Sozialgericht Hildesheim
Beschl. v. 11.05.2012, Az.: S 42 AY 43/12 ER

Anordnungsanspruch; effektiver Rechtsschutz; Einkommen; Folgenabwägung; Gegenwärtigkeitsprinzip; höchstrichterlich ungeklärte Rechtsfrage; Sicherung des Existenzminimum; volljähriges Kind; wertmäßiger Zuwachs

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
11.05.2012
Aktenzeichen
S 42 AY 43/12 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 44306
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. In Fällen einer zwischen den Beteiligten streitigen, entscheidungserheblichen, in Rechtsprechung und Literatur kontrovers diskutierten und bislang höchstrichterlich nicht entschiedenen Rechtsfrage, zu der eine Revision beim Bundessozialgericht anhängig ist, ist über den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes regelmäßig durch eine die widerstreitenden Interessen umfassend berücksichtigende Folgenabwägung zu entscheiden. Geht es dabei um die vorläufige Sicherung des Existenzminimums eines Asylbewerberleistungsberechtigten bis zur Entscheidung in der Hauptsache, rechtfertigt dies regelmäßig die Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von uneingeschränkten Grundleistungen.

2. Nur der wertmäßige Zuwachs einer Einnahme in Geld oder Geldeswert stellt Einkommen i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG dar; eine von einem Dritten lediglich vorübergehend zur Verfügung gestellte (hier: als Empfangsbevollmächtigte entgegen genommene) Leistung kann daher nicht als Einkommen qualifiziert werden.

Tenor:

Der Antragsgegner wird einstweilen verpflichtet, den Antragstellern vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zur Bestandskraft einer förmlichen Entscheidung über den Antrag der Antragsteller vom 3. Februar 2012 ab dem 15. März 2012 Grundleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) einschließlich der Leistungen bei Krankheit nach § 4 AsylbLG in gesetzlicher Höhe unter Berücksichtigung der auf die Antragsteller kopfteilig entfallenden Kosten der Unterkunft in M. sowie ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen des volljährigen Sohnes bzw. Bruders N. zu gewähren.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Den Antragstellern wird ab Antragstellung ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt O. in Hildesheim bewilligt.

Gründe

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung des Inhalts, den mit geänderter Wohnsitzauflage für die Stadt P. geduldeten Antragstellern - türkische Staatsangehörige, deren Asyl(folge-)verfahren ohne Erfolg blieben - Grundleistungen nach § 3 AsylbLG unter Übernahme der auf sie kopfteilig entfallenden Kosten ihrer in P. angemieteten Wohnung ohne Anrechnung des von ihrem volljährigen, bei den Antragstellern lebenden und mit ihnen gemeinsam wirtschaftenden Sohn bzw. Bruder N. aus der Beschäftigung bei der Q. monatlich erzielten Erwerbseinkommens, das auf ein Konto der Antragstellerin zu 1.) bei der Sparkasse R. überwiesen wird, sowie dessen Vermögen (im Wesentlichen ein PKW, amtl. Kennzeichen S.) zu gewähren, ist begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig ist. Steht einem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist es ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens (hier: des auf mündlichen Antrag der Antragsteller vom 03.02.2012 eingeleiteten Verwaltungsverfahrens) abzuwarten, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet. Eine aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Verfahren ist in der Regel nur dann zulässig, wenn dem Antragsteller ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung unzumutbare Nachteile drohen und für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.09.2004 - L 7 AL 103/04 ER -). Sowohl die hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs (Anordnungsanspruch) als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile (Anordnungsgrund) müssen glaubhaft gemacht werden, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO). Aus Gründen der verfassungsrechtlich verbürgten Garantie der Gewährung effektiven Rechtsschutzes durch die Gerichte ist aber auch in Vornahmesachen, bei denen sich die Sach- und Rechtslage in der Hauptsache kompliziert gestaltet bzw. nicht vollständig aufgeklärt werden kann und deshalb der materielle Leistungsanspruch jedenfalls bei summarischer Prüfung nicht sehr wahrscheinlich erkennbar ist, der Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten, wenn ohne dieselbe für den Betroffenen schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977 - 2 BvR 42/76 -, BVerfGE 46 [166, 179, 184]). In diesen Fällen ist eine die widerstreitenden Interessen umfassend berücksichtigende Folgenabwägung vorzunehmen, welche die verfassungsrechtlich geschützten Belange des Betroffenen hinreichend zur Geltung bringt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 –, NJW 2003, S. 1236 f., zit. nach juris Rn. 7 und 9; Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 –, NVwZ 2005, S. 927 ff., zit. nach juris Rn. 26 m.w.N.). Die Gerichte haben sich dabei schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen zu stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern. Diese besonderen Anforderungen an Eilverfahren schließen andererseits nicht aus, dass die Gerichte den Grundsatz der unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache vermeiden, indem sie zum Beispiel Leistungen nur mit einem Abschlag zusprechen (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, a.a.O., Rn. 26 m.w.N.). Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz dienen ebenso wie Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II (hierzu ist der Beschluss des BVerfG vom 12.05.2005, a.a.O., ergangen) der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt. Diese Pflicht besteht unabhängig von den Gründen der Hilfebedürftigkeit (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, a.a.O., Rn. 28, vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.03.2007 – L 20 AY 68/06 AY ER, zit. nach juris Rn. 48). Dies rechtfertigt es regelmäßig, dem Asylbewerberleistungsberechtigten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zumindest Grundleistungen gem. § 3 AsylbLG vorläufig und unter Rückforderungsvorbehalt zuzusprechen, wenn – wie hier – eine in der Hauptsache entscheidungserhebliche Frage derzeit nicht abschließend beantwortet werden kann und deshalb der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache offen ist. Würde die Kammer den Antragstellern dagegen die begehrten Grundleistungen nicht vorläufig zusprechen, wäre während des in der Hauptsache anhängigen Verwaltungsverfahrens ihr Existenzminimum nicht gedeckt. Diese möglicherweise längere Zeit dauernde, erhebliche Beeinträchtigung kann nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden. Der elementare Lebensbedarf eines Menschen kann grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht. Dieses "Gegenwärtigkeitsprinzip" ist als Teil des Bedarfsdeckungsgrundsatzes für die Sozialhilfe allgemein anerkannt (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, a.a.O., Rn. 19 m.w.N.). Die Gefahr, dass die Existenz der Antragsteller zeitweise nicht gesichert wäre, lässt deshalb das gegenläufige Interesse des Antragsgegners, nicht der Gefahr ausgesetzt zu werden, die aufgrund gerichtlichen Eilrechtsschutzes den Antragstellern vorläufig gewährten Sozialleistungen von diesen nicht wieder beitreiben zu können, wenn sich der von ihnen geltend gemachte Leistungsanspruch in der Hauptsache nicht bestätigt, im Ergebnis der hier vorzunehmenden Folgenabwägung zurücktreten.

