Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 13.03.1997, Az.: 14 U 12/96

Verpflichtung eines Motorradfahrers und dessen Haftpflichtversicherung zur Leistung von Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall; Mitverschulden eines Fahrradfahrers durch das Überqueren einer Bundesstraße in Kenntnis eines heran nahenden Motorrades; Vermeidbarkeit der Kollision eines Motorrades mit einem Fahrrad bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit; Auswirkungen der Erkennbarkeit seitlicher Reflektoren eines Fahrrades für den Motorradfahrer aufgrund einer diagonalen Fahrbahnüberquerung; Quotelung des Schadensersatzes bei sich gegenüber stehenden Geschwindigkeitsüberschreitungen sowie Missachtungen der Vorfahrt

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
13.03.1997
Aktenzeichen
14 U 12/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 24723
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1997:0313.14U12.96.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Osnabrück - 26.11.1996 - AZ: 2 O 346/95

Fundstelle

  • VersR 1999, 74-76 (Volltext mit red. LS)

In dem Rechtsstreit
...
hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
auf die mündliche Verhandlung vom 20.2.1997
unter Mitwirkung
der Richter am Oberlandesgericht ... , ... und ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 26.1.1996 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück geändert und wie folgt neu gefaßt:

Die Beklagten werden verurteilt, an den Kläger als Gesamtschuldner 217,- DM nebst 4% Zinsen seit dem 19.5.1995 zu zahlen.

Die Beklagten werden weiter verurteilt, an den Kläger als Gesamtschuldner ein Schmerzensgeld in Höhe von 20.000,- DM nebst 4% Zinsen seit dem 19.5.1995 zu zahlen.

Es wird festgestellt, daß die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger gesamtschuldnerisch sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden - letztere, soweit sie nach dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung entstehen - aus dem Unfall vom 20.9.1994 auf der ... Straße in ... zu 1/3 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen oder übergegangen sind.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen. Die Berufung des Klägers und die weitergehende Berufung der Beklagten werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 7/10 und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 3/10.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger bleibt nachgelassen, die Vollstreckung der Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 12.000,- DM abzuwenden, wenn nicht die Beklagten zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Der Wert der Beschwer der Beklagten übersteigt nicht 60.000,- DM, der des Klägers übersteigt 60.000,- DM..

Tatbestand

1

Die Parteien streiten um die Verpflichtung der Beklagten zur Leistung von Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall.

2

Am 20.9.1994 gegen 5.36 Uhr war der jetzt 61 Jahre alte Kläger noch bei Dunkelheit damit beschäftigt, Zeitungen auszutragen. Nachdem er das in Fahrtrichtung O... gesehen an der linken Straßenseite der Bundesstraße 51 befindliche Grundstück O...er Straße 9 beliefert hatte, beabsichtigte er, mit seinem Fahrrad die Bundesstraße zu überqueren, um sodann am rechten Fahrbahnrand weiter in Richtung O... zu fahren. In gleicher Fahrtrichtung näherte sich aus Richtung ... kommend und in Richtung O... fahrend der Beklagte zu 1 ) mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Motorrad BMW K 1100 RS mit dem amtlichen Kennzeichen ... . Etwa in Fahrbahnmitte kam es zum Zusammenprall zwischen Motorrad und Fahrrad, wodurch beide Fahrzeuge Totalschäden erlitten und sowohl der Kläger als auch der Beklagte zu 1) lebensgefährlich verletzt wurden.

3

Der Kläger hat gemeint, der Beklagte zu 1) habe den Unfall allein verschuldet, so daß er wenigstens 70% seiner ihm unfallbedingt entstandenen Schäden ersetzt verlangen könne. Denn er sei mit weit überhöhter Geschwindigkeit von mindestens 150 bis 160 km /h gefahren. Noch die Kollisionsgeschwindigkeit habe zwischen 129 und 153 km/h gelegen. Deshalb habe er das herannahende Motorrad vor dem Beginn der Fahrbahnüberquerung nicht sehen können. Hätte der Beklagte zu 1) die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h eingehalten, so hätte er den Unfall vermeiden können.

4

Er habe sein Fahrrad ordnungsgemäß beleuchtet gehabt. Auch sei es mit seitlichen Strahlern ausgerüstet gewesen.

