Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.02.2004, Az.: 12 ME 536/03

Anordnungsgrund; Einstellung der Hilfe; notwendiger Lebensunterhalt; vorläufiger Rechtsschutz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
16.02.2004
Aktenzeichen
12 ME 536/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 50499
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 17.11.2003 - AZ: 3 B 3944/03

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) ist bei Streitigkeiten um den notwendigen Lebensunterhalt i.S.d. § 12 Abs. 1 BSHG stets zu bejahen.

2. Zum Erfordernis eines systematischen Vorgehens in einem Verfahren, das zur Einstellung einer seit langem gewährten Hilfe zum Lebensunterhalt führt.

Gründe

1

Die nach §§ 146 Abs. 1 und 4, 147 VwGO zu beurteilende Beschwerde ist zulässig und für die Antragstellerin zu 2. in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet; im Hinblick auf den Antragsteller zu 1. ist das Rechtsmittel unbegründet.

2

Die Beteiligten gehen übereinstimmend davon aus, dass infolge der den Antragstellern zufließenden Zahlungen von Altersruhegeldern und Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz der sozialhilferechtliche Bedarf des Antragstellers zu 1. gedeckt ist und der streitige Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt (wohl in Höhe von 10,14 € im Monat) der Antragstellerin zu 2. zuzuordnen wäre (Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 22. Januar 2004, Bl. 77 der Akte und Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Antragsteller vom 29. Januar 2004, Bl. 120 f. der Akte). Der von dem Prozessbevollmächtigten der Antragsteller abgegebenen Erledigungserklärung für das Antragsbegehren des Antragstellers zu 1. (Schriftsatz vom 29. Januar 2004, a.a.O.) hat sich die Antragsgegnerin nicht angeschlossen. Eine Feststellung der Erledigung auf die einseitig gebliebene Erledigungserklärung hin kann nicht erfolgen. Bereits das Verwaltungsgericht hat in den Gründen seines angefochtenen Beschlusses (S. 2 f. BA) darauf hingewiesen, dass für den Antrag des Antragstellers zu 1. auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ein Anordnungsanspruch von Beginn an nicht vorgelegen habe. Dem sind die Antragsteller nicht - wie es erforderlich gewesen wäre - durch die Darlegung entgegengetreten, dass dem Anordnungsbegehren in Bezug auf den Antragsteller zu 1. durch ein nachträgliches Ereignis die Grundlage entzogen worden wäre. Die Beschwerde ist deshalb hinsichtlich des Antragstellers zu 1. zurückzuweisen.

3

In Bezug auf das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin zu 2. fehlt es entgegen der dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu Grunde liegenden Einschätzung nicht an dem für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO erforderlichen Anordnungsgrund im Sinne der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Nach der gefestigten Rechtsprechung beider mit dem Sozialhilferecht befassten Senate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. aus neuerer Zeit etwa: 4. Senat, Beschl. v. 7.3.2003 - 4 ME 60/03 -; Beschlüsse des erk. Senats v. 17.10.2003 - 12 ME 308/03 u. v. 5.12.2003 - 12 ME 515/03 -) ist die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung stets dann zu bejahen, wenn – wie hier - um den notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des § 12 BSHG gestritten wird, der zur Behebung aktueller und existenzieller Notlagen des Hilfesuchenden bestimmt ist. Für die dem Verwaltungsgericht vorschwebenden betragsmäßigen Grenzen im Sinne einer Abwehr von Belastungen der Verwaltungsgerichte durch kostenträchtige Bagatellverfahren gibt es zur Überzeugung des Senats keinen rechtlichen Anknüpfungspunkt.

4

Dem Vortrag der Antragstellerin zu 2. lässt sich auch die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches entnehmen. Mit der aus der Beschlussformel ersichtlichen zeitlichen Einschränkung ist für das Eilverfahren davon auszugehen, dass der Antragstellerin zu 2. zur vollständigen Deckung ihres sozialhilferechtlichen Bedarfs keine dem Antragsgegner nicht bekannten bzw. bereiten Mittel zur Verfügung stehen.

5

Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern mehrere Jahre lang (ergänzende) Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt. Ausweislich der dem Senat vorliegenden Verwaltungsvorgänge war die Antragsgegnerin seit dem Sommer 2002 nicht mehr gewillt, diese Hilfeleistungen vorbehaltlos weiterzuführen. Für die Rechtfertigung einer derartigen Einschätzung gibt es nach Aktenlage durchaus Anhaltspunkte. Das hierauf bezogene Verhalten der Antragsgegnerin bei der Behandlung des Hilfefalles der Antragsteller ist allerdings nicht durch Stringenz, sondern durch einen häufigen Wechsel der rechtlichen Ansatzpunkte gekennzeichnet. Dies führt im Ergebnis dazu, dass die ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt für einen zunächst begrenzten Zeitraum weiter zu gewähren ist. Die Antragsgegnerin erhält so Gelegenheit, sich Klarheit über die angemessene Behandlung des Hilfefalles der Antragsteller zu verschaffen und sodann entsprechend zu verfahren. Diese Klarheit ist nach Maßgabe der folgenden Ausführungen bisher nicht erkennbar.

