Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 05.09.2012, Az.: S 11 U 27/08

Anpassung und Gewöhnung; erstmalige Feststellung; rückwirkend; rückwirkende Feststellung; Versicherungsfall

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
05.09.2012
Aktenzeichen
S 11 U 27/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44323
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Wird nach Ablauf von mehr als drei Jahren nach einem anerkannten Arbeitsunfall erstmals über die Verletztenrente entschieden, ist der Unfallversicherungsträger nicht befugt, die MdE unter Hinweis auf eine nicht mit medizinischen Anknüpfungstatsachen belegte und auch sonst nicht spezifizierte Anpassung und Gewöhnung herabzusetzen. § 62 Abs 2 Satz 2 SGB VII ist für die rückwirkende Feststellung der MdE ohne Bedeutung.

Tenor:

1. Die Bescheide der Beklagten vom 19.06.2006 und 10.10.2007 sowie der Widerspruchsbescheid vom 13.02.2008 werden abgeändert.

2. Es wird festgestellt, dass über die anerkannten Unfallfolgen hinaus auch

- ein eingeschränktes Riechvermögen rechts mehr als links,

- eine leicht behinderte Nasenatmung mit Schnarchneigung,

- leichte kognitive Einschränkungen und

- wiederkehrende rechtsseitige Kopfschmerzen

Folgen des Unfalls der Klägerin vom 13.02.1998 sind.

3. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab dem 13.02.2001 bis auf Weiteres eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30% unter Anrechnung der für diesen Zeitraum bereits von ihr an die Klägerin erbrachten Verletztenrentenzahlungen zu bewilligen.

4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

5. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt nach einem anerkannten Arbeitsunfall die Feststellung weiterer Gesundheitsbeeinträchtigungen als Unfallfolgen und die Zahlung einer höheren Verletztenrente.

Die 1978 geborene Klägerin begann im August 1996 im Rahmen einer von der Bundesagentur für Arbeit getragenen berufsfördernden Bildungsmaßnahme eine Berufsausbildung zur Malerin/Lackiererin im Berufsbildungswerk Lingen. Während ihrer Ausbildung wohnte sie im Berufsbildungswerk und bezog von der Bundesagentur Ausbildungsgeld.

Am 13.02.1998 erlitt die Klägerin auf der Fahrt von G. nach H., wo sie etwa jedes zweite Wochenende bei der Familie ihres Lebenspartners verbrachte, einen schweren Verkehrsunfall. Bei diesem wurde ihr Lebenspartner getötet und die Schwester ihres Lebenspartners schwer verletzt. Die auf der Rückbank des Autos sitzende Klägerin erlitt ausgedehnte Verletzungen, ua ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades mit Einblutung, Mittelgesichtsfrakturen mit Riss-/Quetschwunden bei Nasen- und Augenbeteiligung und eine Fraktur des rechten Oberschenkelschafts.

Vom 14.02. bis 28.05.1998 und 28.10. bis 04.11.1998 befand sich die Klägerin in stationärer Behandlung.

Ab dem 16.03.1999 setzte die Klägerin ihre nunmehr auf das - geringere berufliche Anforderungen stellende - Berufsziel der Bau-/Metallmalerin ausgerichtete Ausbildung - unterbrochen durch weitere ärztliche Behandlungen vom 29.07. bis 04.08.1999 und 08. bis 15.03.2000 - fort und schloss diese am 26.07.2001 mit Erfolg ab.

Das Sozialgericht Osnabrück verpflichtete die Beklagte mit Urteil vom 27.02.2004 - S 8 U 118/00 - dem Grunde nach, den Unfall der Klägerin am 13.02.1998 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Die gegen diese Entscheidung erhobene Berufung nahm die Beklagte im Januar 2005 zurück.

Die Beklagte holte sodann die Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet des Dr Schumacher vom 29.06.2005 nebst ergänzender Stellungnahme vom 03.11.2005, auf zahnärztlichem Fachgebiet des I. vom 15.06.2005 nebst ergänzender Stellungnahme vom 15.11.2005, auf orthopädischem Fachgebiet der J. und K. vom 15.06.2005 nebst ergänzender Stellungnahme vom 05.12.2005 und auf augenärztlichem Fachgebiet des L. vom 23.06.2005 nebst nicht datierter ergänzender Stellungnahme ein.

