Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 12.03.2012, Az.: S 34 SO 88/08

Geltendmachung von Ansprüchen eines örtlichen Jugendhilfeträgers gegenüber einem überörtlichen Sozialhilfeträger; Berücksichtigung des Rangverhältnisses zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe; Einordnung des Besuchs einer integrativen Kindergartengruppe

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
12.03.2012
Aktenzeichen
S 34 SO 88/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 21012
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHILDE:2012:0312.S34SO88.08.0A

Fundstelle

  • JAmt 2012, 537-540

Tenor:

  1. 1.

    Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 19.177,29 EUR zu zahlen.

  2. 2.

    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

  3. 3.

    Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

  4. 4.

    Der Streitwert wird auf 19.177,29 EUR festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Klägerin macht im Rahmen von Leistungen nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) gegen den Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch geltend.

2

Die Klägerin ist örtliche Trägerin der Jugendhilfe nach dem SGB VIII (§ 1 nds. AGKJHG), der Beklagte ist überörtlicher Träger der Sozialhilfe nach dem SGB XII (§ 2 nds. AGSGB XII).

3

Dem Rechtsstreit liegt ein Antrag des Herrn G. vom 16.04.2007 zugrunde, der bei der Klägerin für seine im Jahr 2002 geborene Tochter H. die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe nach den §§ 53 ff. SGB XII ab dem 01.08.2007 geltend machte (Bl. 2 der Verwaltungsakte). Bei I. bestand ausweislich der Stellungnahmen des Sozialpädiatrischen Zentrums des Universitätsklinikums J. vom 22.09.2006, 04.04.2007 und 23.05.2007 (Bl. A 7 ff. der Verwaltungsakte) der Verdacht auf eine emotionale Störung mit sozialer Ängstlichkeit, ein elektiver Mutismus (eine psychische Störung, bei welcher die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigt ist) und eine Fehlbildung des rechten Auges mit einhergehender Blindheit (extremer Mikrophthalmus mit Amaurose). Auch nach der sozialmedizinischen Stellungnahme des Herrn Dr. K. vom Gesundheitsamt der Stadt J. vom 21.06.2007 bestand bei dem Kind eine erhebliche Sehbinderung, eine sprachliche Entwicklungsstörung und -verzögerung sowie eine Störung mit sozialer Ängstlichkeit (Bl. 6 ff. der Verwaltungsakte). Die Entwicklungs- und Verhaltensstörungen beeinträchtigten danach die Fähigkeit des Kindes zur Eingliederung in die Gesellschaft. Es drohe ein Zurückbleiben der geistigen Entwicklung. Als Form der Hilfe sei eine teilstationäre Betreuung durch Aufnahme in eine integrative Gruppe eines Kindergartens geeignet.

4

Nachdem der Fachbereich Soziales der Stadt J. den Vorgang mit Schreiben vom 03.07.2007 intern an den Fachbereich Jugend abgegeben hatte (Bl. 1 der Verwaltungsakte), bewilligte die Stadt J. sodann mit Bescheid vom 14.08.2007 die Übernahme der Kosten für die Betreuung in einer Integrationsgruppe im Kindergarten St. L. in J. (Bl. 18 f. der Verwaltungsakte). Sie führte u.a. aus, dass nach den vorliegenden Unterlagen bei I. der Bedarf einer entsprechenden Versorgung gegeben sei. Derzeit sei allerdings zwischen dem Fachbereich Soziales und dem Fachbereich Jugend die Zuständigkeit noch nicht abschließend geklärt. Bis zur abschließenden Klärung würden die Kosten entsprechend der Verpflichtung aus § 14 Abs. 2 SGB IX vom Fachbereich Jugend getragen. Ab dem 01.08.2007 bis zum 31.07.2008 besuchte das Kind den genannten vorschulischen Kindergarten. Hierbei entstanden Kosten in Höhe von insgesamt 19.177,29 EUR.

5

Mit Schreiben vom 24.09.2007 wandte sich die Klägerin sodann an den Beklagten mit der Bitte, die für die Betreuung des Kindes entstehenden Kosten zu erstatten und die Leistungen fortan selbst zu übernehmen. Zur Begründung führte sie aus, dass es sich bei der von ihr gewährten Hilfe um eine Leistung der Frühförderung handele, welche nach § 17 Abs. 2 niedersächsisches Ausführungsgesetz zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (nds. AG KJHG) Leistungen der Sozialhilfe seien (Bl. 26 der Verwaltungsakte). Mit weiterem Schreiben vom 20.12.2007 ergänzte die Klägerin ihr Vorbringen dahingehend, auch das OVG Saarlouis habe entschieden, dass jegliche Eingliederungshilfe für Kinder bis zum Schuleintritt Frühförderung sei (Beschluss vom 04.04.2007, Az.: 3 Q 73/06). Die Rechtslage im Saarland entspreche derjenigen in Niedersachsen (Bl. 46 der Verwaltungsakte).

