Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.02.2001, Az.: 12 L 3959/00

Absetzungsbetrag; Anrechnung; Einkommen; Einkommensanrechnung; Einkommenseinsatz; Erwerbsersatzeinkommen; Erwerbstätige; Freibetrag; Hilfe zum Lebensunterhalt; Sozialhilfe; Verletztengeld

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
12.02.2001
Aktenzeichen
12 L 3959/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 40375
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 26.09.2000 - AZ: 2 A 2159/98

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bezieher von Verletztengeld (§§ 45 ff. SGB VII) sind keine Erwerbstätigen im Sinne des § 76 Abs. 2a Nr. 1 BSHG, sie haben keinen Anspruch auf Gewährung eines Absetzungsbetrages von dem Verletztengeld.

Tatbestand:

1

Die Klägerin begehrt -- im Berufungsverfahren -- die Berücksichtigung eines Absetzungsbetrages für Erwerbstätige bei der Berechnung ihres Anspruches auf Gewährung von ergänzender Hilfe zum Lebensunterhalt. (Soweit das Urteil des Verwaltungsgerichts im Hinblick auf die Rückforderung von Sozialhilfeleistungen rechtskräftig geworden ist, wird der Sachverhalt nicht nochmals wiedergegeben.)

2

Die Klägerin war ab 1. Juli 1995 als Verkäuferin in einer Bäckerei tätig. Am 7. März 1996 erlitt sie auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall und war deshalb bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig erkrankt. Nachdem sie zunächst für sechs Wochen Lohnfortzahlung erhalten hatte, wurde ihr mit Bescheid vom 21. März 1996 ab dem 18. April 1996 von ihrer Krankenkasse, der DAK U., im Auftrag der Berufsgenossenschaft ein kalendertägliches Verletztengeld in Höhe von 55,27 DM (abzüglich eines Beitragsanteils zur Rentenversicherung in Höhe von 5,31 DM und zur Pflegeversicherung in Höhe von 1,80 DM) gewährt. Über die Zahlung des Verletztengeldes setzte die Klägerin das Sozialamt der Stadt ... am 31. Mai 1996 in Kenntnis, worauf durch Bescheid vom 19. Juni 1996 ab April 1996 bei der Berechnung ihres Sozialhilfeanspruchs nicht mehr -- wie zuvor -- ein Absetzungsbetrag für Erwerbstätige gemäß § 76 Abs. 2a Nr. 1 BSHG in Höhe von monatlich 273,-- DM berücksichtigt wurde. Dies ließ die Klägerin zunächst unangefochten. Nachdem ihr die Stadt U. mit Bescheid vom 12. November 1996 ab Dezember 1996 aufgrund ihres den Bedarf übersteigenden Einkommens keinerlei Hilfe zum Lebensunterhalt mehr bewilligte, erhob die Klägerin unter dem 9. Dezember 1996 Widerspruch. Sie machte geltend, ihr Arbeitsverhältnis bestehe noch, obwohl sie zurzeit der Arbeit nicht nachgehen könne. Sie habe aufgrund ihrer Erkrankung höhere Aufwendungen. Wegen ihrer Krankheit habe sie erst bei der Einstellung der Sozialhilfe gemerkt, dass ein Absetzungsbetrag nicht mehr berücksichtigt werde. Sie bitte deshalb um Berücksichtigung des Absetzungsbetrages seit dem Zeitpunkt des Bezuges des Verletztengeldes.

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Der Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 24. Februar 1998 zurück. Zur Begründung führte er aus: Soweit sich der Widerspruch auf den Zeitraum von April bis November 1996 beziehe, sei er unzulässig, da die Klägerin nicht innerhalb der Monatsfrist des § 70 VwGO Widerspruch erhoben habe. Hinsichtlich des Zeitraumes ab Dezember 1996, also soweit der Bescheid vom 12. November 1996 angefochten werde, sei der Widerspruch zwar zulässig, aber unbegründet. Die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung eines Absetzungsbetrages lägen bei der Klägerin nicht vor, weil sie nicht erwerbstätig gewesen sei. Aufgrund des Wegeunfalls habe die Klägerin damals ihren Lebensunterhalt nicht mehr aus ihrer Tätigkeit als Verkäuferin bestreiten können, sondern stattdessen Verletztengeld bezogen. Der Freibetrag solle den mit der Eingliederung in das Arbeits- und Berufsleben verbundenen erhöhten Bedarf abdecken sowie durch den finanziellen Anreiz den Arbeits- und Selbsthilfewillen des Erwerbstätigen stärken. Er diene nicht dazu, den geltend gemachten erhöhten Bedarf aufgrund der Erkrankung zu finanzieren.

