Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 27.06.2012, Az.: S 11 U 13/11

Gewährung einer Dauerrente anstelle einer Rente auf unbestimmte Zeit nach einem Arbeitsunfall

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
27.06.2012
Aktenzeichen
S 11 U 13/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 35331
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHILDE:2012:0627.S11U13.11.0A

Tenor:

  1. 1.

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.

    Der Beklagte hat dem Kläger zwei Drittel seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Der Kläger erstrebt nach einem Arbeitsunfall eine Dauerrente anstelle einer Rente auf unbestimmte Zeit.

Der 1984 geborene Kläger begann im August 2006 bei einem nicht tarifgebundenen Industriemechanikunternehmen in Bad Lauterberg eine Ausbildung zum Konstruktionsmechaniker. Neben seiner Ausbildungsvergütung, die Urlaubs- und Weihnachtsgeld umfasste, erhielt er keinen arbeitgeberseitigen Zuschuss zu einem Sparvertrag nach dem Vermögensbildungsgesetz ausgezahlt, weil er einen solchen nicht abgeschlossen hatte.

Am 26.05.2007 (Pfingstsamstag) besuchte er außerhalb seiner Arbeitszeit das Schützenfest in H ... Gegen 23.30 Uhr wollte der sich bereits auf dem Heimweg befindliche Kläger eine körperliche Auseinandersetzung zwischen mehreren, in Gruppen aufeinander treffenden Jugendlichen mit Migrationshintergrund schlichten, um einem beteiligten Freund beizustehen. Dabei wurde er von einer an der Auseinandersetzung beteiligten Person von hinten angehoben und auf den Boden geschleudert. Der Kläger erlitt dabei ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades mit Schädelbasisfraktur und mehreren Gehirnblutungen. Er ist seither in erheblichem Umfang pflegebedürftig und wird von seinem Vater als Betreuer vertreten.

Eine Fortführung der Berufsausbildung war ihm wegen der schweren Unfallfolgen nicht möglich. Ab dem 28.04.2008 absolvierte der Kläger eine Berufsbildungsmaßnahme. Mit Bescheid der I. wurde dem Kläger für die Dauer der Teilhabeleistung Übergangsgeld zuerkannt, nach Anrechnung der ab Dezember 2007 zuerkannten Rente wegen voller Erwerbsminderung erfolgte jedoch keine Auszahlung von Übergangsgeld. Im Anschluss an das Strafurteil des Amtsgerichts H. vom 04.03.2009 3a Ls 25 Js 21100/07 (24/08) erkannte der Beklagte im Mai 2009 im Rahmen des beim Sozialgericht J. anhängigen Klageverfahrens, Az S 21 U 38/08, einen Arbeitsunfall dem Grunde nach unter Aufhebung seiner früheren gegenteiligen Entscheidungen an. Die Abschlussprüfung zum Konstruktionsmechaniker, an der der Kläger bei Fortführung seiner Ausbildung teilgenommen hätte, fand am 25.01.2010 statt.

Der Tarifvertrag für den Tarifbezirk K. und L. sah für einen Konstruktionsmechaniker am 26.01.2010 einen Jahresbruttolohn von 23.175,12 EUR, ein jährliches Urlaubsgeld von 1.351,88 EUR, ein jährliches Weihnachtsgeld von 965,63 EUR und jährliche vermögenswirksame Leistungen von 319,20 EUR, jedoch keine Entgeltsteigerungen nach Lebens- oder Berufsjahren vor.

Nach Ermittlung der Unfallfolgen erkannte der Beklagte dem Kläger mit dem an seinen Vater als gerichtlich bestellten Betreuer seines Sohnes gerichteten Bescheid vom 08.07.2010 eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit ab 28.04.2008 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100% zu, die er zunächst nach dem anfänglichen (Mindest-)Jahresarbeitsverdienst von 17.640,- EUR errechnete. Hiergegen erhob der anwaltlich vertretene Kläger Widerspruch. Ihm müsse anstelle der lediglich bewilligten Rente auf unbestimmte Zeit eine Rente auf Dauer bewilligt werden, weil eine Besserung seines Gesundheitszustandes ausgeschlossen sei.

