Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 04.04.2024, Az.: 2 A 26/21

Verwestlichung; Flüchtlingsschutz für verwestlichte Yezidin aus dem Irak

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
04.04.2024
Aktenzeichen
2 A 26/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 13740
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2024:0404.2A26.21.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Frage der notwendigen Verfolgungsdichte im Rahmen der Gruppenverfolgung kann offenbleiben, wenn eine geschlechtsspezifische Verfolgung der jeweiligen Asylsuchenden angesichts der individuellen Umstände ihres Falles beachtlich wahrscheinlich ist.

  2. 2.

    Auch bei verheirateten Frauen und Müttern kann eine "Verwestlichung" anzunehmen sein.

  3. 3.

    Maßgeblich für die "Verwestlichung" einer Asylsuchenden ist die Frage, inwiefern sie bereit ist, patriarchalische Rollenvorstellungen zu akzeptieren und sich sowohl ihrem Partner als auch anderen Männern unterzuordnen. Für eine "Verwestlichung" sprechen der Wille zu einer selbstbestimmten Lebensführung, die Offenheit gegenüber anderen Kulturen, Religionen und Werten, die Bereitschaft, die eigene Meinung auch gegen Widerstände zu verteidigen, und das Bestreben, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen.

  4. 4.

    Die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Yeziden wirkt auch für "verwestlichte" irakische Frauen gefahrerhöhend, ebenso das Fehlen eines schützenden (Groß-)Familienverbandes und prekäre Lebensverhältnisse im Herkunftsland.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Sie ist irakische Staatsangehörige, yezidischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens aus dem Dorf Siba Scheich Khidir in der Region Sindschar der Provinz Ninive. Die Klägerin ist verheiratet und hat mit ihrem Ehemann drei elf, neun und sechs Jahre alte Söhne.

Sie besuchte im Irak lediglich die Grundschule und war danach Hausfrau. Am 15.09.2017 verließ sie den Irak zusammen mit ihrem Ehemann, ihren zwei älteren Söhnen und dem jüngeren Bruder ihres Ehemanns und reiste mit ihnen u. a. über die Türkei und Ungarn am 11.12.2017 nach Deutschland ein. Sie stellten am 18.12.2017 einen förmlichen Asylantrag bei der Beklagten. Am 25.02.2018 wurde der dritte Sohn der Klägerin geboren. Sein Asylantrag gilt als am 12.03.2018 gestellt. In Deutschland leben vier Brüder des Ehemanns der Klägerin. Im Irak leben die Eltern der Klägerin und die ihres Ehemanns sowie fünf Brüder und zwei Schwestern der Klägerin und zwei Brüder und eine Schwester ihres Ehemanns.

Ein Bruder des Ehemanns der Klägerin hatte bereits am 17.09.2015 einen Asylantrag bei der Beklagten gestellt. In seiner Befragung zur Vorbereitung der Anhörung am selben Tag gab er an, er habe keinen Beruf erlernt und im Irak als Tagelöhner gearbeitet. In seiner persönlichen Anhörung am 23.05.2016 berichtete er u. a., dass zwei seiner Brüder früher bei der irakischen Armee gearbeitet hätten. Mit Bescheid vom 09.08.2016 erkannte die Beklagte ihm die Flüchtlingseigenschaft zu. Ein weiterer Bruder Ehemanns der Klägerin hatte am 09.02.2016 einen Asylantrag bei der Beklagten gestellt. In seiner persönlichen Anhörung am 15.02.2016 schilderte er u. a., dass er im Irak keine Arbeit gehabt habe. Die Beklagte erkannte ihm mit Bescheid vom 23.02.2016 ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft zu.

In seiner persönlichen Anhörung am 04.01.2018 berichtete der Ehemann der Klägerin, am 03.08.2014 habe der sog. "Islamische Staat" ihr Dorf in Sindschar überfallen. Er sei mit seiner Frau, seinen Kindern, seinen Eltern und Geschwistern in die Berge geflohen und dort acht Tage lang geblieben. Von dort aus seien sie zu Fuß weiter nach Syrien geflohen und dann weiter nach Kurdistan. Dort seien sie nach etwa sieben Tagen im Camp Sharya (auch: Sharia) aufgenommen worden und hätten erst in einem Schulgebäude und später in Zelten gelebt. Die Hitze im Sommer und die Kälte im Winter seien unerträglich gewesen. Sie hätten Essen von anderen Menschen erbetteln müssen. Sie seien dort drei Jahre geblieben, in denen er gelegentlich gearbeitet habe. Er habe jedoch keine Arbeit lange behalten, weil die Arbeitgeber Muslime gewesen seien, die ihn als Yeziden nicht beschäftigen wollten. Ein Zusammenleben mit Muslimen sei für ihn nicht mehr möglich. Er rechne damit, von ihnen umgebracht zu werden. Die Ausreise aus dem Irak sei ihnen jedoch lange aus finanziellen Gründen nicht möglich gewesen. Die Kosten der Ausreise von etwa 20.000 Euro hätten sie aus eigenen Ersparnissen bezahlt und indem sie sich Geld von Verwandten geliehen hätten. Auf der Flucht aus dem Irak nach Deutschland sei er an einer Grenze von Polizisten geschlagen worden und seine schwangere Frau hätten sie getreten. Im Camp Sharya lebten heute noch seine Eltern, zwei Brüder und eine Schwester von ihm.

Die Klägerin bestätigte in ihrer persönlichen Anhörung am selben Tag die Angaben ihres Ehemanns. Viele ihrer Familienangehörigen seien verschwunden und sie wüssten nicht, ob sie vom "IS" verschleppt worden seien oder was mit ihnen passiert sei. Die Versorgung im Flüchtlingscamp Sharya sei schlecht gewesen und als Yeziden könnten sie nur schwer Arbeit finden. Ihr Heimatdorf sei noch immer in den Händen des "IS". Die Ausreise habe ihr Vater bezahlt. Auf der Flucht hätten sie Sicherheitskräfte in den Bauch geschlagen, obwohl sie im fünften Monat schwanger gewesen sei. Sie habe Probleme mit den Augen und könne nicht so gut sehen, sei deswegen aber nicht in ärztlicher Behandlung. Alle ihre Verwandten im Irak lebten in Flüchtlingscamps.