4

Der dagegen erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht teilweise stattgegeben. Es hat den Beklagten durch Urteil vom 26. September 2000 verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über die Gewährung eines Absetzungsbetrages für Erwerbstätige gemäß § 76 Abs. 2a Nr. 1 BSHG im Rahmen der Gewährung ergänzender Hilfe zum Lebensunterhalt an die Klägerin für den Zeitraum vom 1. Dezember 1996 bis zum 30. Juni 1997 neu zu entscheiden, und den Bescheid der Stadt U. vom 12. November 1996 sowie den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 24. Februar 1998 aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Verwaltungsgericht hat sein Urteil wie folgt begründet: Die Kammer sehe Arbeitnehmer (die ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt bezögen) auch während des Bezuges von Kranken- oder wie hier Verletztengeld, das als Lohnersatzleistung gezahlt werde, als erwerbstätig an. Aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 1994 -- BVerwG 5 C 32.91 -- (BVerwGE 96, 246), wonach Umschüler, die von der Bundesanstalt für Arbeit Unterhaltsgeld erhielten, keine Erwerbstätigen im Sinne des § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG F. 1987 sind, ergebe sich im Umkehrschluss, dass das Verletztengeld wie auch das Krankengeld als Lohnersatzleistung ein Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit sei, da es aufgrund eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses gewährt werde; eine solche Leistung werde nämlich aus einer Tätigkeit erzielt, die zu Erträgen zur Bestreitung des Lebensunterhalts führe. Keinen Erfolg habe die Klage allerdings, soweit die Klägerin die zwischen dem 19. Juni und dem 22. Oktober 1996 ergangenen Sozialhilfebescheide angreife, insoweit teile das Gericht die Rechtsauffassung des Beklagten, dass der Widerspruch unzulässig, weil verfristet sei.

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Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat durch Beschluss vom 17. November 2000 -- 12 L 3783/00 -- zugelassene Berufung des Beklagten, mit der er -- ebenfalls unter Berufung auf das zitierte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts -- geltend macht, das der Klägerin im streitigen Zeitraum gezahlte Verletztengeld habe keinen "wirtschaftlichen Entgeltcharakter", es sei kein "verdientes Einkommen". Ein Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2a Nr. 1 BSHG für Erwerbstätige sei nur dann berechtigt, wenn der Hilfeempfänger tatsächlich einer Erwerbstätigkeit nachgehe. Das Bundesverwaltungsgericht stelle dazu fest, dass "der Erwerbstätigenmehrbedarfszuschlag auch nur für den Personenkreis berechtigt (erscheine), der durch eigenes Erwerbseinkommen in der Lage sei, jedenfalls zu einem Teil für seine Lebensgrundlagen aus eigenen Kräften zu sorgen". Dies treffe bei dem Bezug von Unterhaltsgeld ebenso wenig zu wie bei dem Bezug von Verletztengeld.

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Der Beklagte beantragt,

7

das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

8

Die Klägerin hat sich im Berufungsverfahren zur Sache nicht geäußert.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, über die der Senat nach Anhörung der Beteiligten durch einstimmigen Beschluss gemäß § 130a Satz 1, 1. Alternative VwGO entscheidet, ist erfolgreich. Eine mündliche Verhandlung hält der Senat angesichts der ausschließlich zu entscheidenden Rechtsfrage nicht für erforderlich.