6

Mit Schreiben vom 14.01.2008 lehnte der Beklagte die Kostenerstattung und Übernahme des Falls in seine Zuständigkeit ab (Bl. 47 f. der Verwaltungsakte). Zur Begründung führte er aus, § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG regele einen Vorrang der Sozialhilfe lediglich für ambulante Maßnahmen der Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren. Hätte der Gesetzgeber den Vorrang der Sozialhilfe für Kinder im Vorschulalter auf alle heilpädagogischen Bedarfslagen ausdehnen wollen, wäre keine Differenzierung von Frühförderung und heilpädagogischen Maßnahmen vorgenommen worden. Der Beklagte stützte sich insoweit auf eine Stellungnahme des Bundesrates zu § 10 Abs. 2 Satz 3 Art. I KJHG. Überdies sei der Begriff "Frühförderung" in § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG nicht gesetzlich definiert. Im Rahmen eines Spruchstellenverfahrens sei die Zentrale Spruchstelle der Auffassung, auch die Betreuung seelisch behinderter Kinder in Sonderkindergärten sei von § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG erfasst, nicht gefolgt. Der Entscheidung des OVG Saarlouis könne nicht gefolgt werden, weil die Rechtsprechung zur Rechtslage in anderen Bundesländern nicht automatisch auf Niedersachsen übertragbar sei. Auch aus dem SGB IX ergebe sich keine andere Bewertung, weil § 30 SGB IX einen Bedarf von medizinischen Leistungen in Form von Komplexleistungen voraussetze. Dies sei bei einer integrativen Betreuung in Regelkindergärten jedoch nicht der Fall. Es handele sich deshalb auch nicht um eine Frühförderung im Sinne des § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG, sondern um eine heilpädagogische Leistung nach § 56 SGB IX. Derartige Leistungen seien als Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII durch den Träger der Jugendhilfe zu erbringen.

7

Am 13.05.2008 hat die Klägerin Klage erhoben.

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Sie vertieft ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und führt aus, ihr Anspruch ergebe sich aus § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX und aus § 104 Abs. 1 SGB X. Zuständig für die Leistungserbringung für I. sei der Beklagte nach den §§ 53 ff. SGB XII. Dessen Zuständigkeit ergebe sich aus § 10 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII i.V.m. § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG. Dort sei geregelt, dass Maßnahmen der Frühförderung für Kinder unabhängig von der Art der Behinderung vorrangig Leistungen der Sozialhilfe und nicht der Kinder- und Jugendhilfe seien. Bei den für das Kind bewilligten Leistungen hätte es sich um Leistungen nach § 54 SGB XII i.V.m. § 56 SGB IX und damit um Maßnahmen der Frühförderung gehandelt. Maßnahmen der Frühförderung seien alle einzelfallbezogenen, rein bedarfsorientierten Maßnahmen, sie könnten als Einzel- oder Komplexleistung, ambulant, in Förderzentren, in teilstationären oder stationären Einrichtungen erbracht werden. Die vom Beklagten geäußerte Auffassung, Frühförderungsmaßnahmen seien einzig als Komplexleistungen im Sinne von 30 SGB IX zu verstehen, sei rechtlich nicht haltbar. Ihre Rechtsauffassung sieht die Klägerin durch die o.g. Entscheidung des OVG Saarlouis gestützt. Eine abschließende Definition des Begriffs der Frühförderung lasse sich weder dem SGB IX noch der Frühförderungsverordnung entnehmen. Die Entscheidung der Zentralen Spruchstelle überzeuge nicht und werde auch vom OVG Saarlouis nicht bestätigt. Selbst wenn der historische Gesetzgeber mit Leistungen der Frühförderung für Kinder einen engeren Leistungsumfang verbunden haben sollte, habe dies im Gesetz keinen entsprechenden Niederschlag gefunden. Vielmehr habe der niedersächsische Landesgesetzgeber von der ihm eröffneten Möglichkeit der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den Leistungen der Jugend- und Sozialhilfe ohne Einschränkung Gebrauch gemacht und die Zuständigkeit der Sozialhilfe zugewiesen. Auch bei der Betreuung in einer integrativen Kindergartengruppe handele es sich um eine Maßnahme der Frühförderung. Die Klägerin sieht sich durch jüngere Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Osnabrück (Urteil vom 10.12.2009, Az.: 4 A 54/09) und Göttingen (Urteile vom 26.01.2011, Az.: 2 A 229/09 und 24.02.2011, Az.: 2 A 138/10) in ihrer Rechtsauffassung bestätigt. Der Beklagte erkläre nicht, warum der Begriff der Frühförderung im Landesrecht gleichbedeutend sein soll mit der Frühförderung im Bundesrecht. Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift sei insgesamt der Bogen zu spannen über die einzelnen Bereiche der Eingliederungshilfen für behinderte Menschen, die nicht in einem Gesetz (auch nicht dem SGB IX), sondern in verschiedenen Gesetzen geregelt seien. Eine Zuständigkeit des Beklagten ergebe sich überdies auch aus § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII, wonach die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII dann dem SGB VIII vorgehen, wenn junge Menschen körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind. Das Bundesverwaltungsgericht habe insoweit entschieden, dass in Fällen von Mehrfachbehinderungen, in denen Jugendhilfeleistungen und Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII konkurrieren, die Sozialhilfe vorrangig sei. Da bei I. sowohl eine seelische als auch eine körperliche und eine drohende geistige Behinderung festgestellt worden seien, sei auch aus diesem Grund der Sozialhilfeträger zuständig. Der Besuch eines Sonderkindergartens sei in beiden Leistungskatalogen vorgesehen, weshalb der Sozialhilfe der Vorrang gebühre. Eine andere Sichtweise liefe dem gesetzgeberischen Zweck zuwider, bei Kindern aufgrund der diagnostisch schwierigen Abgrenzung der Behinderungsarten Leistungen aus einer Hand zu erbringen. Entgegen der Auffassung des Beklagten gehe die Vorschrift des § 35a Abs. 4 Satz 2 SGB VIII auch nicht ins Leere, weil es weiterhin Kinder gebe, die lediglich seelisch behindert sind.

