Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 25.03.1997, Az.: 5 U 131/96

Anspruch auf Schmerzensgeld wegen grobem Behandlungsfehler eines Arztes; Nichterkennen einer Alveolarfortsatzfraktur; Unterbliebene Knochenreposition und Gabe von Antibiotika infolge unzureichender Abklärung einer Kieferfraktur

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
25.03.1997
Aktenzeichen
5 U 131/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 21786
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1997:0325.5U131.96.0A

Fundstelle

  • OLGReport Gerichtsort 1998, 356-358

Amtlicher Leitsatz

Grober Behandlungsfehler bei unterbliebener Knochenreposition und Gabe von Antibiotika infolge unzureichender Abklärung einer Kieferfraktur

Tatbestand

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Die Klägerin begehrt Ersatz für immaterielle Schäden sowie die Feststellung der Ersatzpflicht für materielle und zukünftige immaterielle Schäden, die sie aus einer fehlerhaften Behandlung im Krankenhaus des Beklagten zu 3) und durch den Beklagten zu 1) herleitet.

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Die damals 9-jährige Klägerin wurde am 22.02.1991 während des Schulsports durch einen aus kurzer Distanz geworfenen Ball seitlich am Kinn getroffen. Wegen starker Schmerzen suchte sie am Nachmittag den Zahnarzt .... auf, der Prellungen am Kinn rechts sowie die Lockerung mehrerer Schneidezähne diagnostizierte und sie mit bestimmten Verhaltensregeln wieder nach Hause entließ. Da sich die Schmerzen verstärkten und Fieber auftrat, wurde sie am 24.02.1991, einem Sonntag, auf Veranlassung von .... um 14.15 Uhr in die Kinderstation des Kreiskrankenhauses ...., dessen damaliger Chefarzt der Beklagte zu 2) war und dessen Träger der Beklagte zu 3) ist, stationär aufgenommen. Am 25.02.1991 verlor sie die beiden Frontzähne 31 und 32. Nachdem am 27.02.1991 der Beklagte zu 1), der Kieferchirurg ist, zur Behandlung der Klägerin hinzugezogen worden war, stellte er bei einer Röntgenuntersuchung in seiner Praxis am 04.03.1991 eine Alveolarfortsatzfraktur im unteren Frontzahnbereich fest, die er am folgenden Tag operativ mit einer Schienung der Zähne 41 und 42 versorgte. Nach Entlassung aus dem Krankenhaus am 07.03.1991 war die Klägerin noch bis zum 15.04 beim Beklagten zu 1) in ambulanter Behandlung, ohne dass eine Besserung eintrat. Dem Vorschlag des Beklagten zu 1), die Schiene mit den beiden Zähnen zu entfernen, folgten die Eltern der Klägerin nicht, sondern wandten sich an die Klinik für Mund- und Kieferchirurgie in ..... Dort wurde die Klägerin vom 18.04. bis 01.05.1991 wegen einer Osteomyelitis behandelt. Dabei wurden die Zahnschiene und die Zähne 41 und 42 sowie ein Sequester im Alveolarfortsatz entfernt.

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Das Landgericht hat nach sachverständiger Beratung die Klage abgewiesen, weil ein schadensursächliches Verhalten bzw. ein Verschulden der Beklagten nicht festzustellen sei. Die Ursache für den Verlust der Zähne 31 und 32 sei bereits am 22.02.1991 dadurch gesetzt worden, dass der Zahnarzt ....die erforderlichen Behandlungsmaßnahmen unterlassen habe. Dass die Entzündung des Unterkiefers und der Verlust der Zähne 41 und 42 auf ein Verschulden der Beklagten zurückzuführen sei, lasse sich nicht feststellen. Das Unterlassen einer antibiotischen Therapie in der Zeit vom 24. bis zum 25.02.1991 sei nicht schadensursächlich und im Übrigen - nach der Konsultation des Zahnarztes ....vom 25.02.1991 - nicht schuldhaft. Auch könne in der verspäteten Reposition der Knochenfragmente und Zahnschienung kein haftungsbegründendes Verhalten des Beklagten zu 1) gesehen werden, weil der Verlust der Zähne 41 und 42 unfall- und nicht behandlungsbedingt sei. Eine Umkehr der Beweislast komme mangels eines grob fehlerhaften Verhaltens der Beklagten nicht in Betracht.

