Sozialgericht Hildesheim
Beschl. v. 06.09.2012, Az.: S 42 AY 152/12 ER

Leistungskürzung gegenüber einem Asylbewerber wegen fehlender Mitwirkung bei der Beschaffung eines Reisepasses

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
06.09.2012
Aktenzeichen
S 42 AY 152/12 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 35340
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHILDE:2012:0906.S42AY152.12ER.0A

Tenor:

Der Antragsgegner wird einstweilen verpflichtet, dem Antragsteller bis zur bestandskräftigen Entscheidung über seinen Widerspruch vom 8. Oktober 2012 vorläufig und unter Rückforderungsvorbehalt für die Zeit ab dem 15. Oktober 2012 ungekürzte Grundleistungen gem. § 3 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 1 Satz 4 AsylbLG unter Zugrundelegung der Tabellenwerte des ihn bindenden Erlasses des Nds. Innenministeriums vom 22. August 2012 zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller 70 % seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Verfahren im ersten Rechtszug ab dem 24. Oktober 2012 ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt. Im wird insoweit Rechtsanwalt E. zur Vertretung in diesem Verfahren beigeordnet.

Gründe

Der nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) am 15. Oktober 2012 eingegangene, zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Antragsgegner des sinngemäßen Inhalts, diesen einstweilen zu verpflichten, dem Antragsteller - vollziehbar ausreisepflichtiger iranischer Staatsangehöriger - ungekürzte Analog-Leistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu gewähren, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang teilweise begründet, denn der Antragsteller hat für sein e.g. Begehren teilweise einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO).

Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig ist. Das ist immer dann der Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache im Falle des Obsiegens nicht mehr in der Lage wäre (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 19. Oktober 1977 - 2 BvR 42/76 -, BVerfGE 46 [166, 179, 184]). Steht dem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist es ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet. Eine aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Verfahren ist jedoch nur dann zulässig, wenn dem Antragsteller ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung unzumutbare Nachteile drohen und für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können (Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 8. September 2004 - L 7 AL 103/04 ER -). Sowohl die hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs (Anordnungsanspruch) als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile (Anordnungsgrund) müssen glaubhaft gemacht werden, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO. Dies ist dem Antragsteller teilweise gelungen.

Der Antragsteller, dessen Leistungsberechtigung spätestens seit Abschluss des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens durch Beschluss des Nds. OVG vom 27. Juli 2012 (13 ME 152/12, Bl. 286 ff. AuslA) und am 12. September 2012 erklärter Rücknahme der Klage gegen den die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 4 AufenthG ablehnenden Bescheid der Ausländerbehörde des Antragsgegners vom 19. April 2012 aus § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG folgt, hat keinen Anspruch auf ungekürzte Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG glaubhaft gemacht. Nach der e.g. Norm ist das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch abweichend von §§ 3 bis 7 AsylbLG auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Es ist weder aus den vom Antragsgegner vorgelegten Ausländer- und Leistungsakten ersichtlich, noch von den Beteiligten dargelegt und glaubhaft gemacht, dass der Antragsteller bereits über einen Zeitraum von 48 Monaten Grundleistungen gem. § 3 AsylbLG bezogen hat. Aus dem zur Leistungsakte befindlichen Bewilligungsbescheid des Jobcenters F. vom 4. April 2012 (Bl. 5 ff.) ergibt sich lediglich, dass der Antragsteller vor dem 1. Juli 2012 im Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II stand. Der vorangegangene Bezug von Sozialleistungen etwa nach dem SGB II oder SGB XII kann nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) auf die Vorbezugszeit von 48 Monaten nicht angerechnet werden (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R -, BSGE 101, S. 49 ff., zit. nach [...] Rn. 19 m.w.N.). Der Antragsteller hat indes einen Anspruch auf ungekürzte Grundleistungen gem. § 3 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 1 Satz 4 AsylbLG glaubhaft gemacht, der für die hier in Streit stehenden Monate Oktober (anteilig ab Antragseingang bei Gericht am 15.) bis Dezember 2012 aufgrund der Übergangsregelung aus dem Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2012 (- 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11 -, BGBl I. 2012, S. 1715 f. = NVwZ 2012, S. 1024 ff. [BVerfG 18.07.2012 - 1 BvL 10/10]) nach Maßgabe der Erlasse des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport (MI) vom 22. August und 3. September 2012 - A 11.32-12235-8.1.18 - (abrufbar unter: www.nds-fluerat.org/infomaterial/erlasse-des-niederschsichen-ministeriums/) zu bemessen ist. Danach stehen dem der Regelbedarfsstufe 1 zuzuordnenden Antragsteller monatlich Ersatzleistungen (etwa in Wertgutscheinen) gem. § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG i.H.v. 212,00 EUR und zusätzlich ein Barbetrag (als Taschengeld) i.H.v. 134,00 EUR zu.