9

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten zu verpflichten, an die Klägerin im Wege der Kostenerstattung für die Betreuung des Kindes M., geboren am 06.04.2002, in der Zeit vom 01.08.2007 bis 31.07.2008 19.177,29 EUR sowie Zinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf einen Betrag in Höhe von 8.611,38 EUR sowie ab dem 19.12.2011 auf weitere 10.565,91 EUR zu zahlen.

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Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

11

Er vertieft seinen Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren und meint, dem Kind M. stehe kein Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach den §§ 53 ff. SGB XII zu. Nach den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen sei die teilstationäre Betreuung ausschließlich wegen einer seelisch wesentlichen Behinderung für erforderlich gehalten worden. Den Berichten seien lediglich unklare allgemeine Lern- und Leistungsmöglichkeiten, keineswegs jedoch eine drohende geistige Behinderung zu entnehmen, weil infolge der sozialen Ängstlichkeit und der psychisch bedingten Kommunikationsstörung der Entwicklungsstand des Kindes nicht habe untersucht werden können. Die Betreuung des Kindes in einer integrativen Gruppe eines Kindergartens sei mithin allein wegen der ausgeprägten sozialen Ängstlichkeit in Verbindung mit den Sprachproblemen sowohl des Kindes als auch der Mutter erfolgt. Da eine drohende geistige Behinderung des Kindes nicht nachgewiesen werden konnte, liege auch keine Leistungskonkurrenz zwischen den Leistungen der Jugend- und der Sozialhilfe vor, weshalb die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht einschlägig sei. Die Klägerin sei hier nach § 35a SGB VIII zuständig, was sich auch aus § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII ergebe. Anderes ergebe sich auch nicht aus § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG. Diese Vorschrift beziehe sich lediglich auf ambulante Maßnahmen der Frühförderstellen oder der Sozialpädiatrischen Zentren. Die Begriffe der Früherkennung und Frühförderung seien u.a. in § 30 SGB IX näher definiert. Die dort genannten Leistungen würden als Komplexleistung erbracht. Für bloße heilpädagogische Maßnahmen nach § 56 SGB IX seien indes die Träger der Jugendhilfe zuständig. Auch aus der Frühförderungsverordnung lasse sich nichts anderes entnehmen. Unter Frühförderung sei danach die ambulante und auch mobile Hilfe zu verstehen, die in den in der Verordnung genannten Stellen oder auch im häuslichen Bereich stattfindet. Integrative Tagesstätten und Leistungen in teilstationärer Form seien dort hingegen nicht genannt. Diese Rechtsauffassung sei auch von der Zentralen Spruchstelle im Jahr 1998 vertreten worden. Auch nach der niedersächsischen Landesrahmenempfehlung zur Umsetzung der Frühförderungsverordnung sei eine Frühförderung ausgeschlossen, wenn eine teilstationäre Förderung im Rahmen der Eingliederungshilfe in Sonderkindergärten erfolge. Diese gelten danach nicht als interdisziplinäre Frühförderstellen. Auch der Gemeinsame Ausschuss nach § 5 nds. AG SGB XII habe am 18.11.2010 erklärt, dass unter dem Begriff der Frühförderung lediglich die ambulante Frühförderung zu verstehen sei, nicht jedoch teilstationäre Maßnahmen wie der Besuch eines Sonderkindergartens. Hierfür sei danach bei seelisch behinderten Kindern nach § 35a SGB VIII der Träger der Jugendhilfe zuständig. Ergänzend verweist er auf § 35a Abs. 4 Satz 2 SGB VIII, der bei heilpädagogischen Leistungen für seelisch behinderte Kinder auf die Möglichkeit der integrativen Betreuung nichtbehinderter Kinder mit behinderten Kindern hinweise. Träfe die Auffassung der Klägerin zu, so würde die Regelung des § 35a SGB VIII ins Leere laufen und überflüssig sein.

