Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 05.07.2017, Az.: 4 OB 160/17
vorheriger Antrag; Aussetzung; Beschwerde; entscheidungserheblich; Feststellungsinteresse; vorbeugende Feststellungsklage; berechtigtes Interesse; Leistungsklage; Meinungsverschiedenheit; Rechtsschutzbedürfnis; qualifiziertes Rechtsschutzinteresse; Subsidiarität; Vorgreiflichkeit
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 05.07.2017
- Aktenzeichen
- 4 OB 160/17
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 53932
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 24.04.2017 - AZ: 2 A 563/16
Rechtsgrundlagen
- § 43 Abs 1 VwGO
- § 43 Abs 2 S 1 VwGO
- § 94 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Das Oberverwaltungsgericht als Beschwerdegericht hat seiner Prüfung der Vorgreiflichkeit im Sinne von § 94 VwGO grundsätzlich die Würdigung der Sach- und Rechtslage durch die Vorinstanz zugrunde zu legen. Anderes gilt, wenn das Verwaltungsgericht die Sach- und Rechtslage ersichtlich grob fehlerhaft beurteilt hat oder seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen hat oder ein Aufklärungsmangel vorliegt.
2. Zum Erfordernis eines qualifizierten Rechtsschutzbedürfnis bei einer vorbeugenden Feststellungsklage.
Tenor:
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - Berichterstatter der 2. Kammer - vom 24. April 2017 aufgehoben.
Gründe
Die Beschwerde des Klägers ist begründet.
Gemäß § 94 VwGO kann das Gericht das Verfahren aussetzen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen Rechtsstreits bildet. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Das Verwaltungsgericht war daher nicht befugt, das Klageverfahren bis zum Abschluss der beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerden (u.a. 1 BvR 2284/15), die sich mittelbar gegen den Rundfunkbeitragsstaatsvertrag richten, auszusetzen. Denn es fehlt an der Vorgreiflichkeit der in den Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erwartenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages für die beim Verwaltungsgericht anhängige Klage.
Die von § 94 VwGO geforderte und auch als Vorgreiflichkeit bezeichnete Abhängigkeit der Entscheidung des Rechtsstreits von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, setzt verallgemeinernd jedenfalls voraus, dass das Ergebnis des anderen gerichtlichen Verfahrens entscheidungserheblich ist für den Ausgang des Verfahrens, das ausgesetzt werden soll (vgl. Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 32. EL 2016, § 94 Rdnr. 18). Auf die gegen einen Aussetzungsbeschluss erhobene Beschwerde prüft das Oberverwaltungsgericht als Beschwerdegericht allerdings nicht umfassend, ob das der Fall ist, sondern es hat seiner Überprüfung der Vorgreiflichkeit die Würdigung der Sach- und Rechtslage durch das aussetzende Verwaltungsgericht zugrunde zu legen. Denn andernfalls würde das Beschwerdegericht in dem die Aussetzung des Verfahrens betreffenden Zwischenstreit den gesamten Streitstoff beurteilen und damit dem aussetzenden Gericht praktisch sein Urteil in der Hauptsache vorgeben, worin eine Verletzung des gesetzlich geregelten Ganges der Entscheidungsfindung und eine Aufhebung der Selbständigkeit der verschiedenen Instanzen liegen würde (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 22.7.2013 - 5 OB 146/13 - m.w.N.; Rudisile, a.a.O., Rdnr. 41). Anders verhält es sich jedoch dann, wenn das Verwaltungsgericht die Sach- und Rechtslage offensichtlich grob fehlerhaft beurteilt hat oder seine Überzeugung erkennbar fehlerhaft nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen hat oder ein Aufklärungsmangel vorliegt (vgl. Bay. VGH, Beschl. v. 4.6.1991 - 8 C 91.1185 -, NVwZ-RR 1992, 334; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 2.11.1999 - 11 S 1770/99 -; Rudisile, a.a.O.).
Das ist hier der Fall. Denn das Verwaltungsgericht hat bei der Beurteilung der Vorgreiflichkeit sowohl die Sach- als auch die Rechtslage in dem von ihm ausgesetzten Verfahren offensichtlich grob fehlerhaft beurteilt.
Ersichtlich fehlerhaft ist bereits die den Gründen des mit der Beschwerde angegriffenen Beschlusses zu entnehmende Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Klage sich gegen einen Rundfunkbeitragsbescheid richte, für dessen Rechtmäßigkeit es auf die Verfassungsmäßigkeit des geltenden Rundfunkbeitragsstaatsvertrages ankomme. Denn ein derartiger Verwaltungsakt ist nicht Gegenstand des ausgesetzten Rechtsstreits. Der Kläger hat vielmehr eine allgemeine Feststellungsklage und - im Wege der nachträglichen Klageerweiterung - eine allgemeine Leistungsklage auf Rückzahlung bereits geleisteter Rundfunkbeiträge erhoben.