Im Rahmen der Durchführung eines Dublin-Verfahrens teilten die ungarischen Behörden der Beklagten am 11.01.2018 mit, dass Ungarn der Klägerin, ihrem Ehemann und ihren zwei älteren Söhnen am 30.10.2017 den subsidiären Schutzstatus zuerkannt habe.

Mit Bescheid vom 14.01.2021 lehnte die Beklagte für die Klägerin, ihren Ehemann und ihre zwei älteren Söhne die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), die Anerkennung als Asylberechtigte (Ziffer 2) und die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab, stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 4), drohte die Abschiebung in den Irak an (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate (Ziffer 6). Sie begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass es der Klägerin und ihren Angehörigen möglich gewesen sei, vor ihrer Ausreise drei Jahre lang in einem Flüchtlingscamp zu leben, ohne dass ihnen dort etwas zugestoßen sei. Zudem sei es ihnen gelungen, 20.000 Euro für die Ausreise aufzubringen. Eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak bestehe nicht mehr. Es sei ihnen möglich, im Irak mit Gelegenheitsarbeiten und durch Unterstützung ihrer Verwandten ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu führen.

Die Klägerin, ihr Ehemann und ihre zwei älteren Söhne haben am 02.02.2021 Klage erhoben.

Mit Bescheid vom 27.05.2021 lehnte die Beklagte auch den Asylantrag des jüngsten Sohnes der Klägerin ab und wiederholte die Begründung zur Entscheidung im Verfahren seiner Eltern und Geschwister.

Der jüngste Sohn der Klägerin hat am 14.06.2021 Klage erhoben (2 A 162/21).

Die Klägerin und ihre Angehörigen halten die angefochtenen Bescheide für rechtswidrig und argumentieren, die Beklagte müsse ihnen zumindest den subsidiären Schutzstatus zuerkennen, weil dieser der Klägerin, ihrem Ehemann und ihren zwei älteren Söhnen in Ungarn bereits zuerkannt worden sei. An diese Feststellung sei die Beklagten gebunden. Außerdem habe die Beklagte im an den jüngsten Sohn der Klägerin adressierten Dublin-Bescheid vom 16.05.2018 festgestellt, dass dieser nicht in den Irak abgeschoben werden dürfe. Diese Regelung sei in Bestandskraft erwachsen.

Der Klägerin, ihrem Ehemann und ihren Söhnen drohe im Irak eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Die Sicherheitslage in Sindschar sei immer noch volatil und habe sich durch die anhaltenden Angriffe der Türkei weiter verschärft. Auch die Terrormiliz "IS" sei im Rahmen asymmetrischer Kriegsführung noch immer gefährlich.

Sich in einem Flüchtlingscamp niederzulassen sei der Klägerin und ihren Angehörigen nicht zumutbar. Zum einen sei nach derzeitiger Erkenntnislage nicht sicher, ob sie dort Aufnahme finden würden, zum anderen sei nicht davon auszugehen, dass die Eltern den Lebensunterhalt der Familie sichern könnten. Die Yeziden seien auf dem Arbeitsmarkt Diskriminierungen ausgesetzt und der Arbeitsmarkt sei mit Tagelöhnern überschwemmt. Schon vor der Ausreise der Familie habe der Ehemann der Klägerin keine Arbeitsstelle finden können, sondern habe lediglich durch das Anfertigen von Kopien kleinere Geldbeträge verdient. Er habe in Deutschland eine Ausbildung zum Friseur begonnen, aber noch nicht abgeschlossen. Außerdem würden sich muslimische Menschen im Irak nicht von einem Yeziden die Haare schneiden lassen.

Zudem sei der Ehemann der Klägerin vor dem Genozid an den Yeziden im Jahr 2014 Angehöriger der zentralirakischen Armee gewesen. Diesen Umstand habe er in der Anhörung bei der Beklagten nicht erwähnt, weil er über keine amtlichen Nachweise mehr verfügte und befürchtet habe, damit einen falschen Eindruck von seiner Person zu vermitteln. Wegen seiner früheren Armeezugehörigkeit sei er während des Aufenthalts der Familie im Flüchtlingslager Sharya mehrfach von Kräften der Asayish vorgeladen, befragt und dazu aufgefordert worden, sich den kurdischen Peschmerga anzuschließen. Er habe die Vorladungen als demütigend empfunden und damit gerechnet, zu einer Zusammenarbeit, etwa als Informant, gezwungen zu werden.

Das Haus der Familie in ihrem Heimatdorf Siba Sheikh Khidir sei durch den "IS" zerstört worden und der Grund und Boden, auf dem es errichtet gewesen sei, habe ihnen auch nie offiziell gehört. Das Geld, welches sie sich zum Zwecke der Ausreise aus dem Irak von Verwandten geliehen hätten, hätten sie noch immer nicht zurückzahlen können. Ihre Angehörigen im Irak lebten unter schwierigsten Bedingungen in Vertriebenenlagern und seien selbst auf Unterstützung angewiesen. Die in Deutschland lebenden Verwandten der Klägerin und ihres Ehemanns hätten eigene Familien, die sie finanzieren müssten.

Mit Beschluss vom 08.03.2024 hat die Einzelrichterin das Verfahren der Klägerin, ihres Ehemanns und ihrer zwei älteren Söhnt mit dem ihres jüngsten Sohnes zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Mit Beschluss vom 12.04.2024 hat die Einzelrichterin sodann das Verfahren der Klägerin von dem ihres Ehemanns und ihrer Söhne abgetrennt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid der Beklagten vom 14.01.2021 hinsichtlich der Ziffern 1 und 3 bis 6 aufzuheben und ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus, weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Irak bestehen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