6

Zunächst trat die Antragsgegnerin unter dem 23. August 2002 (Bl. 853 der Beiakte A) mit einer Rechtswahrungsanzeige nach § 91 Abs. 3 BSHG an den Sohn der Antragsteller, Herrn E., heran und übersandte ihm einen Fragebogen betreffend seine wirtschaftlichen Verhältnisse. Diesen reichte der Sohn der Antragsteller mit Angaben versehen am 31. Oktober 2002 an die Antragsgegnerin zurück (Bl. 856 der Beiakte A). Unter dem 20. Januar 2003 verlangte die Antragsgegnerin von dem Sohn der Antragsteller insgesamt zehn im Einzelnen bezeichnete Nachweise über die im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit in den Jahren 1999 bis 2001 tatsächlich erzielten Einnahmen und getätigten Ausgaben. Gleichzeitig teilte sie dem Sohn der Antragsteller jedoch mit, eine Überprüfung seiner Unterhaltsverpflichtung entfalle und er brauche die geforderten Einkommensbelege nicht mehr vorzulegen, wenn er die im Zeitraum Oktober bis Dezember 2002 entstandenen Aufwendungen der Antragsgegnerin für die Antragsteller in Höhe von 385,09 € überweise (Bl. 861 f. der Beiakte B).

7

Ab Februar 2003 überprüfte die Antragsgegnerin sodann die Einkommenssituation der Antragsteller, weil ihr bekannt geworden war, dass diese ein Kraftfahrzeug hielten. Sie gelangte dabei zu Zweifeln an der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller und stellte die Gewährung der ergänzenden Hilfe zum Lebensunterhalt in der hier streitigen Höhe zum 1. Juli 2003 faktisch ein. Sodann forderte die Antragsgegnerin im Juli 2003 von den Antragstellern telefonisch die Vorlage vollständiger Kontoauszüge für die letzten drei Monate an (Vermerk Bl. 902 der Beiakte A). Als die Antragsteller dieser Aufforderung zunächst nicht nachkamen, gab die Antragsgegnerin ihnen mit Schreiben vom 22. August 2003 Gelegenheit, die vollständigen Kontoauszüge - nunmehr für den Zeitraum Januar bis August 2003 - bis zum 31. August 2003 vorzulegen (Bl. 929 der Beiakte B).

8

Neben dem Vorgehen gegen den Sohn der Antragsteller nach § 91 BSHG und der Leistungseinstellung gegenüber den Antragstellern unter dem Gesichtspunkt der verschwiegenen Mittel berief sich die Antragsgegnerin sodann gegenüber den Antragstellern mit Schreiben vom 4. und 5. September 2003 (Bl. 922 f. der Beiakte B) auf den Aspekt der bereiten Mittel im Sinne des § 2 BSHG. Sie machte geltend, der Sohn der Antragsteller überlasse ihnen nach ihren Angaben kostenlos ein Kraftfahrzeug zur Nutzung und sei daher offensichtlich in der Lage, Unterhalt zu leisten. Die Antragsgegnerin forderte die Antragsteller auf, ihre laufenden Unterhaltsansprüche gegenüber ihrem Sohn ab Oktober 2003 gegebenenfalls auch gerichtlich durchzusetzen. Sofern sie ab Oktober 2003 weitere Sozialhilfe benötigten, müssten sie bis zum 19. September 2003 einen entsprechenden Nachweis, z.B. eine Mandatsbestätigung eines Fachanwaltes für Familienrecht vorlegen.

9

Im engen zeitlichen Zusammenhang hierzu trat die Antragsgegnerin jedoch wiederum eigenständig nach § 91 BSHG an den Sohn der Antragsteller heran. Nachdem sich dessen Steuerberater unter dem 29. September 2003 mit Angaben zur Einkommenssituation des Sohnes der Antragsteller gemeldet hatte, forderte sie - von dem Steuerberater des Sohnes der Antragsteller - unter dem 2. Oktober 2003 weitere detaillierte Nachweise über Einnahmen und Ausgaben in den Jahren 2000 bis 2002 (Bl. 941 ff. der Beiakte B).