Auch sei nicht nachvollziehbar, warum die Verletztenrente erst ab dem 28.04.2008 bewilligt worden sei, nachdem er seinen Unfall bereits am 26.05.2007 erlitten hab.e

.Eine Anfrage des Beklagten bei der früheren Arbeitgeberin des Klägers nach der Höhe des tariflichen Erwerbslohnes, den der Kläger nach Abschluss der Ausbildung hätte beanspruchen können, blieb auch auf mehrere Erinnerungen zunächst unbeantwortet. Mit Bescheid vom 26.01.2011 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Hiergegen richtet sich die Klage.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Beklagten unter Abänderung seines Bescheides vom 08.07.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.01.2011 zu verurteilen, ihm eine Dauerrente anstelle der gewährten Rente auf unbestimmte Zeit in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält ihre Entscheidung für richtig. Hinsichtlich des Berechnungsweges des Jahresarbeitsverdienstes beruft sie sich auf Abschnitt 3.2.3.1 des "Grundsatzpapiers zur Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes nach voraussichtlicher Schul- oder Berufsausbildung nach den §§ 90 Abs. 1 und 91 SGB VII" (Rdschr des Bundesverbandes der Unfallkassen Nr. 170/2006 vom 27.06.2006 - B1 - 402.4 -; im Folgenden abgekürzt: Grundsatzpapier zu § 90 SGB VII). Mit Bescheid vom 19.04.2011 hat der Beklagte nach Anfrage bei der Industriegewerkschaft Metall zur Höhe des Tariflohnes dem Kläger ab 01.02.2010 eine auf Grundlage eines - unter Außerachtlassung des tariflichen Anspruchs auf vermögenswirksame Leistungen ermittelten - Jahresarbeitsverdienstes von 25.492,63 EUR errechnete höhere Verletztenrente zuerkannt.

Nach Hinweis des Gerichts hat der Beklagte dem Kläger mit weiterem Bescheid vom 02.04.2012 die erhöhte Verletztenrente bereits ab 26.01.2010 zuerkannt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 08.07.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.01.2011 und der Änderungsbescheide vom 19.04.2011 und 02.04.2012 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

1. Formelle Mängel des Bescheides sind nicht ersichtlich. Der angefochtene Bescheid wurde insbesondere wirksam bekannt gegeben. Die Bekanntgabe des Bescheides an den unter gleicher Adresse lebenden bestellten Betreuer des Klägers lag gemäß § 37 Abs. 1 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) im Ermessen der Beklagten. Die Benennung des Betreuers im Adressfeld ist nicht dahingehend zu interpretieren, dass ihm die Rente zuerkannt wird. Es ergibt sich unschwer aus den Ausführungen des Bescheides, dass die Rente dem Kläger zuerkannt wird.