11

Der Bescheid der Stadt U. vom 12. November 1996 sowie der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 24. Februar 1998 sind auch insoweit rechtmäßig, als das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben hat. Nur darüber ist im Berufungsverfahren zu befinden, weil das Urteil des Verwaltungsgericht im Übrigen mangels Anfechtung auch durch die Klägerin rechtskräftig geworden ist.

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Der Klägerin steht für die Zeit vom 1. Dezember 1996 bis zum 30. Juni 1997, in der sie Verletztengeld nach §§ 560 ff. RVO bzw. (ab 1.1.1997) nach §§ 45 ff. SGB VII von der Krankenkasse im Auftrag der Berufsgenossenschaft bezogen hat, ein Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2a Nr 1 BSHG für Erwerbstätige nicht zu.

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Zutreffend geht allerdings das Verwaltungsgericht davon aus, dass sich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der früheren Regelung des Mehrbedarfs für Erwerbstätige (§ 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG F. 1987) ohne Weiteres auf die jetzt geltende Regelung des Absetzungsbetrages für Erwerbstätige (§ 76 Abs. 2a Nr. 1 BSHG) übertragen lasse. Denn der nach neuem Recht bei der Ermittlung des einzusetzenden Einkommens abzusetzende Freibetrag entspricht nach seinem Sinn und Zweck dem nach altem Recht bei der Ermittlung des sozialhilferechtlichen Bedarfs zu berücksichtigenden Mehrbedarf wegen Erwerbstätigkeit (Nds.OVG, Beschl. v. 24.7.1998 -- 4 L 3278/98 --, FEVS 49, 272). Auch der Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2a Nr. 1 BSHG wird ebenso wie früher der Mehrbedarf nach § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG a.F. nur für Erwerbstätige gewährt.

14

Zu Unrecht beruft sich das Verwaltungsgericht für seine Auffassung, Verletztengeld stelle als Lohnersatzleistung Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit dar, jedoch auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 1994 -- BVerwG 5 C 32.91 -- (BVerwGE 96, 246), wie der Beklagte zutreffend erkannt hat. Denn nach dieser Entscheidung ist als Erwerbstätiger jemand anzusehen, der "eine wirtschaftlich verwertbare Leistung gegen Entgelt erbringt, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen", und als Erwerbstätigkeit kann danach "nur eine Tätigkeit verstanden werden, die zu Erträgen zur Bestreitung des Lebensunterhalts führt". Es kommt danach darauf an, dass der Hilfeempfänger tatsächlich einer Erwerbstätigkeit nachgeht und durch eigenes Erwerbseinkommen in der Lage ist, jedenfalls zu einem Teil für seine Lebensgrundlage aus eigenen Kräften zu sorgen, damit der Absetzungsbetrag seinen Sinn und Zweck, einen pauschalierten Ausgleich für arbeitsbedingte Mehraufwendungen und zugleich einen Anreiz zur Stärkung des Arbeits- und Selbsthilfewillens zu bieten, erfüllen kann (BVerwG, aaO, S. 251). Erwerbsersatzeinkommen i.S. von § 18a Abs. 1 Nr. 2 SGB IV zählt hierzu nicht (BVerwG aaO S. 249, 250), auch wenn es aufgrund eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses erzielt wird. Unter Erwerbsersatzeinkommen fallen nach § 18a Abs. 3 Nr. 1 SGB IV u.a. sowohl das Unterhaltsgeld, mit dem sich die zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts befasst (früher §§ 44, 47 AFG, jetzt §§ 153 ff. SGB III) als auch das Übergangsgeld (früher §§ 56 Abs. 2.Nr. 1, 59 ff. AFG, jetzt §§ 160 ff. SGB III; vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 19.12.1995 -- 5 C 27.93, -- FEVS 46, 309), das Krankengeld (vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.9.1998 -- 7 S 913/98 --, FEVS 49, 414) und auch das Verletztengeld (früher §§ 560 ff. RVO, jetzt §§ 45 ff. SGB VII). Ein Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2a Nr. 1 BSHG wird hierfür nicht gewährt.

15

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2, 167 VwGO, 708 Nr. 11 ZPO.

16

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.