Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.02.2001, Az.: 4 M 4287/00
Behinderter; Betreuungseinrichtung; Bewährung; Bewährungsstrafe; Eingliederungshilfe; geistig Behinderter; psychiatrisches Krankenhaus; Sicherheitsvorkehrung; Sozialhilfe; stationäre Betreuung; Straftäter; Unterbringung zur Bewährung; Vollstreckungsaussetzung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 27.02.2001
- Aktenzeichen
- 4 M 4287/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2001, 40431
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 16.11.2000 - AZ: 13 B 3543/00
- nachfolgend
- OVG - AZ: 4 MB 847/01
Rechtsgrundlagen
- § 39 Abs 1 BSHG
- § 68 Abs 1 BSHG
- § 67g StGB
- § 63 StGB
- § 67e StGB
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Eingliederungshilfe für die beabsichtigte stationäre Betreuung eines geistig behinderten Täters, der in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht ist und die Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung erstrebt, kommt auch dann in Betracht, wenn die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung davon abhängig macht, dass zum Schutz der Allgemeinheit bestimmte Sicherheitsvorkehrungen in der Betreuungseinrichtung aufrechterhalten bleiben.
Gründe
Der Zulassungsantrag ist -- nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Hinblick auf die Versäumung der Antragsfrist (§ 60 VwGO) -- zulässig und begründet. Der Antragsteller stützt den Antrag zwar auf die Zulassungsgründe nach §§ 146 Abs. 4, 124 Abs. 2 Nr. 2, Nr. 3 und Nr. 4. Er macht damit sinngemäß aber auch ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses im Sinne von §§ 146 Abs. 4, 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend. Diese Zweifel bestehen aus den im Folgenden erörterten Gründen und begründen auch die Beschwerde des Antragstellers.
Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts besteht für das Begehren des Antragstellers, mit der Gewährung von Eingliederungshilfe zu erreichen, dass die Vollstreckung seiner Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt wird, ein Anordnungsgrund für den Erlass der einstweiligen Anordnung. Auch für den Senat steht zwar außer Frage, dass sich die Situation des Antragstellers im Hinblick auf die Betreuungsintensität und die getroffenen Sicherheitsvorkehrungen nach der Entlassung zur Bewährung -- jedenfalls vorerst -- nicht ändern wird. In dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts O. vom 20. April 2000 und in der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft O. vom 30. Januar 2001 wird festgehalten, dass die Betreuungsintensität und die Sicherheitsvorkehrungen derzeit nicht gelockert werden können. Die Strafvollstreckungskammer nimmt in dem genannten Beschluss aber auch an, dass diese Maßnahmen nach einer Entlassung aus der Unterbringung zur Bewährung weitergeführt werden können. Die weitere Vollstreckung hat sie nur deshalb nicht ausgesetzt, weil die Übernahme der Kosten für den Verbleib des Antragstellers in der Einrichtung nicht gewährleistet sei. Demnach ist zu erwarten, dass die Vollstreckung ausgesetzt wird, sobald der Antragsgegner die Kosten übernimmt. Der Senat sieht darin einen Anordnungsgrund für das Begehren des Antragstellers, ihm Eingliederungshilfe (und Hilfe zur Pflege) zu gewähren, obwohl sich nach einer derartigen Entscheidung die Betreuungsintensität und die Sicherheitsvorkehrungen für den Antragsteller nicht ändern werden. Der Antragsteller befürchtet, anderenfalls in das Landeskrankenhaus W. zurückverlegt zu werden. Dies ist nach einer Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung aber nur möglich, wenn die Aussetzung nach § 67 g StGB widerrufen wird. Die Voraussetzungen hierfür sind vom Antragsteller selbst zu beeinflussen. Demgegenüber ist sein jetziger Status des sog. Probewohnens im Rahmen der Vollstreckung vornehmlich davon abhängig, wer die Kosten für diese Betreuung übernimmt. Der Leitende Funktionsbereichsarzt im Niedersächsischen Landeskrankenhaus W. erwartet eine Rückverlegung des Antragstellers in das Landeskrankenhaus, falls ein Kostenträger für die jetzigen Maßnahmen nicht gefunden werden kann. Auch die für eine einstweilige Anordnung erforderliche Eilbedürftigkeit liegt damit vor, weil der Antragsteller sich sonst der dauernden Unsicherheit ausgesetzt sieht, ob ihm die jetzt erreichte Wohn- und Lebensform aus von ihm nicht beeinflussbaren Gründen der Kostenträgerschaft erhalten werden kann.