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Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung hat, soweit sich die Klage gegen die Beklagten zu 1) und 3) richtet, teilweise Erfolg. Dagegen ist die Abweisung der Klage gegen den Beklagten zu 2) im Ergebnis zu Recht erfolgt.

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Ansprüche gegen den Beklagten zu 2) auf Ersatz des immateriellen Schadens scheitern bereits daran, dass eine deliktische Verantwortung des Beklagten zu 2) nicht gegeben ist. Das Vorbringen der Parteien lässt nicht die Feststellung zu, dass er bei der Behandlung der Klägerin tätig geworden ist. Der Beklagte zu 2) hat dies bestritten. Demgegenüber hat die Klägerin für ihr gegenteiliges Vorbringen keinen Beweis angetreten. Aus der Stellung des Beklagten zu 2) als damaliger Chefarzt folgt aber allein keine Haftung für Schäden, die in der von ihm geleiteten Abteilung entstanden sind. Ein Verschulden auf Grund mangelhafter Organisation oder fehlende Überwachung ist weder dargetan noch ersichtlich. Dagegen sind Ansprüche gegen die Beklagten zu 1) und 3) begründet. Der Beklagte zu 3) haftet als Krankenhausträger deliktsrechtlich gemäß §§ 823 Abs. 1, 831, 847 BGB für ein schuldhaftes Verhalten der bei ihm angestellten Ärzte. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen ...., Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universität ...., in seinem Gutachten vom 03.07.1995, ist davon auszugehen, dass bei der stationären Aufnahme der Klägerin am 24.02.1991 im Krankenhaus des Beklagten zu 3) auf Grund der bekannten Unfallanamnese in jedem Fall ein klinischer und röntgenologischer Frakturausschluss hätte erfolgen müssen. Wenn eine Befunderhebung durch den aufnehmenden Arzt nicht erfolgen konnte, hätte die Klägerin einem Fachkollegen vorgestellt werden müssen. Diese notwendige Untersuchung haben die Krankenhausärzte nicht vorgenommen oder veranlasst. Darin liegt eine schuldhaft unterlassene Befunderhebung und Befundsicherung, die Beweiserleichterungen rechtfertigt, auch wenn das Versäumnis nicht als grob zu qualifizieren ist (vgl. Steffen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 6. Auflage, Seite 212 f. m.w.N.). Demgemäß spricht die Vermutung dafür, dass der Befund positiv gewesen wäre, d. h. bei der Aufnahme der Klägerin am 24.02.1991 eine Alveolarfortsatzfraktur festgestellt worden wäre. Für einen späteren Schadenseintritt durch einen Unfall der Klägerin im Krankenhaus des Beklagten zu 3) fehlen hinreichende Anhaltspunkte. Das Vorbringen der Beklagten dazu erschöpft sich in Andeutungen, denen die Klägerin entgegengetreten ist.

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Wie der Sachverständige weiter ausgeführt hat, hätte auf die Feststellung einer Alveolarfortsatzfraktur mit Luxation von Zähnen unverzüglich mit einer Reposition der Knochenfragmente und Zähne, der Stabilisierung der gelockerten Zähne und der Gabe von Antibiotika reagiert werden müssen. Eine sofortige Behandlung sei unumgänglich, weil anderenfalls eine Reposition nur unzulänglich gelinge und die Gefahr einer Wundinfektion erheblich steige. Ein Unterlassen dieser dringend gebotenen Maßnahmen würde sich als Verstoß gegen elementare Behandlungsregeln darstellen, der nicht mehr verständlich wäre. Das ist den gutachtlichen Äußerungen des Sachverständigen eindeutig zu entnehmen. Deshalb ist zu Gunsten der Klägerin davon auszugehen, dass die behandelnden Ärzte im Krankenhaus des Beklagten zu 3) bei der zutreffenden Diagnose entsprechend reagiert hätten und durch die angezeigte Therapie zumindest die später eingetretene Osteomyelitis verhindert worden wäre.