5

Unfallbedingt sei ihm sowohl sein Fahrzeug als auch seine Kleidung zerstört worden. Insoweit errechnet der Kläger seinen Schaden auf 1.511,20 DM. Darüber hinaus habe er schwere Verletzungen erlitten. Er habe ein Schädelhirntrauma 3. Grades mit Kontusionsblutung, ein Thoraxtrauma mit Frakturen der 7. und 8. Rippe rechts, eine Lungenkontusion sowie einen Pneumothorax rechts, diverse Beckenfrakturen mit Symhesensprengung und Blaseneröffnung, eine disloziierte Schambeinfraktur rechts sowie eine Ileosakralfugensprengung links, eine Innenband- und vordere Kreuzbandruptur links, einen Innenmeniskushinterhofhornabriß, einen Abriß der Rotatorenmanschette links und eine gravierende Verschlechterung eines Impingement- Syndroms rechts erlitten. Unfallbedingt sei er impotent geworden.

6

Vom 20.9. bis 14.10.1994 habe er sich auf der Intensivstation und bis zum 23.12.1994 in stationärer Krankenhausbehandlung befunden. Er sei mehrfach operiert worden und habe sich am 26.6.1995 erneut in stationäre Krankenhausbehandlung begeben müssen.

7

Er sei immer noch nicht vollständig genesen und leide unter täglichen Stirnkopfschmerzen sowie unter Kurzzeitgedächtnisstörungen. Schmerzen strahlten vom unteren Nacken bis zum rechten Ohr aus. Der linke Arm sei nicht mehr anhebbar und im Bereich der rechten Schulter sowie in beiden Hüftgelenken habe er deutliche Schmerzen. Er könne allenfalls noch 300 m weit gehen und Treppenstufen nur unter erheblichen Beeinträchtigungen bewältigen. Er sei bis auf weiteres zu 100% erwerbsunfähig.

8

Der Kläger hat unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 70% ein Schmerzensgeld von 70.000,- DM für angemessen gehalten.

9

Der Kläger hat beantragt,

  1. 1.

    die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 1.057,84 DM nebst 4% Zinsen seit dem 19.5.1995 zu zahlen,

  2. 2.

    die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an ihn ein angemessenes, der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld für den Zeitraum bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nebst 4% Zinsen seit dem 19.5.1995 zu zahlen,

  3. 3.

    festzustellen, daß die Beklagten verpflichtet sind, gesamtschuldnerisch ihm sämtliche materiellen und immateriellen Schäden - letztere, soweit sie nach dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung entstehen - aus dem Unfall vom 20.9.1994 auf der ... Straße in ... zu bezahlen, soweit die Ansprüche nicht an Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

10

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

11

Sie haben gemeint, der Kläger habe den Unfall allein verursacht und dazu behauptet, der Beklagte zu 1) sei nur mit 80 km/h gefahren. Der Kläger habe die Ausfahrt des Grundstücks ... Straße nach links verlassen, sei also einige Zeit auf der falschen Fahrbahn gefahren und sodann unmittelbar vor ihm nach rechts auf die Bundesstraße gefahren. Er - der Beklagte zu 1) - habe den Kläger vor dem Unfall nicht erkennen können, zumal die Fahrradbeleuchtung nicht in seine Richtung geleuchtet habe. Er habe deshalb keine Chance gehabt, den Unfall zu vermeiden.

12

Die Fahrbahn sei aus seiner Richtung für den Kläger auf mindestens 250 m einsehbar gewesen, so daß der Kläger ihn ohne weitere hätte erkennen können, zumal an seinem Motorrad das Fernlicht eingeschaltet gewesen sei.

13

Das Landgericht hat durch Vernehmung eines Zeugen Beweis erhoben und die Beklagten mit seinem hiermit in Bezug genommenen Urteil vom 26.1.1996 zur Zahlung von 325,- DM und eines Schmerzensgeldes von 25.000,- DM verurteilt und den Feststellungsantrag zur Hälfte für begründet erklärt. Zur Begründung hat es ausgeführt, es stehe fest, daß der Beklagte zu 1) die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten habe. Ausweislich des Gutachtens des Sachverständigen D..., der vorprozessual für die Haftpflichtversicherung des Arbeitgebers des Klägers ein Gutachten erstattet habe, habe die Kollisionsgeschwindigkeit mindestens 129 km/h betragen. Dieses Gutachten sei überzeugend und nachvollziehbar. Angesichts der herrschenden Dunkelheit habe er aber nicht mit mehr als 80 bis 90 km/h fahren dürfen. Bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von nur 100 km/h sei der Unfall aber schon vermeidbar gewesen.