Die zwischen den Beteiligten streitige Rechtsfrage, ob unter den Begriff des Familienangehörigen i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG auch volljährige Kinder des Leistungsberechtigten fallen, mit der Folge, dass hier ggf. das vom volljährigen Sohn bzw. Bruder der Antragsteller N. aus seiner Beschäftigung bei der Q. monatlich erzielte Erwerbseinkommen und dessen Vermögen (im Wesentlichen ein PKW) auf den Hilfebedarf der mit ihm in Haushaltsgemeinschaft lebenden und mit ihm gemeinsam „aus einem Topf“ wirtschaftenden Antragsteller angerechnet werden darf, ist bislang höchstrichterlich nicht geklärt – hierzu ist derzeit unter dem Aktenzeichen B 7 AY 6/11 R beim Bundessozialgericht ein Revisionsverfahren anhängig – und wird derzeit in der Rechtsprechung und Literatur noch unterschiedlich beantwortet (zum Meinungsstand vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 26.09.2011 – L 20 AY 43/08 –, ZFSH/SGB 2011, S. 711 ff., zit. nach juris Rn. 59 ff.). Da das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes seiner Natur nach lediglich dazu dient, etwaige Härten für die Zeit bis zur Entscheidung des Hauptsacheverfahrens zu vermeiden, und nicht dazu, die Hauptsache vorwegzunehmen oder diese grundsätzliche Rechtsfrage vorab zu beantworten (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 25.06.2010 - L 11 AY 29/10 B ER -), hat die Kammer unter Berücksichtigung der vorstehenden Grundsätze eine Folgenabwägung vorgenommen, die im Ergebnis zugunsten der Antragsteller ausgeht.

