Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.12.2012, Az.: 2 ME 368/12

Bestimmen des Vorliegens eines sonderpädagogischen Förderbedarfs nach dem in der Schule gezeigten Lernverhalten und Leistungsverhalten und sonstigen schulischen Verhalten

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
13.12.2012
Aktenzeichen
2 ME 368/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 29727
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2012:1213.2ME368.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 27.09.2012 - AZ: 6 B 5046/12

Fundstellen

  • DÖV 2013, 320
  • NVwZ-RR 2013, 265
  • SchuR 2013, 101-102
  • SchuR 2013, 171

Amtlicher Leitsatz

Die Fragen, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf besteht, welcher konkrete Förderbedarf mit welchem Schwerpunkt vorliegt und welche Förderschule konkret der geeignete Förderort ist, beurteilen sich grundsätzlich nach dem in der Schule gezeigten Lern- und Leistungsverhalten und sonstigen schulischen Verhalten, sodass die Zuziehung außerschulischen Sachverstands in der Regel nicht geboten ist.

Gründe

1

Der Antrag des Antragstellers, ihm für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren und seine Prozessbevollmächtigte beizuordnen, hat keinen Erfolg, da die Beschwerde aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§§ 166 VwGO, 114 Satz 1 ZPO).

2

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 27. September 2012 ist unbegründet.

3

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des am 2002 geborenen Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner zum Aktenzeichen 6 A 4697/12 erhobenen Klage gegen den mit Verfügung vom 24. August 2012 nachträglich für sofort vollziehbar erklärten Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. Juli 2012, mit dem bei dem Antragsteller ein sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Schwerpunkt im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung festgestellt und er deshalb in die entsprechende Förderschule, die Schule E. in F., überwiesen worden ist, zu Recht abgelehnt. Der Senat macht sich die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu Eigen und verweist auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

4

Das Beschwerdevorbringen des Antragstellers, auf dessen Überprüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt eine andere Entscheidung nicht.

5

Auf den - erstmaligen - Einwand des Antragstellers im Beschwerdeverfahren, seine Eltern seien nicht in hinreichendem Umfang auf die Möglichkeit, eine Förderkommission zu beantragen, hingewiesen worden, hat die Förderschullehrerin G. in ihrer dienstlichen Stellungnahme vom 13. November 2012 - vom Antragsteller unwidersprochen - ausgeführt, diese seien von dem Sozialpädagogen H. und ihr sowohl im Anamnesegespräch am 21. März 2012 als auch von ihr im am 18. April 2012 telefonisch geführten Abschlussgespräch (nochmals) über die Möglichkeiten einer Förderkommission informiert worden. Daher geht der Senat davon aus, dass der ausweislich des in den Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin befindlichen Aktenvermerks (vgl. Bl. 1 BA A) zunächst fehlende Hinweis auf die Möglichkeit eines Antrages zur Errichtung einer Förderkommission im weiteren Verfahren in hinreichendem Umfang nachgeholt worden ist.

6

Das Beschwerdevorbringen des Antragstellers erschüttert auch in inhaltlicher Hinsicht nicht die Annahme der Antragsgegnerin und des Verwaltungsgerichts, es bestehe ein sonderpädagogischer Förderbedarf (gerade) im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung.

7

Der Senat folgt der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass bei dem Antragsteller ein sonderpädagogischer Förderbedarf besteht. Dies stellt der Antragsteller der Sache nach auch nicht in Zweifel, zumal sich ein solcher Bedarf hinreichend deutlich aus dem Ergebnis des Beratungsgutachtens durch die Förderschullehrkraft G. vom 18. April 2012 sowie der Diagnose des Kinder- und Jugendpsychotherapeuten Dipl.-Päd. I. in seinen Stellungnahmen vom 27. Juli und 7. Dezember 2012 ergibt und sich die Eltern des Antragstellers ausweislich des Vermerks in dem Beratungsgutachten mit der vorgeschlagenen Maßnahme (zunächst) einverstanden erklärt haben.