Mit Bescheid vom 19.10.2006 erkannte die Beklagte im Wesentlichen die Doppelbildwahrnehmungen sowie verschiedene Gesichtsdeformierungen, vorrangig im Bereich des Nasensattels, als Unfallfolgen an und bewilligte der Klägerin eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer - dem Vorschlag der Sachverständigen J. und K. folgenden - MdE in wechselnder Höhe zwischen 30 und 100% im Zeitraum vom 14.02.1998 bis 12.02.2001 und anschließend bis auf Weiteres nach einer MdE von 20%.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch. Die Beklagte holte sodann weitere Stellungnahmen der M., N. und K. ein, die ihre Einschätzung der MdE teilweise erhöhten.

Der Klägerin ist seit November 2006 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 zuerkannt.

Mit Bescheid vom 10.10.2007 änderte die Beklagte den Bescheid vom 19.06.2006 entsprechend der Stellungnahme der von ihr beauftragten Sachverständigen ab. Mit Bescheid vom 13.02.2008 wies die Beklagte den Widerspruch im Übrigen zurück. Hiergegen richtet sich die Klage.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung der Bescheide vom 19.06.2006 und 10.10.2007 sowie des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2008 weitere Folgen des Arbeitsunfalls der Klägerin vom 13.02.1998, insbesondere

- ein eingeschränktes Riechvermögen rechts mehr als links,

- eine leicht behinderte Nasenatmung mit Schnarchneigung,

- leichte kognitive Einschränkungen,

- wiederkehrende rechtsseitige Kopfschmerzen und

festzustellen und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine höhere Verletztenrente, mindestens nach einer MdE von 30%, zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Das Gericht hat die Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet des O. vom 28.11.2009, auf augenärztlichem Fachgebiet des P. vom 27.07.2010, auf internistisch-kardiologischem Fachgebiet des Q. vom 07.02.2010 mit radiologischem Zusatzgutachten des R. vom 07.03.2011 und auf HNO-ärztlichem Fachgebiet der S. vom 22.02.2012 sowie eine Stellungnahme zur Gesamt-MdE des O. vom 27.05.2012 eingeholt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 19.06.2006 in der Gestalt des Bescheides vom 10.10.2007 und des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2008, mit dem die Beklagte über die Folgen des Arbeitsunfalls der Klägerin vom 13.02.1998 entschieden und der Klägerin eine Verletztenrente in unterschiedlicher Höhe bewilligt hat.

Durch Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 27.02.2004 - S 8 U 118/00 - ist für die Beteiligten bindend festgestellt, dass die Klägerin am 13.02.1998 einen Arbeitsunfall erlitten hat. Soweit das Sozialgericht Osnabrück die Beklagte dem Grunde nach zur Anerkennung des Arbeitsunfalls verurteilt hat, handelt es sich hierbei um die diesbezügliche Feststellung (vgl Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leither, SGG, 10. Aufl, § 55 Rn 13b mwN), die nach Rücknahme der Berufung in Rechtskraft erwachsen ist.

Das Begehren der Klägerin auf Feststellung weiterer Unfallfolgen und die Zahlung einer höheren als der von der Beklagten zuerkannten Verletztenrente ist als kombinierte Anfechtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage zulässig (§§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4, 55 Abs 1 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die Klage ist auch im erkannten Umfang begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 19.06.2006 in der Gestalt des Bescheides vom 10.10.2007 und des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2008 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Die Klägerin hat Anspruch auf eine höhere Verletztenrente.

Nach § 56 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) wird dem Verletzten als Verletztenrente der Teil der Vollrente (§ 56 Abs 3 SGB VII) gewährt, der dem Grad der MdE entspricht, so lange seine Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls um wenigstens 20% gemindert ist. Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs 1 SGB VII).

I.

Als Unfallfolgen wurden mit dem angefochtenen Bescheid im Wesentlichen Doppelbildwahrnehmungen sowie verschiedene Gesichtsdeformierungen, vorrangig im Bereich des Nasensattels anerkannt.

Bei der Klägerin liegen jedoch weiter gehend

- ein eingeschränktes Riechvermögen rechts mehr als links,

- eine leicht behinderte Nasenatmung mit Schnarchneigung,

- leichte kognitive Einschränkungen,

- wiederkehrende rechtsseitige Kopfschmerzen

als Folgen des Unfalls der Klägerin vom 13.02.1998 vor.

Dies ergibt sich aus den im Verwaltungsverfahren und Gerichtsverfahren beigezogenen ärztlichen Unterlagen, insbesondere aus den vom Gericht eingeholten Gutachten der Professores T., U., V., W. und X.. Das Gericht hat die Ausführungen der Gutachter überprüft und in eigener Würdigung nachvollzogen; diesen ist in Bezug auf die Beurteilung der Unfallfolgen uneingeschränkt zuzustimmen. Die Feststellungen der Sachverständigen sind insoweit überzeugend.