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Insoweit steht zwar dem Beklagten zu 3) die Möglichkeit offen zu beweisen, dass der Schaden auch bei sachgerechter Behandlung, hier also insbesondere einer sofortigen antibiotischen Abschirmung der Klägerin, entstanden wäre; diesen Nachweis hat er aber nicht erbracht. Auch wenn es selbst bei einer zeitgerechten antibiotischen Therapie zu einer Osteomyelitis kommen kann, ist nach Auffassung des Sachverständigen davon auszugehen, dass das Unterlassen dieser Maßnahme für die Ausbreitung der Entzündung im Kiefer mit als ursächlich zu betrachten ist. Für diese Folge hat der Beklagte zu 3) dementsprechend einzustehen.

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Gleiches gilt hinsichtlich des Beklagten zu 1). Dieser ist am 27.02.1991 zur Behandlung hinzugezogen worden, ohne erkennbar irgendwelche Maßnahmen angeordnet zu haben. Mit der antibiotischen Therapie ist erst am 28.02.1991 durch die Ärzte des Krankenhauses begonnen worden, nachdem in einem Rachenabstrich haemolysierende Streptokokken nachgewiesen worden waren. Der Beklagte zu 1) hat die Klägerin erstmals am 04.03.1991 in seiner Praxis näher untersucht und dabei das Ausmaß der Verletzungen festgestellt. Am folgenden Tag hat er dann eine Schienung der Zähne 41 und 42 vorgenommen. Dass diese Maßnahme wegen der Infektion nicht früher erfolgen konnte, hat der Beklagte zu 1) erstmals nach Abschluss der Beweisaufnahme erster Instanz vorgetragen; das Gegenteil ergibt sich indes aus dem ergänzenden Gutachten des Sachverständigen .... vom 07.02.1996, wonach der Beklagte zu 1) die später durchgeführte Therapie umgehend nach der Untersuchung am 27.02.1991 hätte vornehmen müssen. Auch dem Beklagten zu 1) ist daher vorzuwerfen, dass er gebotene Befunde nicht rechtzeitig erhoben und deshalb die Alveolarfortsatzfraktur zu spät erkannt hat. Ihn trifft daher ebenfalls die Verantwortung für die später eingetretende Osteomyelitis.

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Der Klägerin steht daher ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu, den der Senat auf 10.000,00 DM bemessen hat. Dabei war zu berücksichtigen, dass es sich - wie der Sachverständige dargelegt hat - bei der Osteomyelitis um eine schwer wiegende Erkrankung handelt, die heftige Schmerzen auslöst und weitere Beeinträchtigungen mit sich bringt. Sie war von nicht unerheblicher Dauer und hat zu weiteren Behandlungsmaßnahmen geführt. Am 23.04.1991 wurden der Klägerin in der Klinik für Mund- und Kieferchirurgie der Universität ... in Intubationsnarkose die Schienen im Unterkiefer, die Zähne 41 und 42 sowie ein Sequester im Alveolarfortsatz operativ entfernt; der Unterkiefer wurde dekortiert und eine PMMA-Kette eingelagert, die in einer weiteren Operation am 24.06.1991 wieder entfernt wurde. Auf der anderen Seite hatten jedoch der frühzeitige Verlust von vier Zähnen und die damit möglicherweise verbundenen Beeinträchtigungen, auch psychischer Art außer Betracht zu bleiben. Denn diesen Umstand haben die Beklagten zu 1) und 3) nicht zu vertreten; insoweit ist das erstinstanzliche Urteil nicht angegriffen worden. Insgesamt erschien daher dem Senat ein Schmerzensgeld in der zuerkannten Höhe als angemessen.

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Der weiter begehrten Feststellung der Ersatzpflicht für materielle und zukünftige immaterielle Schäden war dagegen nicht zu entsprechen. Die Klägerin hat einen materiellen Schaden trotz der seit dem Jahre 1991 abgeschlossenen Behandlung nicht dargetan; mögliche zukünftige Schadensfolgen, die ihren Grund nicht in dem Verlust der Zähne, sondern der ausgeheilten Osteomyelitis haben, sind nicht ersichtlich. Damit fehlt es an jeglicher Wahrscheinlichkeit für eine weitere Schadensentstehung.