12

Das Gericht hat mit Verfügung vom 18.01.2012 den Beteiligten den stenographischen Bericht der 99. Sitzung des Niedersächsischen Landtags vom 19.01.1994 übersandt und dort auf die Ausführungen des Herrn von Hofe (S. 9348) hingewiesen (Bl. 98 ff. der Gerichtsakte). Die Beteiligten haben von der Gelegenheit Gebrauch gemacht, hierzu Stellung zu nehmen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte der Klägerin (1 Band) Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

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A.

Die Klage ist als echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig. Die Beteiligten stehen sich hier im Gleichordnungsverhältnis gegenüber, weshalb keine einseitige hoheitliche Festsetzung durch Verwaltungsakt möglich war (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Aufl., § 54 Rn. 41 und Anhang zu § 54 Rn. 16 m.w.N.). Eines Vorverfahrens bedurfte es ebenso wenig wie der Beachtung einer Klagefrist. Die sachliche Zuständigkeit des Sozialgerichts ergibt sich aus § 51 Abs. 1 Nr. 10 SGG i.V.m. § 114 SGB X, wonach für den Erstattungsanspruch derselbe Rechtsweg wie für den Anspruch auf die Sozialleistung gegen den erstattungspflichtigen Leistungsträger eröffnet ist. § 114 SGB X erfasst dabei auch Erstattungsansprüche nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX (Roller in: von Wulffen, Kommentar zum SGB X, 7. Aufl., § 114 Rn. 4 m.w.N.). Die Klägerin richtet ihren Anspruch gegen den überörtlichen Sozialhilfeträger. Für Ansprüche dieser Art sind nach § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG die Sozialgerichte sachlich zuständig. Das erkennende Gericht ist nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 des nds. AG SGG auch örtlich zuständig. Örtlich zuständig ist das Sozialgericht, in dessen Bezirk der Kläger seinen Sitz hat. Die Ausnahmevorschrift des § 57 Abs. 1 S. 2 SGG, wonach auf den Sitz des Beklagten abzustellen ist, gilt nur dann, wenn dieser eine natürliche Person oder eine juristische Person des Privatrechts ist. Sind - wie hier - Kläger und Beklagter juristische Personen des öffentlichen Rechts, bleibt es nach § 57 Abs. 1 S. 2 SGG bei der Zuständigkeit nach § 57 Abs. 1 S. 1 SGG (so auch Keller a.a.O., § 57 Rn. 9).

15

B.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin kann dabei ihren Anspruch auf Kostenerstattung nicht auf § 104 SGB X, sondern ausschließlich auf § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX stützen. § 14 Abs. 4 SGB IX regelt den Erstattungsanspruch des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers, der aufgrund der Weiterleitung zuständig wurde ("aufgedrängte Zuständigkeit"). Herr G. hatte seinen ursprünglichen Leistungsantrag nach den §§ 53 ff. SGB XII beim Fachamt Soziales der Stadt J. eingereicht. Diese wird nach § 8 Abs. 2 Satz 1 nds. AG SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 2 der DVO nds. AG SGB XII zur Durchführung der Aufgaben des überörtlichen Sozialhilfeträgers herangezogen. Diesen Antrag leitete das Fachamt Soziales sodann mit Schreiben vom 03.07.2007 nach § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX an den Fachbereich Jugend weiter, weshalb die Klägerin in ihrer Eigenschaft als Trägerin der Jugendhilfe zunächst unabhängig von ihrer Zuständigkeit verpflichtet war, Leistungen zu erbringen. Mit der Weiterleitung wurde die Zuständigkeit (zunächst) gesetzlich bestimmt (Luik in: jurisPK-SGB IX, Stand: 01.02.2010, § 14 SGB IX, Rn. 71). Dieser spezielle Anspruch geht den allgemeinen Erstattungsansprüchen nach dem SGB X vor (BSG, Urteil vom 08.09.2009, Az.: B 1 KR 9/09 R; Luik a.a.O., § 14 SGB IX, Rn. 99).

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Die Anspruchsvoraussetzungen des § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX sind vorliegend erfüllt. Die Vorschrift regelt, dass bei nachträglicher Feststellung der Unzuständigkeit eines Rehabilitationsträgers, der aufgrund der Regelung in § 14 Abs. 1 Sätze 2 - 4 SGB IX geleistet hat, zwischen den Rehabilitationsträgern Kosten nach § 14 Abs. 4 SGB IX erstattet werden. Der Anspruch ist dann begründet, soweit der Leistungsberechtigte von dem Träger die gewährte Maßnahme hätte beanspruchen können, der ohne die Regelung in § 14 SGB IX zuständig wäre. Der Anspruch der Klägerin auf Kostenerstattung im hiesigen Verfahren besteht, denn das Kind I. war nach den §§ 53 ff. SGB XII leistungsberechtigt, weil bei teilstationären und stationären Leistungen nach § 6 Abs. 1, 2 Nr. 1 a) nds. AG SGB XII der Beklagte als überörtlicher Träger der Sozialhilfe zuständig ist.

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Die Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich dabei sowohl aus § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII (hierzu 1.) als auch aus § 10 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII i.V.m. § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG (hierzu 2.).

18

1.

Nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII gehen die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem SGB VIII vor. Voraussetzung für das Rangverhältnis zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ist dabei, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe gegeben und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (st. Rspr. vgl. BVerwG, Urteil vom 23.09.1999, Az.: 5 C 26.98 und zuletzt Urteil vom 19.10.2011, Az.: 5 C 6/11, [...] Rn. 16).

19

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Das Kind besuchte hier die integrative Gruppe eines Kindergartens in N ... Derartige Leistungen können sowohl als Leistungen der Jugendhilfe nach § 35a Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII (Hilfe nach dem Bedarf im Einzelfall in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen) als auch als Leistung der Eingliederungshilfe nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. 55 Abs. 2 Nr. 2, 56 SGB IX (heilpädagogische Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind, wozu auch die Kostenübernahme für einen heilpädagogischen Kindergarten gehören kann, vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.02.2010, Az.: L 8 SO 359/09 B ER) erbracht werden. Eine Leistungskongruenz ist daher dem Grunde nach gegeben.

20

Der Beklagte hat in diesem Zusammenhang eingewendet, eine Leistungskonkurrenz bestünde nicht, weil das Kind ausschließlich wegen einer seelisch wesentlichen Behinderung - der ausgeprägten sozialen Ängstlichkeit in Verbindung mit den Sprachproblemen sowohl des Kindes als auch der Mutter - in die teilstationäre Betreuung der integrativen Gruppe eines Kindergartens aufgenommen wurde. Außerdem hat er die Auffassung vertreten, ein Nachweis einer drohenden geistigen Behinderung des Kindes sei nicht erbracht. Zuständig sei deshalb über § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII die Klägerin nach § 35a SGB VIII.

21

Diese Einwendungen hält die Kammer für unzutreffend. Ausweislich der sozialmedizinischen Stellungnahme des Herrn Dr. Kraus vom 21.06.2007 (Bl. 7 ff. der Verwaltungsakte), welcher seine diagnostische Beurteilung nach der internationalen Klassifikation ICD 10 vornahm, besteht bzw. bestand bei dem Kind eine Blindheit des rechten Auges (H 54.4 rechts), eine Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache (F 80.1), eine generelle Entwicklungsstörung (F 89) und eine Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindes (F 93.2). Hinsichtlich der Art der bestehenden Behinderungen stellte Herr Dr. Kraus eine körperlich wesentliche Behinderung im Sinne des § 1 der Verordnung (VO) zu § 60 SGB XII durch Beeinträchtigung des Sehvermögens und der sprachlichen Verständigung, eine drohende geistige wesentliche Behinderung aufgrund des Zurückbleibens der geistigen Entwicklung, § 2 VO zu § 60 SGB XII und eine seelisch wesentliche Behinderung durch die diagnostizierte Entwicklungs- und Verhaltensstörung fest (§ 3 VO zu § 60 SGB XII). Er empfahl hierauf eine teilstationäre Hilfe in Form des Besuchs eines Sonderkindergartens, weil eine ambulante Hilfe nicht ausreichend sei. Die Kammer hat keinerlei Anlass, an den genannten Feststellungen und Diagnosen zu zweifeln. Sie sind aufgrund einer eigenen Untersuchung des Kindes nach den gängigen wissenschaftlichen Methoden erhoben worden und in sich schlüssig und widerspruchsfrei. Sie entsprechen im Übrigen in ihren medizinischen Feststellungen auch denen des Universitätsklinikums Göttingen vom 22.09.2006, 04.04.2007 und 23.05.2007. Soweit der Beklagte demgegenüber sinngemäß ausführt, dass im Fall, dass - wie hier - eine seelische Behinderung auch bei weiteren bestehenden Behinderungen ausschlaggebend für die Leistungserbringung ist, der Träger der Jugendhilfe zuständig sei und § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII so zu verstehen sei, dass der Vorrang der Sozialhilfe nur für den Fall gelte, dass Leistungen nur aufgrund der (drohenden) körperlichen oder geistigen Behinderung erbracht werden, folgt die Kammer dem nicht. Es entspricht der verwaltungs- und auch sozialgerichtlichen Rechtsprechung, dass im Fall bestehender Mehrfachbehinderungen nicht auf den Schwerpunkt der Behinderungen, sondern auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen abzustellen ist (so etwa BVerwG, Urteil vom 23.09.1999, Az.: 5 C 26/98; LSG NRW, Urteil vom 14.02.2011, Az.: L 20 SO 110/08). Konkurrieren Jugendhilfeleistungen mit Maßnahmen der Eingliederungshilfe, so ist nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII die Sozialhilfe vorrangig, konkurrieren Jugendhilfeleistungen mit anderen Sozialhilfeleistungen, so ist die Jugendhilfe vorrangig. Zuletzt entschied auch das OVG Nordrhein-Westfalen, dass die Leistungen nach den §§ 53 ff. SGB XII auch dann vorrangig sind, wenn die Leistungen zumindest auch auf den Hilfebedarf wegen geistiger und/oder körperlicher Behinderung eingehen. (Urteil vom 01.04.2011, Az.: 12 A 153/10, [...] Rn. 66). So liegt der Fall nach den Feststellungen des Herrn Dr. Kraus auch hier. In einer jüngeren Entscheidung entschied in diesem Sinne auch das LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 31.01.2011, Az.: L 8 SO 366/10 B ER) und führte in einem Fall, bei welchem neben eine Sprachentwicklungsstörung eine Störung des Sozialverhaltens trat, aus:

"Bei sog. Mehrfachbehinderungen beurteilt sich der Hilfebedarf eines behinderten Schülers grundsätzlich nach den Vorschriften des SGB XII und nicht nach § 35a SGB VIII."