Das eingeschränkte Riechvermögen rechts mehr als links und eine leicht behinderte Nasenatmung mit Schnarchneigung wurden im Verwaltungsverfahren nicht festgestellt, schon weil die Beklagte - was allerdings bei den seinerzeit bereits hinlänglich bekannten Beeinträchtigungen erforderlich gewesen wäre - kein HNO-ärztliches Zusammenhangsgutachten eingeholt hat. Auch der von der Beklagten gehörte zahnärztliche Sachverständige Dr I. hat - ebenso wie die übrigen Sachverständigen - zu Recht nicht zur Frage eines eingeschränkten Riechvermögens und einer behinderten Nasenatmung geäußert, weil eine Stellungnahme außerhalb des eigenen Fachgebiets erfolgt wäre.

Soweit der von der Beklagten gehörte neurologische Sachverständige Y. die wiederkehrenden Kopfschmerzen als unfallunabhängige Migräne und arzneimittelinduzierten Kopfschmerz eingeordnet hat, folgt die Kammer dem nicht. O. hat insoweit zu Recht darauf hingewiesen, dass die Klägerin ein langjähriges kopfschmerzfreies Intervall hatte und auch nicht häufig Tabletten einnimmt. Auch liegen zur Überzeugung der Kammer und entgegen der Auffassung des Y. unfallbedingte leichte kognitive Beeinträchtigungen vor. O. weist insoweit darauf hin, dass die Klägerin vor dem Unfall den Anforderungen ihrer Berufsausbildung im durchschnittlichen Umfang entsprechen konnte, ihre Leistungen allerdings danach deutlich abfielen und die Klägerin nur noch ein Berufsziel mit geringeren Anforderungen verfolgen konnte. Die Beurteilung des Sachverständigen erscheint der Kammer vor dem Hintergrund der von der Klägerin erlittenen Gehirnblutung im Frontallappen naheliegend. Demgegenüber hat Y. die Frage einer unfallbedingten kognitiven Leistungsminderung nicht erörtert, sondern ohne nähere Auseinandersetzung eine "infantile, einfach strukturierte Persönlichkeit" der Klägerin angenommen. Dies wird nach Überzeugung der Kammer den Beeinträchtigungen der Klägerin nach dem erlittenen schweren Schädel-Hirn-Trauma nicht gerecht.

II.

Die bei der Klägerin durch den Unfall vom 13.02.1998 verursachten Gesundheitsbeeinträchtigungen bedingen auch ab dem 13.02.2001 eine MdE von 30%.

Die Beklagte hat diese zu Unrecht lediglich mit 20% bemessen. Die Kammer folgt insoweit nicht den Vorschlägen der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gehörten Sachverständigen.

Die MdE ist eine entsprechend § 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII durch Schätzung vorzunehmende Festlegung des konkreten Umfanges der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Sie ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSG, Urteile vom 23.04.1987 - 2 RU 42/86 - und vom 27.06.2000 - B 2 U 14/99 R -, jeweils mwN). Hierzu ist neben der Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten die Anwendung medizinischer sowie sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens erforderlich. Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis über den Umfang der dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben zwar keine verbindliche Wirkung; sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind.

Folgen des Unfalls der Klägerin vom 13.02.1998 sind Doppelbildwahrnehmungen beim Blick nach unten und nach links, verschiedene Gesichtsdeformierungen, insbesondere in Form einer sog Sattelnase, ein eingeschränktes Riechvermögen rechts mehr als links, eine leicht behinderte Nasenatmung mit Schnarchneigung, leichte kognitive Einschränkungen und wiederkehrende rechtsseitige Kopfschmerzen.

Die Fachliteratur bewertet

- Doppelbildwahrnehmungen mit einer MdE von 20% (Mehrhoff/Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung, 12. Auflage, 144);

- eine einfache Entstellung des Gesichts, kosmetisch nur wenig störend, mit einer MdE 10 bis 15%; eine Sattelnase mit Entstellung des Gesichts mit einer MdE von 10 bis 30% (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl, 252; Mehrhoff/Meindl/Muhr, aaO, 142, 153);

- eine behinderte Nasenatmung durch Verengung der Nasengänge mit 10 bis 20% (Mehrhoff/Meindl/Muhr, aaO, 153);

- einen Verlust der Geruchsempfindung mit einer MdE von 10% (Mehrhoff/Meindl/ Muhr, aaO, 142, 153);

- hirnschadensbedingte Leistungsbeeinträchtigungen geringen Grades allgemein mit einer MdE von 10 bis 20% (Mehrhoff/Meindl/Muhr, aaO, 142; Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, 186), Hirnschäden mit leichten kognitiven Leistungsstörungen mit einer MdE bis 30% (Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, 186).