In der mündlichen Verhandlung berichtete der Ehemann der Klägerin, dass er von 2009 bis 2014 und sodann erneut um die sechs bis acht Monate vor der Ausreise der Familie im Jahr 2017 aus dem Irak beim irakischen Militär gedient habe. Als Soldat habe er etwa Wache gehalten oder Straßen für Zivilisten gesichert. Mit dem Militärdienst habe er ein höheres Einkommen erzielen können, als ihm dies mit Tagelöhnertätigkeiten möglich gewesen sei. Als er genug Geld für die Ausreise aus dem Irak zusammengespart habe, sei er mit seiner Familie während seines Urlaubs zunächst in die Türkei gegangen, ohne zuvor seinen Dienst zu quittieren. Damals habe er nicht gewusst, ob die illegale Ausreise von der Türkei nach Europa gelingen werde, sodass er sich die Option habe offenhalten wollen, zum Militär zurückzukehren. Weil er nicht gekündigt habe, betrachte ihn das irakische Militär nun aber als Deserteur und werde ihn deshalb im Falle einer Rückkehr in den Irak anklagen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die elektronischen Asylakten der Beklagten für die Klägerin, ihren Ehemann und ihre Söhne und zwei der Brüder des Ehemanns der Klägerin Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Einzelrichterin (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 04.04.2024 teilgenommen hat, weil sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Folge hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Klage ist begründet. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 14.01.2021 ist im Hinblick auf die Klägerin rechtswidrig und verletzt sie in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Der Klägerin steht im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

Ein Ausländer ist Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk"), drohen (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.10.2020 - 9 A 1980/17.A -, juris Rn. 32). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Gesichtspunkte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.02.2019 - 1 B 2/19 -, juris Rn. 6; BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 -, juris; Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, juris Rn. 17).

Im Rahmen einer realitätsnahen Rückkehrprognose ist davon auszugehen, dass die Klägerin zusammen mit ihrem Ehemann und ihren drei minderjährigen Söhnen in den Irak zurückkehren und sich dort wieder in ihr Heimatdorf Siba Sheikh Khidir begeben würde. Zwar lebte die Familie bis zu ihrer Ausreise im Flüchtlingslager Sharya in der Autonomen Region Kurdistan-Irak, doch aufgrund neuester Erkenntnismittel kann nicht mehr mit der notwendigen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sie dort oder in einem anderen kurdischen Flüchtlingslager erneut Aufnahme finden würden.

Denn die irakische Regierung von Kurdistan-Irak setzt ihre im Herbst letzten Jahres angekündigten Pläne zur Schließung der Geflüchtetenlager mittlerweile in die Tat um. Am 25.10.2023 gab ein Sprecher des irakischen Migrationsministeriums bekannt, dass die irakische Regierung zusammen mit der UN einen Plan erarbeite mit dem Ziel, die Flüchtlingslager für irakische Binnenvertriebene in der Autonomen Region Kurdistan zu schließen. Die Pläne sehen die Rückkehr der Betroffenen in ihre Heimatregionen vor (BAMF, Briefing Notes Zusammenfassung. Irak - Juli bis Dezember 2023, 31.12.2023, S. 7).

Mitte November 2023 wurde sodann das Lager Kurto (auch: Qoratu) in der Provinz Sulaimaniya geschlossen (Syriac Press, 17.11.2023, https://syriacpress.com/blog/2023/11/17/iraq-closes-kurto-camp-in-kurdistan-region-signaling-milestone-in-resolution-of-displacement/; Kuwait News Agency (KUNA), 14.12.2023, https://www.kuna.net.kw/ArticleDetails.aspx?id=3126681&Language=en). Die Familien, die nicht in ihre Herkunftsregionen zurückkehrten, zogen daraufhin in das nahe gelegene Binnenvertriebenenlager Tazade um (USAID, Iraq - Complex Emergency, 22.01.2024, S. 2 f.). Am 14.12.2023 hat die irakische Regierung sodann bekannt gegeben, dass das zweitgrößte Flüchtlingslager der Region für Binnenvertriebene in Arbat, ebenfalls in der Provinz Sulaimaniya, aus finanziellen Gründen geschlossen wurde. Zuvor seien die letzten Bewohnerinnen und Bewohner in ihre Heimatorte zurückgekehrt. Der Direktor der kurdischen Migrationsbehörde widersprach dieser Darstellung und teilte mit, dass weniger als die Hälfte der Familien zurückgekehrt seien und die verbliebenen Familien in ein anderes Flüchtlingslager verlegt wurden. Quellen innerhalb des Lagers erklärten, dass die Vertriebenen gezwungen worden seien, das Lager zu verlassen. Viele seien in das Lager Ashti abgewandert, das aufgrund des Zustroms von Vertriebenen nunmehr überbelegt sei. Dagegen, dass sämtliche Bewohner der Camps Kurto und Arbat freiwillig in ihre Herkunftsorte zurückgekehrt sind, spricht auch, dass sich nach den Erhebungen des CCCM Cluster und der REACH Initiative im Februar 2023 noch 100 % (Kurto) bzw. 93 % (Arbat) der Bewohner der Lager angaben, im Camp bleiben zu wollen (REACH Initiative, Iraq: IDP Camp Profiling, Camp Directory - Round XVI, Februar 2023, S. 13, 22). Im März 2024 wurde sodann das Lager Tazade, welches vorher noch Bewohner des Camps Kurto aufgenommen hatte, in Sulaimaniya geschlossen und die Schließung des Lagers Ashti ist - offenbar ungeachtet der bestehenden Überbelegung - für die nahe Zukunft geplant (Iraqi News Agency, 19.03.2024, https://ina.iq/eng/31915-iraq-announces-on-closing-tazade-camp-in-sulaymaniyah.html; Kashan Mazood, Channel 8, Iraqi minister files complaint against Kurdistan Region officials in Federal Court, 23.03.2024, https://channel8.com/english/11401).