22

Die Rechtsauffassung des Beklagten, darauf abzustellen, welche Behinderung letztlich ausschlaggebend für die Leistungsbewilligung war, steht mit dieser Rechtsprechung nicht in Übereinklang und kann nicht überzeugen. Hier war auf die Gesamtumstände der bestehenden Behinderungen und den Gesamtcharakter der erbrachten Leistungen abzustellen, weshalb nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII der Beklagte für die Leistungserbringung zuständig war.

23

2. Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen ergibt sich eine Zuständigkeit des Beklagten auch aus § 10 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII i.V.m. § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG.

24

Nach § 10 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII kann das Landesrecht regeln, dass Leistungen der Frühförderung für Kinder unabhängig von der Art der Behinderung vorrangig von anderen Leistungsträgern gewährt werden. Von dieser Möglichkeit hat der niedersächsische Gesetzgeber mit der Regelung des § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG Gebrauch gemacht. Danach sind Maßnahmen der Frühförderung für Kinder unabhängig von der Art der Behinderung vorrangig Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz und nicht nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz.

25

Der Beklagte geht dabei rechtsirrig davon aus, dass sich diese Vorschrift lediglich auf ambulante Maßnahmen der Frühförderung beziehe und zieht zahlreiche Quellen heran, um die Richtigkeit seiner Auslegung des § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG zu belegen. Nach Auffassung der Kammer müssen, um den Willen des niedersächsischen Gesetzgebers und damit den Inhalt des § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG (und insbesondere den unbestimmten Rechtsbegriff der "Frühförderung") feststellen zu können, auch hier die klassischen Auslegungsmethoden herangezogen werden. Unter Anwendung dieses Methodenkanons ist die Rechtsauffassung des Beklagten nicht haltbar. Vielmehr ist der Begriff der Frühförderung in § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG weit zu verstehen und erfasst die Förderung durch heilpädagogische Maßnahmen jeglicher Art von Kindern in den ersten Lebensjahren, ob als Einzel- oder Komplexleistung erbracht, ob ambulant, stationär, teilstationär oder in Förderzentren.

26

a)

Bereits der Wortlaut der vorgenannten Vorschrift lässt keine Differenzierung im Sinne des Beklagten zu. Auch in einer historischen Auslegung kann der Vorschrift kein Regelungsinhalt, wie ihn der Beklagte verstehen will, entnommen werden. Er hat sich hierzu auf eine Stellungnahme des Bundesrates zu § 10 Abs. 2 Satz 3 Art. I KJHG a.F. vom 21.04.1992 (Anlage 2 der BT-Drucks. 12/2866, S. 30) bezogen. Dieser Stellungnahme soll zu entnehmen sein, dass sich der Vorrang der Leistungen der Sozialhilfe lediglich auf ambulante Maßnahmen der Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren bezieht. Die Stellungnahme lautet:

"Die der Frühförderungsarbeit zugrundeliegenden Konzeptionen nehmen aus wissenschaftlichen und therapeutischen Gründen keine Zuordnung einer bestimmten Behinderungsart vor. Denn insbesondere in den ersten Lebensjahren ist es nicht eindeutig festzustellen, ob ein Entwicklungsrückstand durch eine geistige, seelische oder körperliche Behinderung bedingt ist oder ein Erziehungsdefizit vorliegt. Meist liegt ein Faktorenbündel aus Ursachen, Wirkungen und Gründen vor, das sich nur künstlich auflösen ließe. Da sich verschiedentlich regionale Verbünde von interdisziplinär arbeitenden Frühförderstellen entwickelt haben und die erfolgreiche Arbeit dieser Stellen nicht gefährdet werden soll, ist es erforderlich, einen Landesrechtsvorbehalt im Bundesrecht mit aufzunehmen."

27

Für die Kammer ist nicht nachvollziehbar, inwieweit diese Stellungnahme den vom Beklagten angenommenen Inhalt haben soll. Darüber hinaus hält die Kammer ohnehin eine Stellungnahme des Bundesrates aus dem Jahr 1992 für ungeeignet, um hieraus Rückschlüsse auf den Willen des niedersächsischen Gesetzgebers im Jahr 1994 zu ziehen. Die Kammer hat zu diesem Verfahren den stenographischen Bericht der 99. Sitzung des Niedersächsischen Landtags vom 19.01.1994 hinzugezogen (Drs. 12/5680, S. 9347 ff.). In der damaligen Beratung des Ausführungsgesetzes KJHG führte Herr von Hofe aus:

"Der Vorschlag zu der neuen Nr. 3/1 rechtfertigt sich aus der Überlegung, dass bei Kindern in den ersten Lebensjahren nicht eindeutig festzustellen ist, ob ein Entwicklungsrückstand durch eine geistige, seelische oder körperliche Behinderung bedingt ist. Die Beschlussempfehlung macht deshalb von einem Landesrechtsvorbehalt im Bundesrecht Gebrauch und schlägt vor, dass Maßnahmen der Frühförderung unabhängig von der Art der Behinderung nach den Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes gewährt werden."