Die Auswirkungen des Doppelbildsehens sind - da diese Beeinträchtigung nur bei bestimmten Blickrichtungen auftritt - leichteren Grades; die Kammer bemisst diese mit einer MdE von 15%.

Die Deformationen im Gesicht der Klägerin, vor allem im Bereich der Nase, sind auch für den medizinischen Laien sichtbar. Das Gericht sieht jedoch die Klägerin nicht in erheblichem Maß als entstellt an. Sie beeinträchtigen die Erwerbschancen der Klägerin, sind jedoch aus Sicht der Kammer nicht abstoßend, so dass ihre Einsatzmöglichkeiten nicht aufgrund ihrer Entstellung in sehr erheblichem Umfang reduziert sind. Dem Gericht erscheint deshalb insoweit eine MdE von 10% befundentsprechend.

Unter Einbeziehung der nur leicht und einseitig behinderten Nasenatmung und eines nur teilweise aufgehobenen Geruchssinns, die nach Ansicht der Kammer insgesamt mit einer MdE von 10% zu berücksichtigen sind, sowie der leichtgradigen kognitiven Leistungsbeeinträchtigungen, die ebenfalls eine MdE von 10% bedingen, erachtet das Gericht in der Gesamtschau aller unfallbedingten Beeinträchtigungen eine Gesamt-MdE von 30% für angemessen.

Diese Einschätzung entspricht - auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass weitere Unfallfolgen zu berücksichtigen sind - dem Vorschlag der Sachverständigen J. und K. für die ersten drei Jahre nach dem Unfall der Klägerin.

Den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gehörten Sachverständigen und der Beklagten, die dem Vorschlag der Sachverständigen stets ohne erkennbare Ventilation gefolgt ist, ist jedoch nicht darin zu folgen, wenn sie die MdE unter Hinweis mit Vollendung des dritten Jahres nach dem Unfall unter Hinweis auf eine in keiner Weise näher dargelegte "Anpassung und Gewöhnung" auf 20% herabgesetzt haben. Davon abgesehen, dass hier weitere Unfallfolgen in die Einschätzung der MdE einzubeziehen sind, vermag eine allein an den Termin gemäß § 62 Abs 2 Satz 1 SGB VII (drei Jahre nach dem Versicherungsfall) angelehnte Herabsetzung nicht zu überzeugen.

Die regelhafte Entscheidung über eine Rente als vorläufige Entschädigung und - spätestens nach Ablauf von drei Jahren - auf unbestimmte Zeit trägt der Erfahrung Rechnung, dass sich in der ersten Zeit nach einem Versicherungsfall dessen gesundheitliche Folgen und deren Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zumeist noch nicht stabilisiert haben. Die Folgen des Versicherungsfalls unterliegen häufig noch allmählich oder auch kurzfristig eintretenden Veränderungen (BSG Urteil vom 16.03.2010 - B 2 U 2/09 R [Rn 18] mwN). Anpassung und Gewöhnung an die Folgen eines Versicherungsfalls, etwa durch Entwicklung von Ausgleichsfunktionen und durch das Erlernen des Umgangs mit verletzten Gliedmaßen, führen des Öfteren zu einer Besserung. Nicht selten verändert sich die unfallbedingte MdE in den ersten Jahren wechselhaft oder nimmt auch zu (BSG aaO mwN).

Diese Erwägungen erklären jedoch letztlich nur die gesetzgeberische Motivation einer regelhaft vorläufigen, weil prognostischen ersten Rentenentscheidung. Wird hingegen eine Rente auf unbestimmte Zeit mehr als drei Jahre nach dem Versicherungsfall rückwirkend festgestellt, entfällt die prognosebedingte Unsicherheit der weiteren Entwicklung der Unfallfolgen. Entsprechend ist der Versicherungsträger unter diesen Rahmenbedingungen nicht berechtigt - und hierin irren die im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gehörten Sachverständigen und die Beklagte -, die MdE zum Ablauf der Dreijahresfrist pauschal unter Hinweis auf eine in keiner Weise durch medizinische Tatsachen belegte Anpassung und Gewöhnung herabzusetzen. Zwar darf bei einer rückwirkenden Erstfeststellung die MdE unabhängig von den besonderen Voraussetzungen für eine Rentenänderung (§ 73 Abs 3, 74 Abs 1 Satz 1 SGB VII) zeitlich gestaffelt werden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 62 SGB VII Rn 3.2 mwN). Entsprechend ist auch nicht relevant, dass § 62 Abs 2 Satz 2 SGB VII die Behörde nach vorheriger Bewilligung einer vorläufigen Rente für die Entscheidung über eine Rente auf unbestimmte Zeit (= für die weitere Zukunft) von den bereits angeführten besonderen Voraussetzungen für eine Rentenänderung enthebt.