10

Währenddessen waren die Antragsteller der Aufforderung der Antragsgegnerin zur Vorlage von Kontoauszügen im Wesentlichen nachgekommen. Einem Vermerk der Antragsgegnerin vom 8. Oktober 2003 (Bl. 960 der Beiakte B) lässt sich entnehmen, dass der Antragsteller zu 1. dem zuständigen Sachbearbeiter der Antragsgegnerin sämtliche Auszüge über die Sparkonten und das Girokonto der Antragsteller vorgelegt hatte. Zu Schwärzungen in den Auszügen des Girokontos hatte er nahezu vollständig Erklärungen über die Empfänger der Überweisungen abgegeben. Die Antragsgegnerin machte nunmehr wieder Zweifel an der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller, die sie aus dem anhand der vorgelegten Auszügen ersichtlichen Verhältnis der monatlichen Fixkosten zu den sozialhilferechtlichen Regelsätzen und geringen Barabhebungen in der Zeit von April bis Juli 2003 ableitete, zum Schwerpunkt ihrer Sachbehaltung des Hilfefalles der Antragsteller. Mit entsprechender Begründung erließ sie unter dem 8. Oktober 2003 einen förmlichen Bescheid über die Einstellung der (ergänzenden) Hilfe zum Lebensunterhalt ab dem 1. Juli 2003 (Bl. 962 der Beiakte B). Den Zeitraum August bis September 2003 ließ sie dabei ungeprüft. Auf den Gesichtspunkt der bereiten Mittel in Form von Unterhaltsansprüchen gegen den Sohn der Antragsteller berief sie sich nicht mehr.

11

In dem sich anschließenden Widerspruchsverfahren vollzog die Antragsgegnerin dann eine erneute Kehrtwendung: Sie erklärte sich mit Schreiben vom 24. Oktober 2003 (Bl. 972 der Beiakte B) zur Abhilfe des Widerspruchs und Zahlung der ergänzenden Sozialhilfe für Oktober 2003 bereit, wenn die – jedenfalls bis Anfang Oktober - bereits zur Einsichtnahme gegebenen Kontoauszüge des Sparkontos der Antragsteller für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Oktober 2003 nochmals vorgelegt und vollständige ungeschwärzte Auszüge des Girokontos für die Zeit vom 5. August bis 31. Oktober 2003 beigebracht würden. Zusätzlich sei ein Nachweis über die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen gegen den Sohn der Antragsteller entsprechend dem Schreiben vom 4. September 2003 erforderlich.

12

Im gerichtlichen Eilverfahren erster Instanz hat die Antragstellerin vorgetragen (Bl. 16 der Akte), sie halte die Vorlage der mit Schreiben vom 24. Oktober 2003 geforderten Unterlagen und Nachweise nach wie vor für notwendig. Sie ließ dabei unbeachtet, dass die Antragsteller jedenfalls die geforderten Auszüge des Girokontos und den noch nicht vorgewiesenen Auszug des Sparkontos bereits bei der Antragsgegnerin eingereicht hatten (Bl. 975 ff der Beiakte B).

13

Auch im Beschwerdeverfahren hat die Antragsgegnerin zunächst in Abrede gestellt, die streitigen Kontoauszüge erhalten zu haben (Schreiben vom 30. Dezember 2003 und vom 6. Januar 2004, Bl. 47, 59 der Akte). Im Hinblick auf die Verfolgung von Unterhaltsleistungen gegenüber dem Sohn der Antragsteller hat die Antragsgegnerin anfangs lediglich allgemein den Nachweis einer Geltendmachung verlangt, die Vorlage des Mandats für einen Fachanwalt für Familienrecht hat sie nicht mehr gefordert (Schreiben vom 22. Januar 2004, Bl. 76 der Akte). Nachdem die Antragsteller die Kontoauszüge auch zur Gerichtsakte gereicht und ein an ihren Sohn mit der Bitte um Zahlung von Unterhalt im Rahmen seiner Möglichkeiten gerichtetes Schreiben vorgelegt hatten, hat sich die Antragsgegnerin darauf zurückgezogen, bezüglich des Sparkontos sei lediglich ein Kontoauszug (und nicht das von ihr laut Vermerk vom 8. Oktober 2003 bereits geprüfte übrige Auszugsmaterial für dieses Konto) beigebracht worden. Hinsichtlich der Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen gegenüber dem Sohn der Antragsteller hat sie nun im Ergebnis wieder die Beauftragung eines Rechtsanwaltes und darüber hinaus - erstmals gegenüber den Antragstellern - die Geltendmachung detaillierter Auskunftsansprüche unter Fristsetzung gefordert (Schreiben vom 3. Februar 2004, Bl. 129 der Akte).

14

Ein derartiges unsystematisches Vorgehen der Antragsgegnerin kann im Rahmen eines gerichtlichen Eilverfahrens nur die Konsequenz haben, dass der Antragstellerin zu 2. die ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt vorläufig weiter zu gewähren ist. Dabei entspricht es der Praxis des Senats, in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes einen Sozialhilfeträger zur vorläufigen Gewährung von laufenden Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt ab frühestens dem Ersten des Monats zu verpflichten, in dem der Senat in der Sache entscheidet.