2. Der Bescheid der Beklagten ist jedoch auch in materieller Hinsicht nicht zu beanstanden. a) Für die Zuerkennung einer "Dauerrente" enthält das Gesetz keine Grundlage. Die dem Kläger zuerkannte Rente auf unbestimmte Zeit (§ 62 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VII]) ist - wie im Widerspruchsbescheid bereits hinreichend dargelegt wird - eine "Rente auf Dauer". Eine auf unbestimmte Zeit zuerkannte Rente kann nur unter den Voraussetzungen der §§ 44 ff. Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) geändert werden. Eine über eine Rente auf unbestimmte Zeit hinausgehende Rentenentscheidung sieht das SGB VII nicht vor. Der in der mit Ablauf des 31.12.1996 in weiten Teilen außer Kraft getretenen Reichsversicherungsordnung (RVO) gebräuchliche Begriff der Dauerrente ist in das zum 01.01.1997 in Kraft getretene SGB VII nicht übernommen worden. An seine Stelle ist der Begriff der Rente auf unbestimmte Zeit getreten; eine inhaltliche Änderung lag hierin allerdings nicht. Dies ergibt sich bereits unmittelbar aus dem Gesetz. Die §§ 1585 Abs. 2 Satz 1, 622 Abs. 2 Satz 1 und 2 RVO bestimmten, dass spätestens mit Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall die Dauerrente festzustellen ist und eine Dauerrente nur in Abständen von mindestens einem Jahr geändert werden kann. Dies entspricht dem Inhalt der §§ 62 Abs. 2, 74 Abs. 1 Satz 1 SGB VII; das Gesetz spricht nur - statt von einer Dauerrente - von einer Rente auf unbestimmte Zeit. Der Begriff der Dauerrente findet sich an keiner Stelle des SGB VII mehr. b) Der Rentenbeginn am 28.04.2008 ist ebenfalls zutreffend. Der Bezug von Übergangsgeld beendet den Verletztengeldbezug (§ 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VII); hieraus ergibt sich der Beginn der Rentenzahlung (§ 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII). c) Der Beklagte hat schließlich auch den Jahresarbeitsverdienst (JAV) zutreffend ermittelt. Insbesondere hat er diesen - im Verlauf des Klageverfahrens auch zeitlich -zutreffend unter Einbeziehung des laufenden Arbeitslohnes und der Einmalzahlungen, jedoch unter Außerachtlassung des tariflichen Anspruchs auf vermögenswirksame Leistungen errechnet. Gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Variante 2 SGB VII wird, wenn der Versicherungsfall während einer Schul- oder Berufsausbildung der Versicherten eintritt und es für den Versicherten günstiger ist, der JAV von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre. Nach Satz 2 Halbsatz 1 der Vorschrift wird der Neufestsetzung das Arbeitsentgelt zugrunde gelegt, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarifvertrag vorgesehen ist. Der Versicherte wird durch § 90 Abs. 1 SGB VII so gestellt, also ob er den Versicherungsfall erst nach Beendigung seiner Berufsausbildung und damit mit einem höheren Verdienst erlitten hätte (Bundessozialgericht [BSG] Urteil vom 17.12.1975 2 RU 13/74 [zit nach [...], Rn 26]; Hessisches Landessozialgericht [LSG] Urteil vom 26.04.2000 - L 3 U 1029/99 [zit nach [...], Rn 17]; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 31.03.2011 - L 15 U 137/09; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 19.01.2012 - L 2 U 212/06; Rütenik in: jurisPK-SGB VII [2009], § 90 Rn 46). Die Rechtsprechung hat allerdings - zu Recht - darauf hingewiesen, dass es nicht zu einer Verlagerung des Versicherungsfalls kommt. Entsprechend bleiben danach die für die Ermittlung des JAV relevanten persönlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls maßgeblich (Hessisches LSG a.a.O.). Aus diesem Grund hat die Rechtsprechung den Familienstand und die Anzahl der Kinder zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls zugrunde gelegt, soweit hiervon die Höhe des erzielbaren Entgelts abhing (Hessisches LSG a.a.O.). Zu den persönlichen Verhältnissen in diesem Sinne gehört auch die Tatsache, ob der Versicherte zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls einen nach dem Vermögensbildungsgesetz geförderten Sparvertrag abgeschlossen hatte. Die Rechtsprechung hat sich mit dieser Frage - soweit ersichtlich - bislang nicht ausdrücklich befasst. Soweit in den wenigen erreichbaren Gerichtsentscheidungen bei der Neuberechnung des JAV jeweils vermögenswirksame Leistungen eingerechnet