Folglich dürfen bei einer erstmalig rückwirkenden Feststellung der MdE nur medizinische Tatsachen Anknüpfungspunkt für die Abstufung der MdE sein, die die Erwerbsfähigkeit beeinflussen. Eine medizinisch relevante Besserung der Erwerbsfähigkeit am 13.02.2001 haben jedoch weder die Sachverständigen noch die Beklagte angeführt, noch ist dies für diesen Zeitpunkt noch für einen anderen Zeitpunkt sonst ersichtlich.

Das Gericht fühlt sich auch nicht gedrängt zu ermitteln, ob sich der Gesundheitszustand der Klägerin im Februar 2001 gebessert hat. Eine solche Anpassung und Gewöhnung ist weder den eingeholten Gutachten noch anderen medizinischen Unterlagen zu entnehmen. Die Klägerin befand sich zum fraglichen Zeitpunkt in der Schlussphase ihrer Berufsausbildung; die letzte stationäre Behandlung lag rund ein Jahr zurück. Zudem können Blicke nach unten und zur Seite allenfalls sehr eingeschränkt vermieden werden. Auch kann die Klägerin das Doppelbildsehen - wie auch dem augenärztlichen Gutachten zu entnehmen ist - durch ihre Sehhilfe nicht ohne andere Nachteile kompensieren. Schließlich können auch die Gesichtsdeformationen einschließlich der Beeinträchtigung bei der Atmung und der Geruchswahrnehmung nicht überdeckt bzw kompensiert oder durch Hilfsmittel ausgeglichen werden, so dass auch insoweit eine Besserung der Erwerbschancen durch Anpassung und Gewöhnung fernliegt.

III.

Der in dem angefochtenen Bescheid festgestellte Jahresarbeitsverdienst (JAV) ist zwar auch unter Berücksichtigung der Anpassungsvorschriften gemäß § 90 SGB VII für den gesamten Zeitraum unzutreffend ermittelt, er weicht jedoch nicht zum Nachteil der Klägerin ab. Letzteres kompensiert auch die gleichfalls unzutreffende, weil weitestgehend nicht mit den Berechnungsgrundsätzen des § 187 Abs 4 SGB VII zu vereinbarende Berechnung der Verletztenrente für die Zeiträume bis zum 30.06.2000.

Die einzig nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) denkbare Korrektur scheidet aus, weil die diesbezüglichen Voraussetzungen ersichtlich nicht erfüllt sind. Die Beklagte kann daher der erforderlichen Neuberechnung der Verletztenrente ab 13.02.2001 den von ihr festgestellten JAV zugrunde legen.

Die Kammer stellt - höchst vorsorglich zur Vermeidung unnötiger weiterer Verfahren - anheim, im Rahmen der erforderlichen Bescheidung auch über die Verzinsung aller bereits geleisteten und noch zu leistenden Nachzahlungsbeträge sowie über den nach Aktenlage bestehenden Anspruch auf Entschädigung für Kleider-/Wäsche-Mehrverschleiß zu entscheiden, soweit dies zwischenzeitlich noch nicht erfolgt sein sollte, da es sich hierbei um von Amts wegen festzustellende Leistungen handelt.

Es wäre sehr zu wünschen, dass die Beklagte ihrem gesetzlichen Auftrag nun sehr kurzfristig nachkommen würde, weil die Klägerin bekanntermaßen mit äußerst ungünstiger Prognose erkrankt ist.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Die Beklagte hat die gesamten notwendigen Kosten der Klägerin zu tragen, da sie nur in sehr geringem Umfang in ihrem Klagebegehren ohne Erfolg geblieben ist (Rechtsgedanke des § 92 Abs 2 Satz 1 Zivilprozessordnung). Die hinsichtlich der Höhe der Verletztenrente unbeschränkte Antragstellung ist Ausdruck der notwendigen anwaltlichen Vorsicht. Im Übrigen hat die Beklagte durch eine in erheblichem Maße diskutable Sachbearbeitung wesentlichen Anlass für das Klageverfahren gegeben.