Soweit sich der Antragsgegner für die von ihm in den Bewilligungsbescheiden vom 1. Oktober (Bl. 42 f. LA) in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 10. Oktober (Bl. 54 ff. LA) und vom 14. November 2012 (Bl. 37 ff. GA) wegen fehlender Mitwirkung bei der Beschaffung eines iranischen Reisepasses verfügte Leistungskürzung um 25 % des nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. § 28 SGB XII für den Antragsteller maßgeblichen, fortgeschriebenen Regelbedarfs Stufe 1 i.H.v. 374,00 EUR auf 280,50 EUR, d.h. um 93,50 EUR monatlich, auf die §§ 60, 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) beruft, verkennt er bereits, dass die Vorschriften des SGB I auf Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG nur nach Maßgabe des § 7 Abs. 4 AsylbLG anwendbar sind; danach sind die §§ 60 bis 67 SGB I über die Mitwirkung des Leistungsberechtigten bei der Aufklärung aller leistungserheblichen Tatsachen, insbesondere bei der Ermittlung anzurechnenden Einkommens und Vermögens entsprechend anzuwenden (Schmidt in: [...]Praxiskommentar zum SGB XII, Stand: 10/2012, § 7 AsylbLG Rn. 62). Mit dieser durch das 1. Änderungsgesetz zum AsylbLG zum 1. Juni 1997 eingefügten Regelung wollte der Gesetzgeber eine bis dahin nach den weniger detaillierten Vorgaben der Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder bestehende Regelungslücke schließen und einer missbräuchlichen Inanspruchnahme von Asylbewerberleistungen vorbeugen (vgl. Hohm, Kommentar zum AsylbLG, Loseblatt, Stand: 46. Erg.lfg. Mai 2012, § 7 Rn. 135 m.w.N., unter Hinweis auf BT-Drs. 13/2746, S. 16 f.; wörtlich wiedergegeben von: OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 15. April 2009 - 1 L 229/04 -, zit. nach [...] Rn. 29 f.; vgl. auch Schmidt, a.a.O., Rn. 62). Im Übrigen ist eine direkte oder analoge Anwendung von Vorschriften des SGB I im Regelungsregime des AsylbLG ausgeschlossen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25. Oktober 2012 - L 7 AY 726/11 -, zit. nach [...] Rn. 20).

Aus der systematischen Stellung des Absatzes 4 innerhalb des § 7 AsylbLG ergibt sich bereits, dass sich die qualifizierte Pflicht des Asylbewerberleistungsberechtigten zur Mitwirkung bei der Aufklärung des für die Leistungsbemessung entscheidungserheblichen Sachverhalts entsprechend § 60 Abs. 1 SGB I allein auf die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung, d.h. die Anspruchsberechtigung /-begründung (insb. § 1 AsylbLG) und die Anspruchshöhe bzw. den Anspruchsumfang (insb. §§ 7, 8 AsylbLG) bezieht. Selbst wenn man der systematischen Stellung des o.g. Anwendungsbefehls innerhalb des § 7 AsylbLG keine eindeutige Begrenzung seiner Reichweite auf die Ermittlung anzurechnenden Einkommens und Vermögens abgewinnt (vgl. etwa Schmidt, a.a.O., Rn. 63, der eine Festschreibung der Mitwirkungspflichten gem. §§ 60 ff. SGB I in § 9 AsylbLG für konsequenter erachtet), bezweckt er jedoch ausschließlich, dem auch im Asylbewerberleistungsrecht anwendbaren Nachranggrundsatz Geltung zu verschaffen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. August 2007 - 16 A 1158/05 -, FEVS 59, S. 255 ff., zit. nach [...] Rn. 32; zur Geltung des Nachrangprinzips im AsylbLG vgl. Beschluss der Kammer vom 30. August 2012 - S 42 AY 140/12 ER -, zit. nach [...] Rn. 30 m.w.N.; abrufbar unter: www.rechtsprechung.niedersachsen.de). Der in § 7 Abs. 4 AsylbLG enthaltene Befehl zur entsprechenden Anwendung u.a. des § 66 SGB I eröffnet dem Antragsgegner somit nach der Systematik des Gesetzes und dessen Sinn und Zweck keine weitere, neben § 1a Nr. 2 AsylbLG tretende Rechtsgrundlage zur "Sanktionierung" von verletzten Mitwirkungsobliegenheiten nach dem Ausländer- und Asylverfahrensrecht. Die Kammer pflichtet insoweit dem OVG Mecklenburg-Vorpommern bei, dass in seinem Urteil vom 15. April 2009 (a.a.O., Rn. 31) hierzu Folgendes ausgeführt hat:

"Absicht des Gesetzgebers ist es danach gewesen, die sich daraus ergebenden Lücken zu schließen, dass die Asylbewerberleistungen mit dem Asylbewerberleistungsgesetz aus dem Sozialgesetzbuch ausgegliedert worden sind und die Bestimmungen von SGB I und SGB X deshalb nicht mehr anwendbar sind. Es sollte sichergestellt werden, dass die aufgrund dieser Regelungen bestehenden Mitwirkungspflichten (und die sich aus einer Verletzung dieser Pflichten folgenden Konsequenzen, vgl. § 66 Abs. 3 SGB I) auch im Verfahren nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gelten. Regelungszweck von § 7 Abs. 4 AsylbLG sollte folglich nicht sein, den Umfang der in §§ 60 bis 67 SGB I normierten Mitwirkungspflichten für das Verfahren der Gewährung von Asylbewerberleistungen um andere - im SGB nicht enthaltene - Mitwirkungspflichten zu erweitern. Nach den Bestimmungen von SGB I und SGB X wäre es nicht möglich, den Ausländer im Falle des Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes zu verpflichten, an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken; diese Passpflichten sind im Ausländer- und Asylverfahrensrecht normiert (vgl. § 15 Abs. 1 Ziffer 6 AsylVfG, § 48 Abs. 3 AufenthG). Damit will § 7 Abs. 4 AsylbLG mit der Bezugnahme auf §§ 60 bis 67 SGB I und § 99 SGB X auch nicht verfahrensrechtliche Folgen der Verletzung einer solchen Pflicht regeln. Die Verweisung des § 7 Abs. 4 AsylbLG betrifft mit anderen Worten nicht Mitwirkungspflichten, die sich aus anderen Gesetzen ergeben (so LSG BW, 25.08.2005 - L 7 A 4 3115/05 ER-B-, [...], Rn 7; i.E. auch OVG NW, 22.08.2007 - 16 A 1158/05 -, [...], Rn 40). Eine Pflicht der Behörde zu Fristsetzung und Rechtsfolgenbelehrung besteht daher nicht."

In diesem Sinne zutreffend hat auch das VG Kassel (Beschluss vom 7. Januar 1998 - 5 G 4046/97 (3) -, abgedruckt bei Hohm, a.a.O., Bd. III, Abschnitt VII - § 7 Abs. 4 (VG-Nr.1)) in einem Fall entschieden, in dem der zuständige Leistungsträger nach dem AsylbLG über eine Leistungsversagung gem. § 66 Abs. 3 SGB I die Offenbarung des wahren Namens des betroffenen, vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers erzwingen wollte, dass sich die Mitwirkungspflicht des Leistungsberechtigten gem. § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I nur auf Tatsachen beziehe, die für die Gewährung von Asylbewerberleistungen relevant seien, namentlich ob die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistung (Berechtigung, Bedarf etc.) in der Person dessen vorlägen, der sie begehre. Ob diese Person [Anm.: unter Verletzung ausländerrechtlicher Mitwirkungsobliegenheiten], die die Voraussetzungen erfülle, sich ihres richtigen oder eines falschen Namens bediene, sei irrelevant, solange sie nicht unter beiden Namen Leistungen beziehe. Weiter führt das VG Kassel aus, dass der Antragsteller möglicherweise durch Verschweigen seines wahren Namens die Ausstellung von Ausreisepapieren verhindere und somit die Rückführung in sein Heimatland verzögere, sei zwar unerfreulich, stelle [Anm.: von § 1a Nr. 2 AsylbLG abgesehen, der erst durch das 2. Änderungsgesetz zum AsylbLG 1998 eingefügt wurde] aber keinen Versagungstatbestand nach dem AsylbLG dar (vgl. auch Hohm, a.a.O., § 7 Rn. 137).