14

Das von den Beklagten vorgelegte Gutachten des Sachverständigen H... rechtfertige die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nicht, zumal auch dieser Sachverständige zu einer Mindestgeschwindigkeit des Beklagten zu 1) von 114 km/h gekommen sei.

15

Aber auch der Kläger habe den Unfall mit verursacht. Der Beklagte zu 1) sei ausweislich des Gutachtens des Sachverständigen D... nur noch maximal 186 m vom Kläger entfernt gewesen, als dieser auf die Fahrbahn gekommen sei. Der Kläger habe deshalb schuldhaft gegen § 10 StVO verstoßen.

16

Die Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge ergebe einen Haftungsanteil von 50% zu Lasten der Beklagten. Dabei belaufe sich der tatsächliche Sachschaden des Klägers auf insgesamt 650,- DM, wovon die Beklagten 325,- DM zu erstatten hätten, während ein Schmerzensgeld in Höhe von 25.000,- DM angemessen sei.

17

Gegen dieses Urteil wenden sich beide Parteien mit ihren Berufungen.

18

Der Kläger verfolgt sein erstinstanzliches Begehren weiter und behauptet, der Beklagte zu 1) sei für ihn beim Auffahren auf die Bundesstraße noch nicht erkennbar gewesen. Er habe darauf vertrauen dürfen, daß der Beklagte zu 1) die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht überschreiten werde. Er habe sich auch vorsichtig verhalten, indem er aufmerksam nach rechts gesehen habe, bevor er auf die Fahrbahn gefahren sei. Der Beklagte zu 1) hätte ihn rechtzeitig erkennen können, da sein Fahrrad mit seitlichen Strahlern ausgerüstet gewesen sei.

19

Angesichts seiner Verletzungen halte er ein Schmerzensgeld ohne Berücksichtigung eines Mitverschuldens in Höhe von 100.000,- DM für angemessen, zumal sich die mangelnde Regulierungsbereitschaft der Beklagten auswirken müsse.

20

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn weitere 130,- DM nebst 4% Zinsen seit dem 19.5.1995 zu zahlen,

  2. 2.

    festzustellen, daß die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger gesamtschuldnerisch sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden - letztere, soweit sie nach dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung entstehen - aus dem Unfall vom 20.9.1994 auf der ... Straße in ... zu 70% zu bezahlen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen oder übergegangen sind,

  3. 3.

    die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 45.000,- DM nebst 4% Zinsen seit dem 19.5.1995 zu zahlen.

21

Die Beklagten beantragen,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

22

Sie treten dem Vorbringen des Klägers entgegen und verteidigen insoweit die angefochtene Entscheidung.

23

Mit ihrer eigenen Berufung rügen sie, daß das Landgericht die zwischen den in erster Instanz von den Parteien vorgelegten Gutachten bestehenden Widersprüche nicht durch Einholung eines weiteren Gutachtens aufgeklärt habe. Das Gericht habe auch nicht dargelegt, daß es über die Sachkunde verfüge, um sich eine eigene Meinung bilden zu können.

24

Durch das von ihnen vorgelegte Gutachten H... stehe fest, daß die Fahrzeuge im Winkel von 130 Grad zusammengestoßen seien. Das belege, daß der Kläger die Fahrbahn schräg überquert habe. Außerdem habe er - der Beklagte zu 1) - auf diese Weise die Seitenstrahler nicht erkennen können. Es habe für ihn eine maximale reaktionsauffordernde Bewegungsstrecke von ca. 6 m vom linken Fahrbahnrand bis zum Kollisionspunkt gegeben. Ausweislich des Sachverständigen H... habe seine Ausgangsgeschwindigkeit zwischen 114 und 137 km/h gelegen, obgleich er weiter behaupte, lediglich mit 80 km/h gefahren zu sein. Jedenfalls habe seine Geschwindigkeit unter den vom Sachverständigen D... errechneten 129 bis 153 km/h gelegen. Er habe auch nicht damit rechnen müssen, daß der Kläger unvermutet vom rechten Fahrbahnrand auf die Straße fuhr, während dieser sich auf Geschwindigkeitsüberschreitungen von bis zu 40% habe einstellen müssen. Der Unfall sei für ihn unvermeidbar gewesen. Selbst aber dann, wenn er nicht optimal reagiert haben sollte, sei ihm das nicht vorwerfbar. Der Kläger habe ihn demgegenüber gut erkennen können, da die Straße gut einsehbar gewesen sei. Außerdem habe sein Scheinwerfer seine Erkennbarkeit noch erhöht.