28

Eine Einschränkung auf ambulante Leistungen, wie sie der Beklagte in § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG liest, ist dieser Stellungnahme nicht zu entnehmen. Nach Verständnis der Kammer war es vielmehr Wille des niedersächsischen Gesetzgebers, eine Regelung zu treffen, wie sie bereits in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII getroffen wurde, nämlich generell - ohne weitere Einschränkungen - die Leistungserbringung der Frühförderung der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe zuzuweisen. In dieser Auffassung sieht sich die Kammer auch durch mehrere jüngere Entscheidungen niedersächsischer Verwaltungsgericht bestätigt. So stellte das VG Osnabrück in seinem Urteil vom 10.12.2009 (Az.: 4 A 54/09) zunächst die niedersächsische Rechtslage dar und führte sodann aus:

"Die Betreuung und Unterbringung des Hilfeempfängers gehört aber nach Auffassung des Gerichts zur Frühförderung im Sinne der genannten Bestimmungen, so dass sich die entsprechenden Leistungen nicht als Jugendhilfe- sondern als Sozialhilfeleistungen darstellen."

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Entsprechend erklärte auch das VG OIdenburg (Urteil vom 17.05.2010, Az.: 13 A 1012/08):

"Die Betreuung und Unterbringung eines Hilfesuchenden in einem teilstationären integrativen Kindergarten gehört daher nach Auffassung der Kammer zur Frühförderung im Sinne des § 10 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII, § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG, so dass sich die entsprechenden Leistungen nicht als Jugendhilfe-, sondern als Sozialhilfeleistungen darstellen."

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Auch das VG Göttingen (Urteil vom 26.01.2011, Az.: 2 A 229/09) stufte die gewährte Betreuung in einer integrativen Kindertagesstätte als Maßnahme der Frühförderung im Sinne der §§ 10 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII, 17 Abs. 2 nds. AG KJHG ein und führte aus:

"Dabei beruht § 17 Abs.2 nds. AG KJHG auf der Erkenntnis, dass gerade bei Kindern in den ersten Lebensjahren die Zuordnung einer festgestellten Erkrankung zu einer bestimmten Behinderungsart (seelisch, geistig, körperlich) in der Praxis oft nicht möglich ist, sodass die Zuständigkeit der Jugendhilfe- und Sozialhilfeträger nur schwer voneinander abgrenzbar ist. Um langwierige Ermittlungen zur Ursache von möglichst frühzeitig zu bekämpfenden Entwicklungsrückständen von Kindern im Vorschulalter zu vermeiden, enthält § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG für diese Kinder in den ersten Lebensjahren eine einheitliche, von der Art der Behinderung unabhängige, umfassende Zuständigkeit der Sozialhilfeträger. Nach Auffassung der Kammer ist es für die Einordnung einer Hilfeleistung als Maßnahme der Frühförderung unerheblich, ob diese als Einzel- oder Komplexleistung, ambulant, in Förderzentren, in teilstationären oder stationären Einrichtungen erbracht werden."

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Alle genannten Gerichte beziehen sich überdies auch auf den zwischen den Beteiligten diskutierten Beschluss des OVG Saarland (Beschluss vom 04.04.2007, Az.: 3 Q 73/06). Das OVG erkannte ebenfalls im Bezug auf die wortgleiche Regelung des saarländischen Landesrechts eine umfassende Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers für die Frühförderung.

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b)