Schon im Januar 2024 verkündete das irakische Ministerium für Migration, dass die Regierung die verbleibenden Lager für Binnenvertriebene in der Region Kurdistan bis zum 30.07.2024 schließen werde (Enabling Peace in Iraq Center, ISHM: January 18 - January 25, 2024, 25.01.2024, https://enablingpeace.org/ishm432/#Headline3). Berichten zufolge wurde zudem der Druck auf Binnenvertriebene erhöht, um diese zur Rückkehr in ihre Herkunftsorte zu bewegen (BAMF, Briefing Notes Zusammenfassung. Irak - Juli bis Dezember 2023, 31.12.2023, S. 11; Dana Taib Menmy, MENA, 19.12.2023, https://www.newarab.com/news/lack-funds-forces-closure-idp-camp-iraqi-kurdistan). Das irakische Ministerium für Migration und Vertriebene schuf zunächst finanzielle Anreize in Form von Unterstützungsleistungen für die Rückkehrer, stellte sodann jedoch klar, dass diese Hilfen wie auch sämtliche finanzielle Unterstützung für die verbliebenen Vertriebenenlager mit Ablauf des 30.07.2024 eingestellt würden (Rudaw, Iraq to stop all aid to IDP camps July 30, 17.03.2024, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/170320242). Schon bei den früheren Schließungen der Vertriebenenlager im Zentralirak kam es mehrfach dazu, dass Personen aus ehemals vom "IS" kontrollierten oder vom Konflikt betroffenen Gebieten von lokalen Behörden oder anderen Akteuren aufgrund der vermuteten Nähe zum "IS" und aus ethnisch-konfessionellen Gründen zur Rückkehr in ihre Heimatregionen gedrängt oder gezwungen wurden. Die Familien wurden in einigen Fällen nur 24 Stunden im Voraus darüber informiert, dass sie die Lager, in denen sie jahrelang gelebt hatten, verlassen mussten. Einigen von ihnen wurde der Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung verwehrt und sie wurden obdachlos (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Irak, 28.03.2024, S. 255 f.).

Aktuell verklagt die irakische Zentralregierung die kurdische Regionalregierung vor dem Obersten Bundesgericht des Irak, mit dem Ziel, die Schließung aller Vertriebenenlager bis zum Ablauf der festgesetzten Frist umzusetzen (Kashan Mazood, Channel 8, Iraqi minister files complaint against Kurdistan Region officials in Federal Court, 23.03.2024, https://channel8.com/english/11401; Rudaw, Baghdad takes KRG to court over closing IDP camps, 29.03.2024, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/290320242). Angesichts dieser Entwicklungen erscheint es äußerst unwahrscheinlich, dass die kurdische Regionalregierung noch die Aufnahme weiterer Bewohner in die umstrittenen Camps zulassen wird.

Das yezidische Heimatdorf der Klägerin Siba Sheikh Khidir (auch: al-Dschazira/al-Jazirah) liegt südlich des Sindschar-Gebirges in der Provinz Ninive und zählt zu den zwischen der irakischen Zentralregierung und der kurdischen Regierung umstrittenen Gebieten des Irak. Es ist eines von mehreren sog. "Modelldörfern", welche seit 1965 vom Baath-Regime im Irak errichtet wurden. Die damalige irakische Regierung vertrieb die Yeziden aus ihren angestammten Heimatorten, zerstörte diese teilweise unter Einsatz von Bulldozern und siedelte die Bewohner in die "Modelldörfer" um (Irene Dulz: Die Yeziden im Irak: zwischen "Modelldorf" und Flucht, 2001, S. 54-55). Im Jahr 2014 gehörte Siba Sheikh Khidir zu den yezidischen Dörfern, welche von der Terrormiliz "Islamischer Staat" überfallen, geplündert und zerstört wurden (Landesverband der Êzîden in Niedersachsen, 2019, https://eziden-niedersachsen.de/gedenken-an-die-jesidischen-opfer-in-til-ezer- und-siba-sheikh-khidir). Die von der Regierung der kurdischen Autonomieregion dort stationierten Peschmerga entfernten sich bei der Großoffensive des "IS", anstatt die Yeziden zu verteidigen (Ezidi Press, 03.08.2015, https://www.ezidipress.com/blog/der-verrat-von-shingal/). Allein im August 2014 sollen in Shiba Sheikh Khidir 47 yezidische Bewohner getötet und 107 weitere entführt worden sein (Yezidi Press, 30.08.2014, https://www.ezidipress.com/blog/liste-der-opfer-aus-siba-sheikh-khidir-107-entfuehrte-47-getoetete-menschen/). Noch immer befinden sich dort mehrere Massengräber (Karwan Faidhi Dri, Rudaw, Remains of three people believed to be killed by ISIS found in Shingal, 09.04.2021, 07.11.2022, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/090420212). Bis zum Jahr 2021 waren etwa 100 Familien der zuvor um die 7.000 Bewohner des Dorfes wieder zurückgekehrt und versuchen es wiederaufzubauen. Die Rückkehrer beklagen allerdings mangelnde finanzielle Unterstützung durch die irakische Regierung. Zudem fehlt es in dem Dorf an medizinischer Versorgung, Trinkwasser, Strom sowie befestigten Straßen (Evîn Zenda, Jinha Agency, https://jinhaagency.com/en/actual/life-sprouts-again-in-siba-sheikh-khidir-32225; Kirkuk Now, War-torn settlement deprived of healthcare and utilities, 12.04.2021, https://kirkuknow.com/en/news/65280).

Der Klägerin droht in Siba Sheikh Khidir wie auch in anderen Regionen des Irak Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe "verwestlichter", d. h. in ihrer Identität durch westliche Werte und Moralvorstellungen geprägter Frauen.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabes bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie - beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa - in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder ihnen diese Anpassung infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Braunschweig, Urteil vom 16.09.2022 - 2 A 434/18 -, n. v.; VG Braunschweig, Urteil vom 26.01.2023 - 2 A 172/19 -, juris; VG Hannover, Urteil vom 11.10.2023 - 3 A 3158/23 -, juris Rn. 17 m. w. N.; VG Göttingen, Urteil vom 07.06.2021 - 2 A 44/18 -, juris Rn. 30; VG Stade, Urteil vom 23.07.2019 - 2 A 19/17 -, juris Rn. 41; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -, juris Rn. 33; ebenso speziell für alleinstehende, verwestlichte Frauen: VG Berlin, Urteil vom 20.01.2022 - 29 K 107.17 A -, juris Rn. 22; ebenso speziell für irakische Yezidinnen: VG Hannover, Urteil vom 27.10.2022 - 3 A 5642/18 -, juris Rn. 23; abgelehnt für irakische Yezidinnen: VG Hannover, Urteil vom 21.11.2022 - 12 A 1928/18 -, juris Rn. 32). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen dieser Merkmale von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.