25

Mit ihrer eigenen Berufung beantragen die Beklagten,

das Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück vom 26.1.1996 abzuändern und die Klage abzuweisen.

26

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

27

Der Senat hat durch Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen T... Beweis erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten vom 25.9.1996 und die Ergänzung vom 3.12.1996 Bezug genommen.

28

Die Akten 6 Js 31095/94 StA Osnabrück waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

29

Beide Berufungen sind zulässig. Während die des Klägers in der Sache unbegründet ist, erweist sich die der Beklagten in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang als begründet.

30

1.)

Die Beklagten haften dem Kläger gemäß §§ 823 BGB, 7 StVG, 3 PflVersG auf Ersatz von 1/3 des diesem unfallbedingt entstandenen Schadens, da der Beklagte zu 1) den Unfall in schuldhafter Weise mit verursacht hat.

31

Auf Grund des vom Senat eingeholten Gutachtens des Sachverständigen T... steht fest, daß der Beklagte zu 1) mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist, indem er unmittelbar vor dem Zusammenprall mit mindestens 113 km/h fuhr.

32

Der Sachverständige ist unter Berücksichtigung der vorgefundenen Unfallspuren, die in den strafrechtlichen Ermittlungsakten 6 Js 31095/94 StA Osnabrück dokumentiert sind, sowie des Beschädigungsbildes beider Fahrzeuge und unter Auswertung vorhandener Erkenntnisse über Bremsverzögerungen umgestürzter Motorräder und über die Fahrbahn rutschender Motorradfahrer zu dem Ergebnis gelangt, daß der Beklagte zu 1) mit einer Geschwindigkeit von 113 - 136 km/h gefahren ist. Dabei ist er davon ausgegangen, daß Fahrrad und Motorrad im Zeitpunkt der Erstberührung in einem Winkel von 110 - 130 Grad zueinander gestanden haben.

33

Diese Feststellungen zur Fahrgeschwinidigkeit decken sich mit der Aussage des in erster Instanz vernommenen Zeugen G..., der kurze Zeit vor dem Zusammenprall von dem Beklagten zu 1) überholt worden ist und bekundet hat, der Beklagte sei deutlich über 100 km/h gefahren.

34

Die Berechnung stimmt im Ergebnis aber auch mit derjenigen überein, die der Sachverständige H... in seinem für die Beklagten erstatteten Gutachten vorgenommen hat. Der Sachverständige H... ist zu dem Ergebnis gelangt, daß der Beklagte zu 1) mit 114 - 137 km/h gefahren sei. Das Ergebnis seiner Begutachtung deckt sich also weitgehend mit dem des Sachverständigen T....

35

Lediglich der Sachverständige D... gelangt in dem von dem Arbeitgeber des Klägers vorprozessual eingeholten Gutachten zu einer etwas anderen Berechnung und zur Annahme einer noch höheren Fahrgeschwindigkeit des Beklagten zu 1). D... geht von unmittelbar vor dem Zusammenprall gefahrenen 129 bis 153 km/h aus, die auch das Landgericht zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat.

36

Das Gutachten D... gibt dem Senat aber keinen Anlaß, demjenigen des Sachverständigen T... nicht zu folgen, da D... insbesondere von einer größeren Bremsverzögerung ausgegangen ist und eine solche von 5,00 bis 7,00 m/sec 2 angenommen hat. T... hat demgegenüber genauere Differenzierungen vorgenommen und beispielsweise zwischen dem Sturz des verkleideten Motorrades und der Bremsverzögerung nach dem Verlust der Packtasche unterschieden. Es leuchtet ein, daß die Verzögerung von derartigen Umständen abhängig ist. Überdies hat der Sachverständige T... seine Berechnungen mit genaueren Erkenntnissen aus veröffentlichten Versuchsreihen untermauern können, weshalb seine Feststellungen insgesamt überzeugender und nachvollziehbarer sind als diejenigen des Sachverständigen D... und vom Senat deshalb auch zur Grundlage seiner Entscheidung genommen wurden.