wurden, ist den Tatbeständen dieser Entscheidungen nicht zu entnehmen, ob die Versicherten jeweils entsprechende Sparverträge abgeschlossen hatten (vgl LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.08.2008 - L 3 U 37/04; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 31.03.2011 - L 15 U 137/09; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 17.06.2011 L 14 U 108/10). Die Kammer macht sich jedoch den der Entscheidung des Hessischen LSG (a.a.O.) zugrunde liegenden Rechtsgedanken zu eigen. Das LSG hat zutreffend herausgearbeitet, dass nicht der Versicherungsfall in die Zukunft verlagert wird, sondern der Gesetzgeber lediglich den Sachverhalten Rechnung tragen wollte, in denen die Erwerbsaussichten durch einen in "jungen Jahren" erlittenen Versicherungsfall über Gebühr beeinträchtigt werden würden, wenn einer Verletztenrente allein der vor dem Versicherungsfall erzielte Verdienst zugrunde gelegt werden würde (vgl § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Jedoch gebietet es dieser Zweck des § 90 Abs. 1 SGB VII nicht, der Neufestsetzung des JAV den nach dem maßgeblichen Tarifvertrag erzielbaren Maximalverdienst unter Außerachtlassung aller zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls vorliegenden Tatsachen zugrunde zu legen. Die Kammer hält es zwar für denkbar, dass Versicherte während ihrer Ausbildungszeit auch vor dem Hintergrund der noch geringeren Höhe ihrer Ausbildungsvergütung möglicherweise eher vom Abschluss eines Sparvertrages absehen könnten. Andererseits lässt sich aus ihrer Sicht aber auch kein Umkehrschluss dergestalt ziehen, dass Versicherte, die zuvor keinen Sparvertrag hatten, zumindest in größerer Zahl nach Abschluss ihrer Berufsausbildung und Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zeitnah einen geförderten Sparvertrag abschließen. Vielmehr dürfte der Abschluss eines Sparvertrages von einer Vielzahl individueller Faktoren abhängen, insbesondere von der jeweiligen Lebenssituation und -planung, den persönlichen finanziellen Rahmenbedingungen, der Höhe des Erwerbseinkommens sowie der arbeitgeberseitigen und staatlichen Förderung. Damit bliebe die für die Berücksichtigung arbeitgeberseitiger Zuschüsse im Rahmen des JAV notwendige Existenz eines entsprechenden Sparvertrages aber letztlich spekulativ. Entsprechend würde nicht mehr - wie vom Gesetzgeber bezweckt - der tarifübliche Verdienst nach Abschluss einer bereits begonnenen Ausbildung, sondern es würde - wesentlich weiter gehend - eine nicht einmal in Grundzügen angelegte Tatsachenänderung unterstellt. Aus den dargelegten Gründen vermag auch die in dem von der Beklagten angeführten Grundsatzpapier zu § 90 SGB VII vertretene - auch unter den Sitzungsteilnehmern nicht konsensfähige - Rechtsauffassung nicht zu überzeugen, eventuelle tarifvertraglich geregelte Zuschüsse hätten generell außer Betracht zu bleiben, da der Vertragsabschluss nicht zwingend sei und die tatsächlichen Verhältnisse nicht maßgebend seien. Da der Kläger zum Zeitpunkt seines Unfalls keinen geförderten Sparvertrag abgeschlossen hatte, hat der Beklagte den tarifvertraglich vorgesehenen Zuschuss zu Recht nicht berücksichtigt und den JAV schließlich zutreffend mit 25.492,63 EUR festgestellt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. In Ausübung des dem Gericht hierbei zustehenden Ermessens hat der Beklagte den überwiegenden Teil der Kosten des Klägers zu tragen. Zu Gunsten des Klägers wirkt sich aus, dass der Beklagte es bereits bei Erlass des Bescheides vom 08.07.2010 versäumt hat, die notwendige Erhöhung des JAV nach § 90 Abs. 1 SGB VII zu berücksichtigen, so dass bereits der Widerspruch hätte teilweise Erfolg haben müssen. Die zutreffende Höhe des JAV ist sodann erst ist im Verlauf des Klageverfahrens berücksichtigt worden; eine letzte Änderung ist dann nach gerichtlichem Hinweis erfolgt. Zu Lasten des Klägers war zu berücksichtigen, dass er trotz mehrfacher Hinweise ohne inhaltliche Auseinandersetzung seinen Antrag auf die im Gesetz nicht vorgesehene Dauerrente unverändert aufrecht erhalten hat. Da diesem Antrag jedoch von vorn herein keine wesentliche materielle Bedeutung zukommen konnte, erscheint es der Kammer angemessen, dass der Kläger ein Drittel seiner Kosten selbst trägt.