Die Einzelrichterin lässt offen, ob verwestlichten Frauen im Irak eine Gruppenverfolgung im engeren Sinne nach den strengen Kriterien des Eufach0000000030s droht oder ob eine Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit im Einzelfall aufgrund der individuellen Situation der jeweiligen Klägerin zu prüfen ist. Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass Verfolgungshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15/05 -, juris Rn. 20; Beschluss vom 23.12.2002 - 1 B 42/02 -, juris Rn. 5; Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, juris Rn. 18). Die Prognose einer Einzelverfolgung, die neben anderen die Verfolgungsgefahr auslösenden Umständen auch die Zugehörigkeit zu einer dem Verfolger missliebigen Gruppe berücksichtigt, setzt demgegenüber nicht voraus, dass die Verfolgung von Angehörigen dieser Gruppe bereits eine Dichte erreicht hat, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt. Für eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit, die mit einer "Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit" begründet wird, gilt das Erfordernis der Verfolgungsdichte deshalb nicht (VG Hannover, Urteil vom 26.11.2021 - 12 A 11589/17 -, juris Rn. 32; BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14/96 -, juris Rn. 4). Valide Statistiken über die Anzahl geschlechtsspezifischer Übergriffe auf westlich geprägte Frauen in einem bestimmten Zeitraum existieren nach derzeitiger Kenntnis der Einzelrichterin nicht. Im Ergebnis kann die Frage der notwendigen Verfolgungsdichte aber offenbleiben, weil für die Klägerin jedenfalls angesichts der individuellen Umstände ihres Falles die beachtliche Gefahr einer Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe verwestlichter Frauen zu bejahen ist.

Während eines Großteils des 20. Jahrhunderts machten die Frauen im Irak erhebliche Fortschritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung und erreichten relativ hohe Raten bei der Hochschulbildung und der Beschäftigung in Berufen und im öffentlichen Dienst. Viele dieser Fortschritte wurden in der zweiten Hälfte der Regierungszeit Saddam Husseins wieder zunichtegemacht. Seit der Militäraktion unter Führung der USA im Jahr 2003 führten bewaffnete Konflikte und das Wiedererstarken stammesbezogener und religiöser Einflüsse zu einer ernsthaften Verschlechterung der Lage der Frauen im Irak. Auch wenn die individuellen Umstände variieren, sind Frauen im gesamten Spektrum der irakischen Gesellschaft von Problemen wie einer hohen Rate häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt, einer geringen wirtschaftlichen Teilhabe, ungerechten Gesetzen, missbräuchlichen kulturellen Praktiken, dem Ausschluss von Entscheidungsprozessen und unzureichendem staatlichen Schutz betroffen (Australian Government Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), DFAT Country Information Report Iraq, 16.01.2023, S. 29).

Zwar ist in der irakischen Verfassung die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25 % im Parlament (Autonome Region Kurdistan-Irak (RKI): 30 %) verankert. In politischen Entscheidungsprozessen spielen Frauen jedoch eine untergeordnete Rolle. Nur wenige Frauen nehmen Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft ein. Auf einfachgesetzlicher Ebene findet die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben im Irak verhindert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 11 f.). Die Bewegungsfreiheit von Frauen wird durch gesetzliche Bestimmungen eingeschränkt. So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist. Frauen wird überproportional häufig der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen liegt bei etwa 11% (Stand 2022), ein Abfall gegenüber 15% im Jahr 2016. Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind (BFA, a. a. O., S. 201).

In irakischen Familien sind patriarchalische Strukturen und sog. "Ehrenverbrechen" bis hin zu "Ehrenmorden" weit verbreitet. Häusliche Gewalt ist alltäglich und kann sowohl durch triviale Streitereien als auch durch vermeintliche "Ehrverletzungen" ausgelöst werden, weshalb die Übergänge zwischen häuslicher Gewalt und sog. "Ehrverbrechen" in der Praxis oft fließend sind (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Kurzinformation Irak. Geschlechtsspezifische Gewalt, 01.05.2023, S. 1). Die Familien- und die individuelle Ehre wird ausschließlich von Männern gehalten und kann verloren oder wiedergewonnen werden. Frauen dagegen können nur eine Quelle der Familien- oder individuellen "Schande" sein, und können nicht aktiv Ehre in ihre Familie oder ihren Stamm bringen (BFA, a. a. O., S. 211). In der Autonomen Region Kurdistan-Irak sprechen sich zwar sowohl Politik als auch Rechtslage ausdrücklich gegen "Ehrenmorde" aus. In einigen gesellschaftlichen Gruppen gilt der "Ehrenmord" allerdings immer noch als rechtfertigbar (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 12; BFA, a. a. O., S. 212). Während sexuelle Übergriffe, wie z. B. Vergewaltigung, sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer strafbar sind, sieht Art. 398 des irakischen Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen aufgrund von Vergewaltigung fallen gelassen werden können, wenn der Angreifer das Opfer heiratet. Dies gilt sowohl im Irak als auch in der Autonomen Region Kurdistan-Irak. Eine Bestimmung verhindert hierbei eine Scheidung innerhalb der ersten drei Ehejahre. Dies trifft auch zu, wenn das Opfer minderjährig ist. Vergewaltigung innerhalb der Ehe stellt keine Straftat dar. Die Bemühungen irakischer Frauenrechtsorganisationen, das Parlament zur Verabschiedung eines Gesetzes zum Verbot geschlechtsspezifischer Gewalt zu bewegen, blieben bisher erfolglos, obwohl der Ruf nach Gesetzen gegen häusliche Gewalt im Irak wieder lauter geworden ist (BFA, a. a. O., S. 203).

