick auf die mögliche Gründung einer Familie ebenfalls eher ein Haus von mehr als 80 m² anstreben. Derartige Umstände stellen gerade keine atypischen Verhältnisse dar, die auch nach der Rechtssprechung des 7b. Senats eine abweichende Beurteilung rechtfertigen können. Vielmehr handelt es sich um eine übliche Entwicklung, die jedoch auch sachgerecht erfasst werden muss.

Die Kammer hält im Ergebnis eine Reduzierung der als angemessen anzusehenden Wohnflächen bei Wohneigentum nach der Anzahl der Bewohner im Rahmen des § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II auch bei Eigenheimen für gerechtfertigt, sieht jedoch mit Blick auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls sowie allgemein auf die dargestellten Entwicklungen von Lebenssituationen gerade älterer Leistungsbezieher bzw Antragsteller sowie die nach allgemeiner Kenntnis unterstellte Struktur des Hausbestands eine flexiblere Handhabung der Angemessenheitsgrenzen für notwendig. Um eine ausreichende Einzelfallgerechtigkeit zu gewährleisten, muss nach Überzeugung der Kammer auch in typischen Fällen ein Haus mit mehr als 80 m² Wohnfläche bei Haushalten mit einer oder zwei Personen noch als angemessen im Sinne des § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II angesehen werden können. Dies muss zumindest dann gelten, wenn wie hier die betroffene Leistungsbezieherin bzw Antragstellerin ein aus eigenen Mitteln errichtetes, abbezahltes Eigenheim von einer Größe bewohnt, die nach Alter und Lebenssituation nach allgemeiner Anschauung noch als üblich und sozialadäquat anzusehen ist.

b. Als bedenklich erschien der Kammer, dass der Beklagte im hier streitigen Zeitraum in vergleichbaren anderen, dem Gericht bekannten Leistungsangelegenheiten Eigenheime mit einer Wohnfläche von mehr als 100 m² ohne Weiteres nicht als Vermögen angerechnet hat, so wie es bis zur Entscheidung des BSG im November 2006 auch der überwiegenden Handhabung entsprach. Hierzu wird konkret Bezug genommen auf das Verfahren vor dem Sozialgericht Stade zu Az. S 17 AS 51/05. Dort bewohnten zwei Personen ein Eigenheim von 103 m², ohne dass der Beklagte von einer Unangemessenheit im Sinne des § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II ausging.

Dem Gericht sind keine sachlichen Gründe für die diesbezügliche andere Handhabung der Angemessenheitsgrenzen im Falle der Klägerin und im genannten parallelen Fall erkennbar. Es erscheint jedoch willkürlich, wenn in einem Fall die beantragten Zuschussleistungen nach dem SGB II unter Verweis auf die vorrangige Verwertung unangemessenen Wohneigentums verweigert werden und zugleich in einem vergleichbaren anderen Fall fast identische Wohnverhältnisse hingenommen werden.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.