Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 24.07.2012, Az.: S 11 U 129/11

Erstattung von aufgewendeten Kosten für das Parken eines Autos im Zusammenhang mit nach einem Arbeitsunfall bewilligten physiotherapeutischen Behandlungen

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
24.07.2012
Aktenzeichen
S 11 U 129/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 32924
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHILDE:2012:0724.S11U129.11.0A

Fundstelle

  • NZS 2013, 31

Redaktioneller Leitsatz

1.

Ein Arbeitnehmer, der sich wegen eines Arbeitsunfalls physiotherapeutischen Behandlungen.unterzieht, die vom Unfallversicherungsträger bewilligt worden sind, hat gegen diesen auch einen Anspruch auf Erstattung notwendiger Parkkosten, die er jeweils beim Besuch des Physiotherapeuten azfgewandt hat.

2.

Nach den Bestimmungen des SGB VII regeln die Verbände der Unfallversicherungsträger hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit von Kosten einer Behandlung das Nähere durch gemeinsame Richtlinien. Nach den Gemeinsamen Richtlinien der Verbände der Unfallversicherungsträger gehören zu den Reisekosten die erforderlichen Fahr- und Transportkosten, Verpflegungs- und Übernachtungskosten, Kosten des Gepäcktransports, Wegstreckenentschädigung und die Auslagen für die Versicherten und eine wegen des Gesundheitsschadens oder des Lebensalters erforderliche Begleitperson. Daraus ergibt sich, dass für die einem Betroffenen freigestellte Benutzung desPkw auch die nachgewiesenen notwendigen Fahrtkosten zu bewilligen sind. Zu den erstattungsfähigen Auslagen als Teil der Fahrtkosten gehören auch die notwendigen Parkkosten.

3.

Zwar sind die Regelungen der RK-RL für das Gericht grundsätzlich nicht verbindlich.Jedoch binden die RK-RL ausnahmsweise auch das Gericht bei der Auslegung und Anwendung der Regelungen des § 43 SGB VII, wenn ein Fall der Selbstbindung der Beklagten vorliegt. Die ständige Anwendung von Verwaltungsvorschriften kann die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes gebieten und eine Selbstbindung der Verwaltung hervorrufen. Daraus kann die Verpflichtung erwachsen, dass von der durch die Verwaltungsvorschriften gesteuerten Übung nicht ohne triftigen Grund abgewichen werden darf.

Tenor:

  1. 1.

    Die Beklagte wird unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 12.09. und 19.09.2011 und des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2011 verurteilt, an den Kläger 134,90 Euro zu zahlen.

  2. 2.

    Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen Kosten zu erstatten. 3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Erstattung der vom Kläger aufgewendete Kosten für das Parken seines Autos im Zusammenhang mit nach einem Arbeitsunfall von der Beklagten bewilligten physiotherapeutischen Behandlungen.

2

Der Kläger erlitt am 24.11.2008 einen Arbeitsunfall, aufgrund dessen ihm die Beklagte u.a. physiotherapeutische Behandlungen bewilligte. Vom 21.09.2009 bis 29.07.2010 und vom 03.08.2010 bis 26.08.2011 nahm der Kläger insgesamt 196 Behandlungstermine wahr. Die jeweils acht Kilometer langen Wege zu den Behandlungen legte der Kläger jeweils mit dem Auto zurück. Für das Abstellen seines Autos in der gebührenpflichtigen Kurzparkzone in der Nähe des Therapeuten wendete der Kläger insgesamt 134,90 EUR auf.

3

Mit Schreiben vom 30.07.2010 und 04.09.2011 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage der Parkscheine die Erstattung seiner Fahrtkosten. Mit Bescheiden vom 12.09. und 19.09.2011 bewilligte die Beklagte dem Kläger 140,80 EUR bzw. 172,80 EUR und lehnte die Erstattung der Parkkosten ab.

4

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 27.10.2011) hat der Kläger Klage erhoben. Er beruft sich auf die Vorschriften des Bundesreisekostengesetzes (BRKG) und die hierzu ergangenen Verwaltungsvorschriften.

5

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 12.09. und 19.09.2011 und des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2011 zu verurteilen, an ihn 134,90 Euro zu zahlen

6

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung.

8

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

9

Das Gericht kann durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten dem zugestimmt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

10

Die zulässige Klage ist begründet.