Dem Antragsteller steht ferner ein Anordnungsanspruch zu. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 39 Abs. 1 BSHG (und für ergänzende Hilfe zur Pflege nach § 68 Abs. 1 BSHG) durch Übernahme der in der Betreuungseinrichtung S. entstehenden Kosten liegen für die Zeit nach der zu erwartenden Aussetzung der Vollstreckung vor. Auch insofern ist entscheidend zu berücksichtigen, dass sich die jetzige Wohn- und Lebenslage des Antragstellers erheblich von der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus unterscheidet. Der leitende Funktionsbereichsarzt des Landeskrankenhauses W. erläutert hierzu in der ärztlichen Stellungnahme vom 30. November 2000: Für den Antragsteller sei in der Betreuungseinrichtung S. eine Wohn- und Lebensform gefunden worden, die Weiterentwicklungsmöglichkeiten biete, welche im Rahmen der Fortführung der stationären Behandlung nicht gegeben seien. Im Falle einer Rückverlegung sei ein therapeutischer Rückschritt und der Verlust der mittlerweile gewonnenen Selbständigkeit und sozialen Kompetenz zu erwarten. Diese Ausführungen machen hinreichend deutlich, dass entgegen der Annahme des Antragsgegners auch unter Beibehaltung der erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen eine dem Ziel der Eingliederungshilfe entsprechende Persönlichkeitsentwicklung des Antragstellers im Rahmen seines jetzigen Wohn- und Lebensumfeldes zu verzeichnen ist. Diese Persönlichkeitsentwicklung rechtfertigt es nach Ansicht der zuständigen Strafvollstreckungskammer, die Unterbringung des Antragstellers zur Bewährung auszusetzen. Auch eine Kostenübernahme im Rahmen der Eingliederungshilfe bzw. der Hilfe zur Pflege setzt an dieser Persönlichkeitsentwicklung des Antragsteller an. Eine Fortsetzung der Betreuung im Rahmen der jetzigen Wohn- und Lebenslage des Antragstellers lässt eine weitere Verbesserung im Hinblick auf die anzustrebende Eingliederung erwarten und rechtfertigt damit die Gewährung von Eingliederungshilfe. Dem steht nicht entgegen, dass es diese Fortschritte nach Auffassung der Strafvollstreckungskammer und der Staatsanwaltschaft bisher noch nicht erlauben, die zum Schutz der Allgemeinheit erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen zu lockern. Die Aufrechterhaltung der Sicherheitsvorkehrungen könnte einem Anspruch auf Eingliederungshilfe nur entgegenstehen, wenn gleichzeitig eine Persönlichkeitsentwicklung im Hinblick auf eine fortschreitende Eingliederung nicht zu verzeichnen wäre, mit der Aufnahme in eine -- gesicherte -- Betreuungseinrichtung mithin nur ein Wechsel der Vollzugseinrichtung ohne qualitative Änderung verbunden wäre. Bei dem Antragsteller ist in der jetzigen Wohn- und Lebenslage aber ein Fortschritt der Eingliederung eingetreten und weiterhin zu erwarten, den es nach der genannten ärztlichen Stellungnahme bei einem weiteren Aufenthalt im psychiatrischen Krankenhaus nicht gegeben hätte.