Auch im Rahmen einer systematischen Auslegung kann die Kammer der Rechtsauffassung des Beklagten nicht folgen. Er führte hierzu an, dass die Begriffe der Früherkennung und Frühförderung u.a. in § 30 SGB IX näher definiert seien. Die dort genannten Leistungen würden jedoch als Komplexleistung erbracht. Für bloße heilpädagogische Maßnahmen nach § 56 SGB IX seien die Träger der Jugendhilfe zuständig. Einer Inbezugnahme auf das SGB IX steht nach Auffassung der Kammer bereits entgegen, dass dieses (Bundes-) Gesetz generell kein taugliches Mittel ist, § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG auszulegen und den Willen des niedersächsischen Gesetzgebers zu ermitteln. Ohnehin wird aus der Vorschrift des § 7 SGB IX deutlich, dass sich die Zuständigkeiten zur Leistungserbringung nach den jeweiligen Leistungsgesetzen richten (hier also dem SGB VIII). Dem SGB IX können daher keine (neuen) Regelungen über Zuständigkeiten entnommen werden. Nach der bereits zitierten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung dürfte es ohnehin keinen einheitlichen, abschließenden Begriff der "Frühförderung" geben. Auch aus diesem Grund sind Definitionen aus dem SGB IX nicht unmittelbar auf das SGB VIII oder das SGB XII übertragbar. Aus § 7 Abs. 2 der Frühförderungsverordnung (FrühV) wird zudem deutlich, dass das SGB IX keine abschließende Regelung aller in Betracht kommenden Frühfördermaßnahmen enthält (so auch: OVG Saarland, a.a.O.). Aus den vorgenannten Gründen kann auch der Verweis des Beklagten auf die FrühV zu keiner anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage führen. Eine Verordnung nach Bundesrecht zum SGB IX kann ein landesrechtliches Ausführungsgesetz zum SGB VIII nicht abändern und auch nicht als Auslegungshilfe herangezogen werden. Soweit die Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 12.03.2012 in diesem Zusammenhang auf Art. 31 GG hinwies ("Bundesrecht bricht Landesrecht") steht dies der Auffassung der Kammer nicht hingegen. Vielmehr hat der niedersächsische Gesetzgeber von der ihm eingeräumten Möglichkeit des § 10 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII innerhalb des dort gesetzten Rahmens Gebrauch gemacht. § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG steht dem Bundesrecht nicht entgegen, sondern gestaltet es für Niedersachsen näher aus.

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Soweit der Beklagte schließlich mehrere Verwaltungsanweisungen in das Verfahren eingeführt hat (die niedersächsische Landesrahmenempfehlung zur Umsetzung der Frühförderungsverordnung vom 24.06.2003, eine Stellungnahme des Gemeinsamen Ausschusses nach § 5 nds. AG SGB XII vom 18.11.2010, und eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 24.06.2009), können diese innerhalb einer systematischen Auslegung eines Gesetzes keine Berücksichtigung finden, weil der Inhalt der gesetzlichen Vorschrift zu ermitteln ist, nicht hingegen die Anwendungspraxis der Verwaltung. Ohnehin ergäbe sich aus diesen Anweisungen keine Bindung des Gerichts.

34

c)

Schließlich muss auch die Frage nach dem Sinn und Zweck des § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG (sog. teleologische Auslegung) mit einem weiten Verständnis der Vorschrift im Sinne einer umfassenden Zuständigkeit des Beklagten beantwortet werden. Gerade weil bei Kindern in den ersten Lebensjahren bei erkannten Defiziten deren Zuordnung zu einer bestimmten Behinderungsart (seelisch, geistig, körperlich) in der Praxis oft nicht möglich ist und deshalb die Zuständigkeit von Jugendhilfe- und Sozialhilfeträger nur schwer voneinander abgrenzbar wäre, soll § 17 Abs. 2 nds. AG KJHG hier eine "Betreuung aus einer Hand" und damit auch eine einheitliche Zuständigkeit gewährleisten. Diese Auffassung entspricht auch den bereits zitierten Ausführungen des Herrn von Hofe und des VG Göttingen (a.a.O.).

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Nach alledem hatte die Klage im tenorierten Umfang Erfolg.

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C.

Im Übrigen war die Klage abzuweisen. Die Klägerin kann mangels Rechtsgrundlage keinen Zinsanspruch geltend machen. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 02.02.2010, Az.: B 8 SO 22/08 R) scheidet § 108 Abs. 2 SGB X als Anspruchsgrundlage für die Geltendmachung von Zinsen im Verhältnis gleichgeordneter Träger aus, weil Zinsschuldner danach nur "andere Leistungsträger" als die in § 108 SGB X genannten Leistungsträger sein können (so auch Roller in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 108 Rn. 7). § 44 Abs. 1 SGB I sieht nur eine Verzinsung von Sozialleistungen vor und kann auf das Verhältnis der Sozialleistungsträger untereinander nicht entsprechend angewendet werden. Auch eine analoge Anwendung der Vorschriften des BGB ist nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 13.07.2010, Az.: B 8 SO 10/10 R) nicht möglich. Das BSG führte aus:

"Außerhalb vertraglicher Beziehungen verbleibt es demgegenüber bei der ständigen Rechtsprechung des BSG, wonach die Regelungen des BGB über Prozesszinsen auf öffentlich-rechtliche Forderungen aus dem Bereich des Sozialrechts nicht entsprechend anwendbar sind."

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG und berücksichtigt das vollständige Unterliegen des Beklagten in der Hauptsache. Nach § 197a Abs. 1 SGG werden Kosten nach dem Gerichtskostengesetz erhoben, wenn weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 SGG genannten, Gerichtskostenfreiheit genießenden Personen gehören. So verhält es sich hier, weshalb die §§ 154 bis 162 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anzuwenden sind. Die Kostentragung des Beklagten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.

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Die Festsetzung des Streitwerts erfolgt nach Maßgabe der §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 52 Abs. 3 GKG. Da der Antrag der Klägerin eine bezifferte Geldforderung betrifft, ist deren Höhe - hier also 19.177,29 EUR - für die Bestimmung des Streitwerts maßgeblich.

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Die Berufung ist nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG zulässig.