37

Da aber der Kläger das schuldhafte Verhalten des Beklagten nachzuweisen hat, gehen Zweifel zu seinen Lasten. Denn in die vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge können nur erwiesene und unstreitige Umstände einfließen. Deshalb ist davon auszugehen, daß der Beklagte zu 1) mit einer Geschwindigkeit von 113 km/h gefahren ist.

38

Damit hat der Beklagte zu 1), unabhängig davon, daß er auf einer Bundesstraße außerhalb geschlossener Ortschaft ohnehin nur mit maximal 100 km/h hätte fahren dürfen, schuldhaft gegen die Vorschrift des § 3 Abs. 1 StVO verstoßen. Danach durfte er nur so schnell fahren, daß er sein Fahrzeug ständig beherrschte und es jederzeit auch vor unvermutet auftauchenden Hindernissen zum Stehen bekommen konnte. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Beklagte zu 1) nach seiner eigenen Darstellung des Unfallgeschehens vor dem Senat mit Fernlicht gefahren ist, hätte er bei der herrschenden Dunkelheit und angesichts der durch aufeinanderfolgende Kurven eingeschränkten Möglichkeit, entfernte Hindernisse erkennen zu können, nicht schneller als höchstens 90 km/h fahren dürfen. Seine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit stellt sich also als erheblich dar.

39

Die Geschwindigkeitsüberschreitung ist auch ursächlich für das Unfallgeschehen geworden. Denn der Unfall wäre zur Überzeugung des Senats bei Einhaltung der gebotenen Geschwindigkeit für den Beklagten zu 1) vermeidbar gewesen.

40

Der Kläger kam vor dem Zusammenprall aus der aus Sicht des Beklagten zu 1) links der Fahrbahn gelegenen Ausfahrt des Grundstücks ... Straße . Der Kläger hat sodann in seiner Anhörung vor dem Senat ausgeführt, er sei von dort schräg nach links über die Straße gefahren, um sodann am rechten Fahrbahnrand weiter zu fahren.

41

Diese Darstellung der klägerischen Fahrweise ist glaubhaft. Denn sie erklärt den von dem Sachverständigen T... festgestellten Aufprallwinkel zwischen Fahrrad und Motorrad von 110 bis 130 Grad, die wiederum mit den vom Sachverständigen H... zugrundegelegten 130 Grad übereinstimmen.

42

Angesichts dieses Fahrverhaltens konnte der Beklagte zu 1) allerdings nicht die seitlichen Strahler am Fahrrad des Klägers erkennen. Denn diese konnten bei der Schrägstellung nicht zu ihm zurück reflektieren. Der Beklagte zu 1) hätte aber das am Fahrrad befindliche Licht erkennen können und bei gehöriger Aufmerksamkeit auch müssen. Daß das Licht in Betrieb war, ergibt sich daraus, daß der Scheinwerfer ausweislich der von der Polizei getroffenen Feststellungen bei deren Eintreffen am Unfallort noch in Betrieb war. Es handelte sich um eine akkubetriebene Lichtanlage, die auch durch die Beschädigung am Fahrrad nicht ausgeschaltet wurde. Darüberhinaus hat der Sachverständige D... festgestellt, daß das Rücklicht grundsätzlich funktionstüchtig war. Wenn auch der Verbindungsdraht zerrissen war, was Folge der allgemeinen Beschädigung am Fahrradrahmen gewesen sein dürfte, rechtfertigen diese Feststellungen doch die Annahme, daß zum Unfallzeitpunkt auch das Rücklicht des noch neuen Fahrrades brannte.

43

Unter diesen Umständen steht fest, daß der Beklagte zu 1) den Kläger so lange Zeit vor dem Zusammenprall hätte sehen und als Gefahrenmoment erkennen können, daß er bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in der Lage gewesen wäre, entweder auszuweichen oder abzubremsen.