Die vom Antragsgegner gem. §§ 60 Abs. 1, 66 Abs. 1 SGB I verfügte Leistungskürzung lässt sich auch nicht als gesetzlich zwingend vorgegebene Leistungseinschränkung gem. § 1a Nr. 2 AsylbLG aufrechterhalten. Gemäß § 1a Nr. 2 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 und ihre Familienangehörigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 6, bei denen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, Leistungen nach dem AsylbLG nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist.

Die Kammer kann im vorliegenden Verfahren offen lassen, ob eine Leistungseinschränkung gem. § 1a Nr. 2 AsylbLG aufgrund der Feststellungen des BVerfG in seinem Urteil vom 18. Juli 2012 (a.a.O.) derzeit, d.h. bis zur Neuregelung der Höhe der Grundleistungen durch den Gesetzgeber, überhaupt noch zulässig mit der Folge ist, dass die vom BVerfG seiner Übergangsregelung zugrunde liegenden Werte nach dem RBEG (zeitweise) unterschritten werden dürfen (verneinend SG Altenburg, Beschluss vom 11. Oktober 2012 - S 21 AY 3362/12 ER -, BA S. 5 f., abrufbar unter: http://www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2012/11/SG-Altenburg-vom-11.10.12-Bargeldk%C3%BCrzung-bei-%C2%A7-1a-AsylbLG.pdf; SG Lüneburg, Urteil vom 25. Oktober 2012 - S 26 AY 4/11 -, UA S. 16; SG Düsseldorf, Beschluss vom 19. November 2012 - S 17 AY 81/12 ER -, BA S. 4 f., abrufbar unter: http://www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2012/11/SG-Düsseldorf-1aAsylbLG.pdf, Classen, Das BVerfG-Urteil zur Verfassungswidrigkeit des AsylbLG, Asylmagazin 9/2012, S. 286 (292); die weitere Anwendbarkeit des § 1a AsylbLG bejahen dagegen die Erlasse der Bundesländer zur Umsetzung des Urteils des BVerfG, etwa Erlass des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport vom 3. September 2012 - A 11.32 - 12235 - 8.1.18 -, abrufbar unter: http://www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2007/02/Hinweis-MI-Nds-zu-AsylbLG-03-09-2012.pdf; für eine restriktive Auslegung und Anwendung des § 1a AsylbLG nur in Fällen einer "möglichen und zumutbaren freiwilligen Ausreise" vgl. Rothkegel, Das Gericht wird s richten - das AsylbLG-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Ausstrahlungswirkungen, ZAR 10/2012, S. 357 (360 f.)). Denn auch unter Zugrundelegung des bisherigen Normverständnisses des § 1a Nr. 2 AsylbLG und ihrer bisherigen praktischen Handhabung sowie der hierzu vor dem 18. Juli 2012 ergangenen Rechtsprechung lässt sich die vom Antragsgegner vorgenommene Kürzung nicht halten.

Allgemein anerkannte Voraussetzung für die Leistungseinschränkung gem. § 1a Nr. 2 AsylbLG ist das Verschulden des Betroffenen (vgl. Wortlaut: "zu vertretenden Gründen") hinsichtlich der Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Die zuständige Ausländerbehörde muss dementsprechend die Aufenthaltsbeendigung beabsichtigen oder entsprechende Maßnahmen bereits eingeleitet haben. Lässt sich hingegen nicht feststellen, dass die zuständige Ausländerbehörde die Absicht hat, den Aufenthalt des Betroffenen im Bundesgebiet zwangsweise zu beenden, fehlt dieser Ausländerbehörde mithin der sog. Vollstreckungswille, scheidet eine Anspruchseinschränkung gem. § 1a Nr. 2 AsylbLG schon tatbestandlich aus (vgl. Hohm in: Kommentar zum AsylbLG, Loseblatt Bd. 1, Stand: 46. Erg.lfg. Mai 2012, § 1a Rn. 87 f. m.w.N.). Dem vom Antragsgegner vorgelegten Auszug aus der Ausländerakte des Antragstellers lässt sich ein Vollstreckungswille seiner Ausländerbehörde nicht entnehmen. Dieser käme nach dem bisherigen Gang des Verwaltungsverfahrens ohnehin erst ab dem Zeitpunkt der Beendigung der vor dem VG Hannover und dem Nds. Oberverwaltungsgericht geführten Klage- und einstweiligen Rechtsschutzverfahren wegen der Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 4 AufenthG Mitte September 2012 in Betracht. Denn die Ausländerbehörde des Antragsgegners hat auf anwaltliche Anfrage vom 29. Juni 2012 (Bl. 267 AuslA) unter dem 2. Juli 2012 (Bl. 268 AuslA) schriftlich erklärt, von den üblichen Verfahrensabläufen nicht abweichen zu wollen, d.h. mit der Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen bis zum Abschluss der seinerzeit anhängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahren zuwarten zu wollen. Es kommt hinzu, dass die Ausländerbehörde des Antragsgegners die dem Antragsteller zur Ermöglichung einer freiwilligen Ausreise zunächst bis zum 1. August 2012 ausgestellte Grenzübertrittsbescheinigung mehrfach, zuletzt unter dem 2. Oktober bis zum 5. November 2012 verlängert (Bl. 292 AuslA) und in diesem Zusammenhang das Begehren des Antragstellers auf Ausstellung einer Duldung abgelehnt hat (vgl. Schreiben der ABH vom 11. Juli 2012, Bl. 275 AuslA). Dieses Vorgehen ist insofern konsequent, als es einer Duldung gem. § 60a Abs. 2 AufenthG, d.h. der Aussetzung der Abschiebung als Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung, in den Fällen nicht bedarf, in denen die Ausländerbehörde ein Verfahren der Verwaltungsvollstreckung zur Durchsetzung der gesetzlichen Ausreisfrist - wie vorliegend - von vorn herein nicht betreibt.