8

Entgegen der Ansicht des Antragstellers kann dieser sonderpädagogische Förderbedarf nicht an einer Regelgrundschule wie hier der Grund- und Hauptschule J. in K., die der Antragsteller im vergangenen Schuljahr bis zur 3. Jahrgangsstufe besucht hat, in hinreichendem Umfang abgedeckt werden. Substantiierte Einwände gegen die gleichlautende sorgfältig begründete Einschätzung des Verwaltungsgerichts hat der Antragsteller in seiner Beschwerdebegründung nicht erhoben. Soweit er vorträgt, bei ihm bestehe "tendenziell lediglich ein Förderbedarf, der von einer Regelschule geleistet werden könnte und sollte", genügt dieser pauschale Einwand nicht den sich aus § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO ergebenden Darlegungserfordernissen. Auch die von dem Antragsteller im Beschwerdeverfahren vorgelegte Stellungnahme des Dipl-Päd. I. vom 7. Dezember 2012 rechtfertigt ein anderes Ergebnis nicht.

9

Der Senat folgt des Weiteren der ausführlich und überzeugend begründeten Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass bei dem Antragsteller (jedenfalls schwerpunktmäßig) ein Förderbedarf gerade mit dem Schwerpunkt der emotionalen und sozialen Entwicklung besteht, der nur an einer entsprechenden Schule, hier der Schule E. in F., abgedeckt werden kann. Soweit der Antragsteller in seiner Beschwerdebegründung wie bereits zuvor in erster Instanz demgegenüber vor allem auf seine ausgeprägte Lese- und Rechtschreibschwäche als die von ihm, seinen Eltern und dem ihn behandelnden Dipl-Päd. I. vermutete Ursache für seinen sonderpädagogischen Förderbedarf abstellt und hieraus die Schlussfolgerung zieht, die Schule E. sei für ihn nicht die geeignete Schule, sondern es liege vielmehr vorrangig ein Förderbedarf im Bereich Lernen vor, hat bereits das Verwaltungsgericht zu Recht angeführt, dass durch diesen Verweis auf die tatsächliche oder vermeintliche Ursache die diagnostizierten Verhaltensauffälligkeiten nicht in Zweifel gezogen werden. Zudem kommt es auf die von dem Antragsteller in den Vordergrund seiner Argumentation gerückte Frage nach der Ursache für seine Lernschwierigkeiten nicht entscheidungserheblich an. Für die Überweisung an eine Förderschule ist nicht von Bedeutung, ob die festgestellten Defizite auf einer Behinderung oder Krankheit im medizinischen Sinn, einer Lern- und Verhaltensstörung (ADHS) oder einer sonstigen Beeinträchtigung im Lernverhalten wie hier einer Lese- und Rechtschreibschwäche beruhen. Maßgeblich ist allein, dass das Ausmaß der festgestellten Förderbedürftigkeit und die Eignung der von der Antragsgegnerin ausgewählten Förderschule für die Betreuung des Leistungsdefizits die Überweisung tragen (Senat, Beschl. v. 19.11. 2010 - 2 LA 341/10 -). Dies ist wie ausgeführt der Fall und wird durch die Kritik des Dipl.-Päd. I. in seiner von dem Antragsteller vorgelegten Stellungnahme vom 7. Dezember 2012 nicht erfolgreich infrage gestellt. Auf die von diesem angemahnte bisher fehlende Diagnose einer Lese- und Rechtschreibschwäche kommt es nach dem oben Gesagten nicht entscheidend an. Daher kann von einer "Missachtung wesentlicher ätiologischer Zusammenhänge des Störungsbildes" nicht die Rede sein. Der Senat kann sich überdies des Eindrucks nicht erwehren, dass die Abneigung der Eltern des Antragstellern gegen die Schule E. vor allem aus ihrer Befürchtung herrührt, die früher aufgetretenen innerschulischen Streitereien zwischen dem Antragsteller und seinem älteren Bruder L., der diese Schule seit Beginn des Schuljahrs 2011/2012 besucht, würden bei einer gemeinsamen Beschulung wieder aufleben. Von derartigen Schwierigkeiten ist indes in der Beschwerdebegründung keine Rede.