Auf die Beantwortung der im e.g. Revisionsverfahren B 7 AY 6/11 R streitgegenständlichen Rechtsfrage kommt es im vorliegenden Fall der Antragsteller auch allein und entscheidungserheblich an. Eine hiervon unabhängige Bewertung des Sachverhaltes rechtfertigt sich, anders als der Antragsgegner meint, nicht aus dem Umstand heraus, dass der Arbeitgeber des Sohnes bzw. Bruders der Antragsteller N. dessen monatlichen Verdienst auf ein Konto seiner Mutter, der Antragstellerin zu 1.), direkt überweist und die Antragstellerin zu 1.) hierüber zunächst verfügt, indem sie den Verdienst in mehreren Teilbeträgen von ihrem Konto abhebt und sodann an ihren Sohn weiterleitet. Aus der vom Antragsgegner in Bezug genommenen Entscheidung des BSG vom 16.10.2007 (B 8/9b SO 8/06 R -, BSGE 99, S. 137 ff., zit. nach juris Rn. 22 m.w.N.), wonach das Kindergeld sozialhilferechtlich „grundsätzlich eine Einnahme [der Person] ist, an den es (als Leistungs- oder Abzweigungsberechtigten) ausgezahlt wird“, folgt nichts anderes, denn das BSG setzt auch in diesem Urteil die Verfügungsberechtigung über den Geldzufluss voraus. Der Verdienst des Sohnes N. wird von dessen Arbeitgeber der Antragstellerin zu 1.) indes nicht als Bezugsberechtigte auf ihr Konto angewiesen (anders im Falle einer Gehaltsabtretung), sondern vielmehr nur als Empfangsbevollmächtigte ihres Sohnes, der bisher über kein eigenes Konto verfügt. Die Gründe hierfür haben die Antragsteller nachvollziehbar dargelegt: als Duldungsinhaber wurde es dem Sohn der Antragstellerin zu 1.) bislang verwehrt, ein eigenes Konto auf seinen Namen bei einem Geldinstitut im Inland zu eröffnen, sodass er gezwungen war, den Zahlweg über seine Mutter einzurichten.

Der Terminus „Einkommen“ in § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG hat zum selben in § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und in § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II einen identischen Begriffsinhalt (Schmidt in: juris-Praxiskommentar zum SGB XII, § 7 AsylbLG Rn. 11; vgl. auch Hohm, Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG, Loseblatt Stand 45. Erg.lfg. März 2012, § 7 Rn. 16). Zu § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist durch die Rechtsprechung des BSG bereits geklärt, dass „nach Sinn und Zweck der Norm eine von einem Dritten lediglich vorübergehend zur Verfügung gestellte Leistung nicht als Einkommen qualifiziert werden [kann]. Nur der „wertmäßige Zuwachs“ stellt Einkommen i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II dar; als Einkommen sind nur solche Einnahmen in Geld oder Geldeswert anzusehen, die eine Veränderung des Vermögensstandes dessen bewirkt, der solche Einkünfte hat. Dieser Zuwachs muss dem Leistungsberechtigten zur endgültigen Verwendung verbleiben, denn nur dann lässt er seine Hilfebedürftigkeit in Höhe der Zuwendungen dauerhaft entfallen“ (BSG, Urteil vom 20.12.2011 – B 4 AS 46/11 R –, zit. nach juris Rn. 16). Nichts anderes kann daher für den in § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG inhaltlich identisch auszufüllenden Begriff des Einkommens gelten. Einen wertmäßigen Zuwachs erfährt die Antragstellerin zu 1.) durch die Zahlungen des Arbeitgebers ihres Sohnes nicht, weil sie diesem gegenüber von Anfang an nur zur Entgegennahme, nicht aber zur Verfügung über den Geldzufluss berechtigt war und ist. Greifbare Anhaltspunkte für eine andere lebensnahe Betrachtung der vorliegenden Geschehensabläufe hat der Antragsgegner weder dargelegt noch glaubhaft gemacht.

Hinsichtlich des Einsatzes von Vermögen des Sohnes bzw. Bruders der Antragsteller N., der als Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a AufenthG dem Grunde nach den Vorschriften des SGB II leistungsberechtigt wäre (vgl. Frerichs in: juris-Praxiskommentar zum SGB XII, § 1 AsylbLG Rn. 102.1), kommt, soweit es den vom Antragsgegner angeführten PKW betrifft, hinzu, dass der Antragsgegner den Verwertungsausschluss des § 12 Abs. 3 Nr. 2 SGB II zu beachten hat. Zudem scheitert gegenwärtig die Anrechnung dieses Vermögensgegenstandes am Erfordernis der Verfügbarkeit zur Bestreitung des Lebensunterhaltes (dazu Schmidt, a.a.O., § 7 AsylbLG Rn. 18 ff.; eingehend zur Verfügbarkeit Hohm, a.a.O., § 7 Rn. 20, 36 ff.).

Die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beteiligten beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt das vollständige Obsiegen der Antragsteller.

Gemäß § 73 a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) ist Prozesskostenhilfe demjenigen zu gewähren, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht oder nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Diese Voraussetzungen, insbesondere hinreichende Erfolgsaussichten, liegen hier aus den vorstehenden Gründen vor.