Es tritt hinzu, dass es die Ausländerbehörde des Antragsgegners bislang versäumt hat, die Forderung nach einer konkreten, vom Antragsteller geforderten Mitwirkungshandlung aktenkundig zu dokumentieren. Der in der Ausländer- und Leistungsakte befindlichen Email vom 11. September 2012 zwischen der zuständigen Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde und dem zuständigen Sachbearbeiter des Sozialamtes des Antragsgegners mit der Forderung nach einer Leistungskürzung wegen fehlender Bereitschaft zur Mitwirkung an der Passbeschaffung (Bl. 284 AuslA = Bl. 40 LA) lässt sich nicht entnehmen, wer wann und wo welche konkrete Mitwirkungshandlung vom Antragsteller gefordert und dass der Antragsteller diese Forderung verstanden hat, was in der Regel unterschriftlich zu dokumentieren ist. In der Rechtsprechung der erkennenden Kammer ist geklärt, dass eine Leistungskürzung gem. § 1a Nr. 2 AsylbLG tatbestandlich auch voraussetzt, dass die zuständige Ausländerbehörde den betreffenden Leistungsberechtigten gemäß § 82 Abs. 3 i.V.m. § 48 Abs. 3 AufenthG qualifiziert (zu den Hinweis- und Anstoßpflichten der ABH grundlegend BayVGH, Beschluss vom 19. Dezember 2005 - 24 C 05.2856 -, zit. nach [...] Rn. 42 ff.) und ggf. unter Fristsetzung zu einer bestimmten, ihm zumutbaren Mitwirkungshandlung auffordert (Beschluss der Kammer vom 15. März 2012 - S 42 AY 174/10 -, n.v., unter Hinweis auf Oppermann in: [...]Praxiskommentar zum SGB XII, § 2 AsylbLG Rn. 60 ff.; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18. Dezember 2006 - L 8 B 24/06 AY ER -, zit. nach [...] Rn. 46).

Nach alledem hat der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in dem tenorierten Umfang teilweise Erfolg, sodass unter Zugrundelegung des Verhältnisses von Begehren zum Obsiegen des Antragstellers die Verpflichtung des Antragsgegners zur Erstattung außergerichtlicher Kosten des Antragstellers i.H.v. 70 % billigem Ermessen im Sinne des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG entspricht.

Gemäß § 73 a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) ist Prozesskostenhilfe demjenigen zu gewähren, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht oder nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Diese Voraussetzungen lagen hier ab Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs mit Eingang der unter dem 23. Oktober 2012 (Eingang 24. Oktober 2012) nachgereichten Prozesskostenhilfeunterlagen vor; die hinreichenden Erfolgsaussichten des Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes folgen aus den vorstehenden Ausführungen.

Gegen diesen Beschluss findet nur die sofortige Beschwerde der Staatskasse nach Maßgabe des § 73 a SGG i.V.m. § 127 Abs. 3 ZPO statt. Im Übrigen ist er gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG unanfechtbar, denn es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass in der Hauptsache die Berufung gem. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulässig wäre, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes für einen der Beteiligten mehr als 750,- Euro beträgt.