44

Der Sachverständige T... hat dazu ausgeführt, daß der Unfall vermeidbar gewesen wäre, wenn der Kläger die Fahrbahn schräg überquert hätte und der Beklagte zu 1) bei Einhaltung von 100 km/h dann mit einer Reaktion begonnen hätte, als die vordere Begrenzung des Fahrrades die gedachte Linie zwischen dem äußeren Drittel und dem mittleren Drittel des linken Fahrstreifens überschritt. Da der Kläger jedoch sogleich aus der Hofausfahrt heraus schräg auf die Straße fuhr, mithin etwa 30 Meter vor dem Ort des Zusammenpralls, hätte der Beklagte zu 1) ihn bereits sehr viel eher als Gefahrenmoment erkennen und seine Fahrweise darauf einstellen können. Denn das Verhalten des Klägers mußte ihm Anlaß zu der Überlegung geben, daß er die rechte Fahrbahnseite zu erreichen versuchen würde. Angesichts der Beleuchtung des Fahrrades, des eingeschalteten eigenen Fernlichtes und der Tatsache, daß der Kläger sich in Schrägrichtung auf der Fahrbahn befand, hätte er demzufolge sein Verhalten entsprechend einrichten müssen und bei Einhaltung einer Fahrgeschwindigkeit von jedenfalls nicht mehr als 90 km/h auch ohne weiteres können.

45

Der Anhörung des Sachverständigen bedarf es nicht. Zwar haben die Beklagten mit ihrem am 6.2.1997 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vom selben Tage die Anhörung des Sachverständigen beantragt. Auch ist der Senat grundsätzlich gehalten, den Sachverständigen auf Antrag einer Partei zur Erläuterung seines schriftlich erstatteten Gutachtens zu laden. Diese Verpflichtung besteht jedoch nicht uneingeschränkt. Sie besteht nämlich dann nicht, wenn die Partei nur Fragen zu stellen ankündigt, die für die Entscheidung nicht von Bedeutung sind (Zöller, ZPO, 20. Aufl., § 411 Rdnr. 5 a m.w.N.). Das ist aber vorliegend der Fall. Die Beklagten haben nämlich Fragen angekündigt, die auf zu dem Gutachten des Sachverständigen H... aufgetretenen Widersprüchen beruhen. Zwar basiert die Ermittlung der vom Beklagten zu 1) gefahrenen Geschwindigkeit auf teilweise abweichenden Annahmen, doch gelangen beide Sachverständigen letztlich zum nahezu gleichen Ergebnis; H... geht sogar noch von einer geringfügig höheren Geschwindigkeit aus. Unter diesen Umständen sind die in den Berechnungsgrundlagen bestehenden Unterschiede zwischen beiden Gutachten nicht entscheidungserheblich.

46

Damit kann dahingestellt bleiben, ob die Beantragung der Anhörung erst am 6.2.1997, mithin nur 2 Wochen vor dem Termin, auch wegen Prozeßverschleppung zurückzuweisen gewesen wäre. Immerhin war den Beklagten unter dem 6.12.1996 aufgegeben worden, binnen 2 Wochen mitzuteilen, ob sie die Anhörung des Sachverständigen beantragen wollten. Die ergänzenden Stellungnahmen des Sachverständigen H... stammten bereits vom 5.12.1996 und 15.1.1997, so daß nicht erkennbar ist, weshalb der Anhörungsantrag nicht bereits eher gestellt worden ist.

47

Nach Eingang des Antrages stand der Sachverständige T..., wie eine Rückfrage bei ihm ergeben hat, zur Anhörung zur Terminsstunde nicht mehr zur Verfügung.

48

Auch die erneute Vernehmung des Zeugen G... war entbehrlich. Zwar mögen Zweifel daran begründet sein, ob der Zeuge mit der von ihm genannten Geschwindigkeit gefahren ist. Diese begründen aber keinen Zweifel an der subjektiven Einschätzung der vom Beklagten zu 1) gefahrenen Geschwindigkeit.

49

2.)