11

Die Bescheide der Beklagten vom 12.09. und 19.09.2011 sind in der Gestalt, den sie durch den Widerspruchsbescheid vom 27.10.2011 vom 02.02.2009 gefunden haben, rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.

12

Es hat einen Anspruch auf Erstattung der von ihm aufgewendeten Parkkosten.

13

Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) werden Reisekosten zur Ausführung der Heilbehandlung nach § 43 Abs. 2 bis 5 SGB VII übernommen. Nach § 43 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII gehören zu den Reisekosten u.a. Fahr- und Trans-portkosten, Verpflegungs- und Übernachtungskosten, Kosten des Gepäcktransports und die Wegstreckenentschädigung für die Versicherten und für eine wegen des Gesundheitsschadens erforderliche Begleitperson. § 43 Abs. 5 SGB VII bestimmt, dass die Verbände der Unfallversicherungsträger das Nähere durch gemeinsame Richtlinien regeln.

14

Von der Ermächtigung hat der Spitzenverband der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung eV, Gebrauch gemacht und die Gemeinsamen Richtlinien der Verbände der Unfallversicherungsträger nach § 43 Abs. 5 SGB VII über Reisekosten in der Fassung vom 27.05.2010 erlassen (Rdschr DGUV 319/2010 vom 15.06.2010; die Richtlinie ist auch abzurufen unter http://www.dguv.de/inhalt/rehabilitation/documents/reise.pdf; im Folgenden: RK-RL). Nach Abschnitt 3 Satz 1 der RK-RL gehören zu den Reisekosten die erforderlichen Fahr- und Transportkosten, Verpflegungs- und Übernachtungskosten, Kosten des Gepäcktransports, Wegstreckenentschädigung und die Auslagen für die Versicherten und eine wegen des Gesundheitsschadens oder des Lebensalters erforderliche Begleitperson. Abschnitt 4.2 i.V.m. 4.1 Satz 2 der RK-RL bestimmt, dass bei Reisen zu ambulant erbrachten Leistungen kein Vorrang zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel besteht.

15

Bereits aus der ausdrücklichen Aufzählung in Abschnitt 3 der RK-RL ergibt sich, dass neben den unmittelbaren pauschalierten Betriebskosten für die dem Kläger freigestellte Benutzung des Autos auch die nachgewiesenen notwendigen Parkkosten des Versicherten zu bewilligen sind.

16

1.

Einer dem Wortlaut des Abschnitts 3 der RK-PL entsprechenden Auslegung des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VII steht zunächst nicht entgegen, dass § 43 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII Auslagen nicht als Teil der Reisekosten benennen.

17

a)

Weder nach dem Wortlaut der Norm noch nach ihrer Gesetzesbegründung (siehe Bundestags-Drucksache [BT-Drucks] 13/2204 S 86) besteht ein Anhalts-punkt, dass das Gesetz mit der Aufzählung die Erstattung von Auslagen anlässlich von Reisen zur Ausführung von Heilbehandlungsleistungen ausschließen wollte. Insofern liegt es wesentlich näher, dass die Erwähnung von Auslagen als erstattungsfähige Aufwendungen versehentlich oder auch bewusst unter-blieben ist, weil der Gesetzgeber meinte, dass diese von dem Begriff der Reisekosten hinreichend deutlich erfasst wurden und daher nicht erwähnt werden mussten.

18

b)

Selbst wenn das Gesetz die Erstattung von Auslagen ausschlösse, bestünde aufgrund der RK-RL ein Anspruch des Klägers auf Erstattung der Auslagen.

19

Zwar sind die Regelungen der RK-RL für das Gericht grundsätzlich nicht verbindlich. Durch die Bezeichnung der zu schaffenden Regelungen als "Richtlinien" durch die Benennung der Verbände der Unfallversicherungsträger als Erlassberechtigte macht das Gesetz deutlich, dass § 43 Abs. 5 SGB VII keine Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen, sondern lediglich von Verwaltungsvorschriften darstellt (vgl zu § 41 Abs. 4 Bundessozialgericht [BSG] Urteil vom 06.05.2003 - B 2 U 22/02 R m.w.N. [Rn 21]). Dadurch, dass der Gesetz-geber den Verbänden der Unfallversicherungsträger das "Nähere" zur Regelung überlassen hat, hat er sie zu einer Konkretisierung des gesetzlichen An-spruchs für ihren Bereich beauftragt. Die Richtlinien haben daher den Zweck, für Entscheidungen über die Erstattung von Reisekosten eine gleichmäßige Verwaltungspraxis sicherzustellen. Die gesetzgeberischen Motive zu § 41 Abs. 4 SGB VII (BT-Drucks a.a.O.) sind zwar nicht näher ausgeführt. Sie können sich jedoch auch im Hinblick auf den Rang von Verwaltungsvorschriften in der allgemeinen Normenhierarchie nur auf den Leistungsinhalt beziehen; daher wäre es unzulässig, etwa durch eine einschränkende Beschreibung der anspruchsbegründenden Voraussetzungen in den Richtlinien den Anspruch zu begrenzen (vgl BSG a.a.O.).