10

Ein anderes Ergebnis ist nicht deshalb gerechtfertigt, weil der Antragsteller nach seinem Beschwerdevorbringen im Rahmen von Ausflügen und anderen Gruppenangeboten der Familienhilfe des Jugendamtes der Stadt K. sowie bei der Teilnahme an einem in den Sommerferien 2012 von dem VFL M. veranstalteten einwöchigen Sommerzeltlager keinerlei Verhaltensauffälligkeiten gezeigt habe. Abgesehen davon, dass entsprechende schriftliche Stellungnahmen dieser Stellen nicht vorgelegt worden sind, kommt es auf diesen Vortrag ebenfalls nicht entscheidungserheblich an. Die Frage, ob ein Schüler einer sonderpädagogischen Förderung bedarf, welcher konkrete Förderbedarf besteht und welche Förderschule der geeignete Förderort ist, beurteilt sich grundsätzlich nach dem in der Schule gezeigten Lern- und Leistungsverhalten und sonstigen schulischen Verhalten. Die Zuziehung außerschulischen Sachverstands wie hier von Leitern von Gruppenangeboten von Sportvereinen und der Familienhilfe sowie von den Schüler behandelnden Therapeuten ist in Fällen der vorliegenden Art in der Regel nicht geboten. Denn die Frage, ob ein Schüler aus schulischen Gründen einer sonderpädagogischen Förderung bedarf, ist einer Beantwortung durch den Schüler isoliert außerhalb der Schule erlebende Stellen und überprüfende Gutachter in der Regel nicht zugänglich (Senat, Beschl. v. 19.11.2010 - 2 LA 341/10 -; Beschl. v. 21.6.2010 - 2 ME 191/10 -; Beschl. v. 3.6.2010 - 2 ME 184/10 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 4.9.2006 - 19 A 3018/06 -, [...] Langtext Rdnr. 2). Die Förderschullehrkraft G., die den Antragsteller begutachtet hat, ist entgegen dem Beschwerdevorbringen des Antragstellers ausweislich ihrer von der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren vorgelegten Stellungnahme vom 13. November 2012 von ihrer bisherigen Einschätzung mitnichten abgerückt. Nach dem von der Antragsgegnerin ebenfalls eingereichten Bericht dieser Förderschule vom 16. November 2012 ist es auch keineswegs so, dass der Antragsteller in dieser Schule "nicht richtig aufgehoben" ist und zurzeit nur mit "äußerstem Widerwillen" zur Schule geht. Hiernach ist der Antragsteller in die Klassengemeinschaft integriert, arbeitet verlässlich mit und erledigt seine Aufgaben sorgfältig und zielorientiert, wobei er sich aus Konflikten heraushalten kann, aber ein verstärktes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit durch Erwachsene hat, das sich auch in provokanten Äußerungen zeigt.

11

Zur Klarstellung weist der Senat abschließend darauf hin, dass die Förderschule E., die der Antragsteller seit Beginn des laufenden Schuljahres besucht, weiter der Frage wird nachgehen müssen, ob - zusätzlich - eine Lese- und Rechtschreibstörung vorliegt und wie diese ggf. behandelt werden kann. Außerdem wird sie zu gegebener Zeit überprüfen müssen, ob weiterhin ein sonderpädagogischer Förderbedarf dem Grunde nach besteht und in welchem Schwerpunkt dieser bejahendenfalls gegeben ist. Zurzeit scheint es angeraten, dem Antragsteller, der sich ausweislich des genannten Schulberichts vom 16. November 2012 gegenwärtig auf dem Lernstand des 3. Schuljahrgangs befindet, bis zum Beginn der Sekundarstufe I einen weiteren Schulwechsel (insbesondere auf eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen) zu ersparen. Der Antragsteller scheint auf einem guten Weg zu sein, sodass es nunmehr vorrangiges Ziel aller Beteiligten sein sollte, ihn so weit zu stabilisieren, dass er im übernächsten Schuljahr erfolgreich am Unterricht einer Regelschule des Sekundarbereichs I teilnehmen kann.