Diese Klage ist sowohl hinsichtlich der beiden vom Kläger formulierten Feststellungsanträge als auch hinsichtlich des Leistungsantrags offenkundig unzulässig. Somit ist die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags für das ausgesetzte Klageverfahren offensichtlich nicht entscheidungserheblich.
Der allgemeinen Leistungsklage fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, denn der Kläger hat insoweit das gerichtliche Verfahren anhängig gemacht, ohne zuvor beim Beklagten einen entsprechenden Antrag zu stellen und eine angemessene Entscheidungsfrist abzuwarten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.11.2016 - 6 A 3.15 - und Urt. v. 4.11.1976 - II C 59.73 -, DVBl. 1978, 607 = DÖV 1977, 139; Rennert, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, vor § 40 Rdnr. 13; von Albedyll, in: Bader u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, vor § 40 Rdnr. 27).
Für den Feststellungsklageantrag, dass sich in der E. in D. eine Betriebsstätte, nicht aber eine Wohnung des Klägers befindet, fehlt es an einem berechtigten Interesse an der baldigen Feststellung i.S. von § 43 Abs. 1 VwGO. Im Hinblick darauf, dass eine allgemeine Feststellungsklage nur dann erhoben werden kann, wenn die Anwendung einer bestimmten Norm des öffentlichen Rechts auf einen bereits übersehbaren Sachverhalt streitig ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.1.1996 - 8 C 19.94 -, BVerwGE 100, 262 m.w.N.), kann ein Feststellungsinteresse nur bejaht werden, wenn es über die rechtliche Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Kläger und der zuständigen Behörde gibt (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.11.1980 - 5 C 18.79 -, BVerwGE 61, 145, 148 f.; Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 43 Rdnr. 17). Derartige Meinungsverschiedenheiten bestehen hier nicht mehr, nachdem der Beklagte mit Schriftsatz vom 14. Februar 2017 eingeräumt hat, dass der Kläger in den in Rede stehenden Räumlichkeiten eine Betriebsstätte i.S. von § 6 Abs. 1 Satz 1 RBStV und nicht eine Wohnung i.S. von § 1 Abs. 1 Satz 1 RBStV vorhält. Damit hat sich der hierauf bezogene Feststellungsklageantrag erledigt.
Im Übrigen steht der Zulässigkeit der beiden vom Kläger anhängig gemachten Feststellungsanträge der in § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO normierte Grundsatz der Subsidiarität der Feststellungsklage u.a. gegenüber Gestaltungsklagen entgegen.
Da der Beklagte gemäß § 10 Abs. 5 Satz 1 RBStV befugt ist, rückständige Rundfunkbeiträge durch Verwaltungsakt festzusetzen, handelt es sich bei den Feststellungsklageanträgen der Sache nach um eine sog. vorbeugende Feststellungsklage, mit deren Hilfe der Kläger den drohenden Erlass von künftigen Rundfunkbeitragsbescheiden zu verhindern versucht. Die Zulässigkeit eines derartigen prozessualen Vorgehens setzt ein qualifiziertes, gerade auf die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes gerichtetes Rechtsschutzinteresse voraus. Für einen vorbeugenden Rechtsschutz ist dort kein Raum, wo und solange der Betroffene in zumutbarer Weise auf den von der Verwaltungsgerichtsordnung als grundsätzlich angemessen und ausreichend angesehenen nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.6.1983 - 8 C 43.81 -, NVwZ 1984, 168, 169 m.w.N.; Sodan, in: Sodan/Ziekow, NK-VwGO, 4. Aufl. 2014, § 43 Rdnr. 105; Kopp/Schenke, a.a.O., § 43 Rdnr. 24).
Im vorliegenden Fall kann es dem Kläger ohne weiteres zugemutet werden, gegen etwaige künftige Rundfunkbeitragsbescheide des Beklagten nachträglichen Rechtsschutz im Wege eines Widerspruchs und einer sich gegebenenfalls daran anschließenden Anfechtungsklage zu suchen. Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO ändert hieran nichts. Zum einen besteht für den Kläger die Möglichkeit, im Wege eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu streiten. Zum anderen ist aber auch nicht ersichtlich, dass ihm irreversible Nachteile drohen, wenn er durch Bescheid festgesetzte Rundfunkbeiträge zunächst entrichtet, die er im Falle der erfolgreichen Anfechtung des Verwaltungsaktes zurückerhalten würde.
Für das erfolgreiche Beschwerdeverfahren bedarf es weder einer Kostenentscheidung noch einer Streitwertfestsetzung. Denn die Kosten dieses Zwischenverfahrens, in dem sich die Beteiligten nicht als Gegner gegenüberstehen, werden von den Kosten des Rechtsstreits in der Hauptsache umfasst, und Gerichtskosten entstehen gemäß Nr. 5502 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG nur im Falle der Verwerfung oder Zurückweisung der Beschwerde (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 25.11.2015 - 12 OB 160/15 - u. v. 30.1.2013 - 9 OB 173/12 - m. w. Nachw.).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).