20

Jedoch binden die RK-RL ausnahmsweise auch das Gericht bei der Auslegung und Anwendung der Regelungen des § 43 SGB VII weil ein Fall der Selbstbindung der Beklagten vorliegt.

21

Die ständige Anwendung von Verwaltungsvorschriften kann die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes (Art 3 des Grundgesetzes [GG]) gebieten und eine Selbstbindung der Verwaltung hervorrufen. Daraus kann die Verpflichtung er-wachsen, dass von der durch die Verwaltungsvorschriften gesteuerten Übung nicht ohne triftigen Grund abgewichen werden darf (vgl BSG Urteil vom 22.05.1969 - 4 RJ 287/68 [zit nach [...], Rn 14]).

22

Soweit die Beklagte die Erstattung von Parkkosten im Zusammenhang mit der Ausführung von Heilbehandlungsleistungen ablehnt, weicht sie von der allgemeinen Verwaltungspraxis aller übrigen Unfallversicherungsträger ab. Bei einer aufgrund gesetzlicher Ermächtigung durch die Verbände der Unfallversicherungsträger trägerübergreifend geregelten Verwaltungsübung ist nicht allein ihr Verwaltungshandeln, sondern das aller Unfallversicherungsträger zu betrachten. Nachdem der erkennenden Kammer kein einziger Fall - insbesondere keine diesbezügliche Gerichtsentscheidung - bekannt geworden ist, in dem ein anderer Unfallversicherungsträger die Erstattung von Parkkosten im Zusammenhang mit - gänzlich unstreitig - unfallbedingten Heilbehandlungen abgelehnt hätte, ist davon auszugehen, dass allein die Beklagte in dieser Weise verfährt.

23

2.

Zu den erstattungsfähigen Auslagen als Teil der Fahrtkosten gehören auch die not-wendigen Parkkosten.

24

Bei den Aufwendungen, die dadurch entstehen, dass ein Auto gegen Gebühr in einer Kurzparkzone abgestellt wird, handelt es sich um übliche, bereits in den meisten Innenstädten von Mittelzentren nicht zu vermeidende Nebenkosten einer Autofahrt. Dies haben auch die Verbände der Unfallversicherungsträger offensichtlich so gesehen, wenn sie in Abschnitt 10.4 der RK-RL im Zusammenhang mit dem Aufwendungsersatzanspruch nach § 65a Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) - der Fahrtkosten zur Ausführung einer ambulanten Heilbehandlungsleistung wegen der Ausklammerung des § 63 SGB I jedoch nicht umfasst - gerade Parkgebühren als Beispiel für notwendige Auslagen des Versicherten benannt haben.

25

3.

Da sich ein Anspruch auf die Erstattung der Parkkosten bereits aus § 43 SGB VII ergibt, kann dahingestellt bleiben, ob - wie der Kläger meint - § 10 des Bundesreisekostengesetzes (BRKG) i.V.m. Abschnitt 10.1.2 der hierzu ergangenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift unmittelbar, entsprechend oder nach seinem Rechtsgedanken zur Anwendung kommen kann oder dies - wofür allerdings einiges spricht - im Hinblick darauf ausgeschlossen ist, dass Abschnitt 4.1.2 ausdrücklich nur auf § 5 Abs. 1 BRKG verweist.

26

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Berufung wird gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil in der Rechtsprechung - soweit ersichtlich - bislang nicht entschieden wurde, ob der Begriff der Reisekosten in § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VII vor dem Hintergrund des Wortlauts des § 43 Abs. 2 SGB VII auch die Parkkosten umfasst.