Fälle von (tödlicher) geschlechtsspezifischer Gewalt kommen in ganz Irak, inklusive in der kurdischen Region, häufig vor (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes Irak, 26.06.2023, S. 4). Geschlechtsspezifische Gewalt ist nicht nur auf den häuslichen bzw. familiären Rahmen begrenzt, sondern wird auch von Personen verübt, die nicht in einer persönlichen Beziehung zu den jeweiligen Frauen stehen. Dies betrifft vor allem Frauen in öffentlichen oder halb-öffentlichen Positionen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Kurzinformation Irak. Geschlechtsspezifische Gewalt, 01.05.2023, S. 4). 2020 wurden 30 Fälle von konfliktbezogener sexueller Gewalt durch bewaffnete Akteure, hauptsächlich gegen Frauen verzeichnet. In der RKI ist die Zahl der Frauenmorde gestiegen. Allein in den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 wurden in der RKI elf Frauen getötet, die meisten von ihnen durch Schüsse. 2021 waren es 45 Frauen, 2020 waren es 25 Frauen (BFA, a. a. O., S. 204). Landesweit soll im Jahr 2022 die Tötung von mindestens 150 Frauen mit dem Vorwand des "Ehrenmordes" gerechtfertigt worden sein (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2022 Human Rights Report, 20.03.2023, S. 51). Nach Ermittlungen des General Directorate for Combatting Violence Against Women (GDCVAW), einer Behörde des kurdisch-irakischen Innenministeriums, wurden im Jahr 2021 in Kurdistan-Irak 24 Frauen getötet, 26 Frauen begingen Selbstmord, 86 Frauen wurden verbrannt, 153 Frauen wurden sexuell belästigt und 13.259 Frauen berichteten über sonstige Gewalt gegen sie (Staatssekretariat für Migration Schweiz (SEM), Notiz Irak. Irakische Region Kurdistan - Gesetz gegen häusliche Gewalt, 09.02.2023, S. 7). Die Weltgesundheitsorganisation schätzte in einem Bericht aus 2022, dass 1,32 Millionen Menschen im Irak von verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht sind, und mehr als 75 Prozent von ihnen sind Frauen und heranwachsende Mädchen (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2022 Human Rights Report, 20.03.2023, S. 51).

Flüchtlinge und Binnenvertriebene berichten von regelmäßiger sexueller Belästigung, sowohl in den Flüchtlingslagern als auch in den Städten. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass das Sicherheitspersonal von Vertriebenenlagern weibliche Binnenvertriebene zu sexuellen Gefälligkeiten im Austausch für die Bereitstellung von Grundversorgungsleistungen aufforderte. Zu den Tätern sexuellen Missbrauchs gehören neben Lagerbewohnern und Personal manchmal auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen oder Behördenmitarbeiter (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2022 Human Rights Report, 20.03.2023, S. 54 ff.). Auch die Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilization Forces, PMF) sollen häufig für die sexuelle Ausbeutung von Frauen in Vertriebenenlagern verantwortlich sein (EUAA, Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 74). Dabei ist zu beachten, dass sich Berichten zufolge die Truppenstärke der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten innerhalb der letzten zwei Jahre verdoppelt hat (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes Irak, 15.05.2023, S. 4).

Sowohl Männer als auch Frauen stehen im Irak unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. Personen, die als nicht konform mit den lokalen sozialen und kulturellen Normen angesehen werden, weil sie ein "westliches" Verhalten an den Tag legen, sind Drohungen und Angriffen von Einzelpersonen aus der Gesellschaft sowie von Milizen ausgesetzt. Volksmobilisierungskräfte (PMF) haben es auf Personen abgesehen, die Anzeichen für eine Abweichung von ihrer Auslegung der schiitischen Normen zeigen, manchmal mit Unterstützung der schiitischen Gemeinschaft. Einige Muslime bedrohen weiterhin Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, Kopftuch zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an strenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten (European Union Agency for Asylum (EUAA), Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 112). Alleinerziehende Mütter und Frauen, die allein leben, sind Stigmatisierung ausgesetzt (DFAT, a. a. O., S. 30). Für Frauen außerhalb des Hauses zu arbeiten wird in weiten Teilen der Gesellschaft als inakzeptabel angesehen. Berufe wie die Arbeit in Geschäften, Restaurants oder in den Medien werden als etwas Schändliches betrachtet. Gleiches gilt für die Teilnahme an lokaler und nationaler Politik. So wurden weibliche Aktivisten, die an politischen Protesten teilnahmen, in Gegenkampagnen als promiskuitiv verunglimpft (BFA, a. a. O., S. 218). Die International Crisis Group stellte Anfang 2020 während der Tishreen-Proteste fest, dass derartige Verleumdungskampagnen Familien davon abhielten, ihren Töchtern die Teilnahme an den Protesten zu erlauben (EUAA, Iraq: Targeting of Individuals, Januar 2022, S. 74). Im Zuge des Frauenmarsches am 13.02.2020 gegen die Forderungen des schiitischen Religionsführers Muqtada as-Sadr für eine Geschlechtertrennung auf öffentlichen Plätzen wurden weibliche Demonstranten mit Tränengas angegriffen, bedroht, attackiert, entführt und in einigen Fällen getötet (BFA, a. a. O., S. 218).

Aktuell vollzieht sich in der Autonomen Region Kurdistan-Irak ein kultureller Wandel. Frauen und Mädchen sind sich ihrer bürgerlichen Rechte und Freiheiten zunehmend bewusst und mehr Frauen als je zuvor nehmen am Arbeitsleben teil. Dennoch nimmt die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen weiter zu und wird begünstigt durch gesellschaftliche Faktoren wie etwa Hassreden gegen Frauen in den sozialen Netzwerken, welche in der RKI zur Normalität geworden sind. Wenn Nachrichtenplattformen über "Ehrenmorde" berichten, lobt eine beträchtliche Anzahl von Menschen die Täter und rechtfertigt die Tat. Das Bildungssystem der RKI kann nicht Schritt halten mit der Schnelligkeit der Veränderungen, die die sozialen Medien ermöglichen (Ruwayda Mustafah, Washington Institute, 28.03.2022, https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/addressing-violence-against-women-iraqi-kurdistan). Der Hohe Rat für Frauenangelegenheiten der RKI und die Generaldirektion für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (DCVAW) erklärten, dass die Online-Belästigung von Mädchen und Frauen stark zugenommen habe. Nach Angaben der DCVAW gehen 75 Prozent der Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt auf soziale Netzwerke zurück (U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2021 Human Rights Report, 12.04.2022, S. 48).