Der Kläger hat aber seinerseits auch schuldhaft gehandelt und damit gleichfalls eine Mitursache für den Unfall gesetzt. Die Bundestraße war für ihn. wie der Sachverständige T... ermittelt hat, in Richtung des Beklagten zu 1) auf 250 m einsehbar. Selbst dann, wenn man davon ausgehen wollte, daß der Beklagte zu 1) mit der höchsten anzunehmenden Geschwindigkeit von 136 km/h gefahren sein sollte, wäre der Kläger den Ausführungen des Sachverständigen zu Folge ohne weiteres in der Lage gewesen, die Fahrbahn gefahrlos zu überqueren, sofern der Beklagte zu 1) bei Beginn des Überquerens für ihn noch nicht sichtbar, mithin noch mehr als 250 m entfernt gewesen wäre. Das gilt naturgemäß erst recht, wenn man von einer nur geringeren Fahrgeschwindigkeit ausgeht.

50

Das Verhalten des Klägers stellt sich als Verstoß gegen § 10 StVO dar. Da er aus einer Grundstücksausfahrt kam, war er gehalten, sich so zu verhalten, daß eine Gefährdung des fließenden Verkehrs ausgeschlossen war.

51

3.)

Das Fehlverhalten des Klägers wiegt besonders schwer, da er sich in hohem Maße leichtfertig verhalten hat, indem er den auf einer Bundesstraße zu erwartenden schnellen Fahrzeugverkehr nicht beachtet und den für ihn erkennbaren Beklagten zu 1) übersehen hat.

52

Aber auch der Beklagte zu 1) hat in schwerwiegender Weise gegen die Vorschriften der StVO verstoßen und damit einen erheblichen Verursachungsbeitrag gesetzt. Ausgehend davon, daß er mit 113 km/h gefahren ist und unter Berücksichtigung einer angesichts der Dunkelheit maximal zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h hat er die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 29% überschritten. Eine derartige Geschwindigkeitsüberschreitung kann mitunter gar eine hälftige Mithaftung begründen (OLG Oldenburg DAR 1994, 29 [OLG Oldenburg 15.06.1993 - 12 U 17/93]). Im vorliegenden Fall stand der Geschwindigkeitsüberschreitung allerdings nicht eine Vorfahrtsverletzung, sondern ein schwerer wiegender Verstoß gegen § 10 StVO gegenüber, so daß es insgesamt angemessen erschien, die beiderseitigen Verursachungsbeiträge im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten des Klägers zu gewichten, so daß der Kläger nur 1/3 der ihm unfallbedingt entstandenen Schäden ersetzt verlangen kann.

53

4.)

Hinsichtlich der Schadenshöhe ist das landgerichtliche Urteil nur in seinem Ausspruch zur Höhe des Schmerzensgeldes angegriffen worden, während die Höhe der Sachschäden mit 650,- DM feststeht, so daß der Kläger insoweit nur die Zahlung von 217,- DM beanspruchen kann.

54

Für die Bemessung des Schmerzensgeldes ist der Grad der Mitverursachung nur ein Faktor von mehreren. Ein an sich angemessenes Schmerzensgeld, das entsprechend dem Grad des Mitverschuldens zu quotieren wäre, gibt es nicht.

55

Maßgebender und die Höhe des Schmerzensgeldes vorrangig beeinflussender Faktor ist die Schwere der Verletzungen, die der Kläger unfallbedingt erlitten hat. Diese sind durch die vorgelegten Atteste belegt und bestehen insbesondere in diversen erheblichen Frakturen, sowie Lungen- und Blasenverletzungen. Besonders schwerwiegend ist auch das vom Kläger erlittene Schädelhirntrauma. Der Kläger war für annähernd drei Wochen in der Intensivstation und befand sich 3 Monate lang in stationärer Krankenhausbehandlung. Anfangs bestand für einen längeren Zeitraum Lebensgefahr.

56

Unter diesen Umständen erschien es dem Senat auch unter Berücksichtigung des erheblichen Eigenverschuldens angemessen, die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 20.000,- DM zu verurteilen.

57

5.)

Da die Annahme berechtigt ist, daß weitere unfallbedingte Folgeschäden auftreten, war der Feststellungsantrag dem Grunde nach gerechtfertigt.

58

6.)

Der Zinsanspruch folgt aus §§ 284, 286, 288 BGB. Insoweit ist das landgerichtliche Urteil nicht angefochten.

59

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711, 546 Abs. 2 ZPO.