Auf Grundlage dieser Erkenntnisse ist anzunehmen, dass der Klägerin im Irak Verfolgung von Seiten der Volksmobilisierungskräfte und sonstiger männlicher Einzelpersonen und somit durch nichtstaatliche Akteure gemäß § 3c Nr. 3 AsylG droht. Die Einzelrichterin ist nach eingehender Befragung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung überzeugt davon, dass die Klägerin westliche Werte wie insbesondere das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie die gesellschaftliche Teilhabe durch freie Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit in einem Maße verinnerlicht hat, welches es ihr unzumutbar macht, sich wieder in ihr Heimatdorf Siba Sheikh Khidir oder auch an einen anderen Ort in Sindschar oder der RKI zu begeben und sich dort den Wertvorstellungen der noch immer patriarchal geprägten Mehrheitsgesellschaft anzupassen.

Die Klägerin lebt nunmehr seit ihrem 21. Lebensjahr und seit insgesamt 6,5 Jahren in Deutschland und hat sich währenddessen an die offene Gesellschaft in Deutschland gewöhnt und ein selbstbewusstes und souveränes Auftreten entwickelt. Sie zeigte sich in der mündlichen Verhandlung bestrebt, alle Fragen der Einzelrichterin ohne Hilfe des anwesenden Dolmetschers auf Deutsch zu beantworten und schilderte eindrücklich, wie sie durch ihre Flucht aus dem Irak und die Einreise nach Deutschland viele Freiheiten hinzugewonnen habe, die ihr im Irak gefehlt hätten. So habe sie etwa die Chance bekommen, einen Führerschein zu machen und selbst Auto zu fahren, sie könne Hosen tragen anstelle langer Röcke und sich alleine oder auch mit ihren Kindern frei in der Öffentlichkeit bewegen. Die Klägerin scheut offenbar nicht davor zurück, ihre Meinung auch gegen Widerstände zu behaupten und beschrieb etwa, wie sie im Schulunterricht von der Verfolgungsgeschichte der Yeziden berichtet hätte und dabei mit muslimischen Mitschülern in Konflikt geraten sei. Zudem gab die Klägerin an, dass sie Wert lege auf politische Teilhabe und den Wunsch habe, sich in Zukunft auch in Deutschland an Wahlen beteiligen und die Gesellschaft so mitgestalten zu können.

Es sei ihr wichtig, für ihre Söhne eine starke Mutter und ein gutes Vorbild zu sein, weshalb sie sich bemühe, ihren Hauptschulabschluss zu erlangen und danach eine Ausbildung zur Erzieherin oder Friseurin zu beginnen. Es sei für sie aber auch nicht ausgeschlossen, einen typischen "Männerberuf" zu ergreifen, wenn sie die Tätigkeit interessant finde. Mit starren Rollenvorstellungen könne sie sich nicht identifizieren und halte es für völlig normal, wenn etwa ein Mädchen Fußball spielen wolle oder ein Junge viel weine, weil alle Menschen unterschiedlich seien. Auch gegenüber den Muslimen in Deutschland habe sie keine Vorbehalte und würde sich anders als ihre irakischen Verwandten auch nicht daran stören, falls ihre Söhne sich später für eine nicht-yezidische Partnerin entscheiden würden. Mit ihrem Ehemann lebt die Klägerin eine gleichberechtigte Partnerschaft, in der sich beide Ehepartner gegenseitig im Haushalt und bei der Betreuung der Kinder unterstützen. Die Klägerin beschrieb glaubhaft, dass ihr Ehemann sich nicht in ihre persönlichen Entscheidungen, etwa zur Wahl ihrer Kleidung oder Gestaltung ihrer Freizeit, einmische und oft auch alleine etwas mit den Kindern unternehme, damit sie die Gelegenheit bekomme, mit ihren Freundinnen auszugehen.

Zwar stammt die Klägerin aus einer toleranten Familie, die ihre Entwicklung befürwortet, allerdings leben ihre Eltern und Geschwister sämtlich noch in einem Vertriebenenlager in Dohuk in Kurdistan-Irak und beabsichtigen demnächst alle bis auf einen Bruder das Land zu verlassen und dem jüngsten Bruder der Klägerin zur Familienzusammenführung in die Niederlande zu folgen. Auch die Eltern und Geschwister des Ehemanns der Klägerin leben derzeit noch im Camp Keberto in Dohuk. In ein geschütztes familiäres Umfeld außerhalb ihrer Kernfamilie wird die Klägerin deswegen voraussichtlich nicht zurückkehren können. Ihre Gefährdung verschärft sich dadurch, dass ihrem Ehemann im Irak strafrechtliche Verfolgung einschließlich der Verhängung einer Haftstrafe wegen seiner Desertation aus dem Dienst bei der irakischen Armee droht. Nach dem irakischen Militärstrafgesetzbuch wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft, wer ohne rechtlich zulässigen Grund seiner Einheit oder seinem Dienstort fernbleibt oder die Dauer seines Urlaubs in Friedenszeiten um mehr als 15 Tage (für untere Dienstgrade) bzw. zehn Tage (für Offiziere) überschreitet (EUAA, Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 98). Schon vor der Ausreise aus dem Irak wurde der Ehemann der Klägerin nach seinen detaillierten Schilderungen mehrfach wegen seiner Tätigkeit für das irakische Militär vom kurdischen Sicherheitsdienst Asayish verhört, sodass nicht anzunehmen ist, dass er seine frühere Tätigkeit bei einer Rückkehr in den Irak wird verheimlichen können. Selbst wenn der Ehemann der Klägerin nur für eine kurze Zeitspanne inhaftiert würde, so wäre die Klägerin währenddessen mit ihren Söhnen auf sich alleine gestellt.

Doch selbst dann, wenn ihr Ehemann einer Verhaftung entgehen könnte, wäre die Gefährdung der Klägerin gegenüber anderen westlich bzw. freiheitlich geprägten irakischen Frauen erhöht. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die Klägerin, ihr Ehemann und ihre Kinder Yeziden sind. Die Yeziden waren in ihren traditionellen Siedlungsgebieten des Nordirak seit Sommer 2014 durch den Vormarsch der Terrororganisation "Islamischer Staat" systematischer Verfolgung allein wegen ihres Glaubens ausgesetzt, vor der sie weder hinreichenden Schutz von Seiten des irakischen Staates noch seitens schutzbereiter Organisationen erhielten. Im Rahmen der gezielten Verfolgung von yezidischen Glaubenszugehörigen durch den sog. "Islamischen Staat" wurden zwischen 30.000 und 40.000 Yeziden aus ihrem Stammland um Sindschar vertrieben. Tausende Yeziden wurden im Rahmen des Vormarsches des "Islamischen Staates" in ihren Dörfern in der Provinz Ninive getötet oder gefangengenommen. Es kam zu Zwangskonversion, Massenvertreibungen und -hinrichtungen sowie Verschleppungen und sexueller Gewalt, insbesondere gegen Frauen und Kinder (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 12.02.2018). Das Schicksal von ca. 2.800 Entführungsopfern bleibt weiterhin ungewiss und zahlreiche Yezidinnen befinden sich noch immer in der Hand ihrer Entführer (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 17 f.). Der Deutsche Bundestag hat am 19.01.2023 die Verbrechen des "Islamischen Staates" an den Yeziden als Völkermord anerkannt (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw03-de-jesiden-927032; Antrag s. BT-Drs. 20/5850).

Zwar hat der "IS" seine früheren Herrschaftsgebiete im Irak weitgehend verloren. Die von ihm kontrollierten Gebiete wurden nach und nach durch irakische Sicherheitskräfte und kurdische Peschmerga befreit (vgl. Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 18.02.2016, S. 9, und vom 12.02.2018, S. 4). Der "IS" ist allerdings im Verborgenen weiterhin aktiv. Er hat einen Strategiewechsel vorgenommen und betreibt nunmehr eine asymmetrische Kriegsführung in Form von Anschlägen aus dem Untergrund (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 14). Aktuellen Medienberichten ist zudem zu entnehmen, dass die Ressentiments gegen Yeziden im Irak wieder zunehmen. Im April 2023 wurden Yeziden zur Zielscheibe einer Kampagne von Hassreden und falschen Anschuldigungen in den sozialen Medien, nachdem yezidische Demonstranten fälschlicherweise beschuldigt wurden, eine Moschee in Sindschar niedergebrannt zu haben (Melissa Gronlund, The Art Newspaper, 05.09.2023, https://www.theartnewspaper.com/2023/09/05/ancient-yazidi-heritage-still- under-threat-after-isis-genocide). In Tausenden von Beiträgen in den sozialen Medien wurde zu Gewalt gegen Yeziden aufgerufen und sie wurden als Ungläubige und "Teufelsanbeter" bezeichnet (Shivan Fazil, Middle East Institute, 05.07.2023, https://www.mei.edu/publications/addressing-challenges-tolerance-and-religious-diversity-iraq). Muslimische Extremisten diskutierten Angriffe auf Flüchtlingscamps und drohten mit einem neuen Völkermord (Berliner Morgenpost, Junge Jesiden im Irak: Es bleibt nur das Elend - oder Europa, 03.08.2023, https://www.morgenpost.de/politik/article239088167/jesiden-irak-terror-islamischer-staat-shingal.html).

Gefahrerhöhend wirkt für die Klägerin zum anderen, dass sie im Irak zumindest für eine gewisse Zeitdauer im Dorf Siba Sheikh Khidir oder an einem anderen Ort in der Provinz Ninive außerhalb eines schützenden (Groß-)Familienverbandes und dazu in prekären Verhältnissen leben müsste. Obwohl die Klägerin in Deutschland die Schule besucht, ist es aufgrund der weit verbreiteten Diskriminierung auf dem irakischen Arbeitsmarkt unwahrscheinlich, dass sie dort eine Arbeitsstelle finden würde. Ihr Ehemann müsste sich voraussichtlich alleine darum bemühen, ein Einkommen zu erwirtschaften, das nicht nur den Bedarf der Familie an Lebensmitteln, Kleidung und Hygieneprodukten deckt, sondern ihnen darüber hinaus ermöglicht, eine neue Unterkunft anzumieten oder zu errichten. Eine Rückkehr zum irakischen Militär ist aufgrund seiner vorausgegangenen Desertation ausgeschlossen. Weil das Haus der Familie in Siba Sheikh Khidir zerstört wurde, müssten die Klägerin, ihr Ehemann und ihre Söhne aller Voraussicht nach zunächst in Zelten oder wie viele andere Binnenvertriebene in einer informellen Siedlung leben, in denen die Bewohner keine angemessene Wasserversorgung, Abwasserentsorgung oder andere wichtige Dienstleistungen erhalten (vgl. BFA, a. a. O., S. 254). Ohne angemessene Unterkunft für sich und ihre Kinder fehlt es der Klägerin an der Möglichkeit, sich in die Privatheit der eigenen vier Wände zurückzuziehen, wo sie "sie selbst" sein könnte, ohne dadurch den Unmut traditionell geprägter Iraker auf sich zu ziehen.

In der Situation, welche sie im Irak erwartet, drohen der Klägerin geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen etwa in Form von sexueller Belästigung oder anderer physischer und psychischer Gewalt durch muslimische oder yezidische Männer, möglicherweise auch durch Mitglieder der PMF. Auch eine gewisse Gefahr einer Entführung und der Ausübung sexueller Gewalt durch Angehörige des sog. "Islamischen Staates" besteht nach wie vor, wenn auch nicht mehr in dem Maße wie vor der militärischen Niederlage der Terrormiliz (EUAA, Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 77). Aufgrund ihrer durch westliche Werte geprägten Geisteshaltung und ihres selbstbewussten Auftretens droht sie aus der Masse der anderen irakischen Frauen herauszustechen und in besonderem Maße die Aufmerksamkeit nichtstaatlicher Verfolgungsakteure auf sich zu ziehen. Die Einzelrichterin ist aufgrund des in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin gewonnen Eindrucks überzeugt, dass es ihr nicht gelingen würde, sich bei einer Rückkehr in den Irak den Wertvorstellungen der noch immer patriarchal geprägten Mehrheitsgesellschaft anzupassen und eine untergeordnete Rolle als Frau widerstandslos zu akzeptieren.

Demnach ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen und die Ziffer 1) des Bescheides aufzuheben, da sie dem entgegensteht. Somit besteht für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung subsidiären Schutzes oder die Feststellung von Abschiebungsverboten kein Anlass mehr. Der Bescheid war auch insoweit aufzuheben.