Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 14.10.2022, Az.: 1 A 1279/22

Abweichungsbeschluss; Einstimmigkeit; Enthaltungen; Hare/Niemeyer-Verfahren; Höchstzahlverfahren nach d'Hondt; Kommunalverfassungsstreit; Stimmenthaltungen; Verfahren zur Ausschussbesetzung; Verfahren zur Bildung kommunaler Ausschüsse Anforderungen an einen Abweichungsbeschluss nach § 71 Abs. 10 NKomVG

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
14.10.2022
Aktenzeichen
1 A 1279/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 62711
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2022:1014.1A1279.22.00

Amtlicher Leitsatz

Stimmenthaltungen egal ob durch bei der Abstimmung anwesende oder nicht anwesende Abgeordnete stehen einer Einstimmigkeit im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG nicht entgegen.

Tenor:

Der Beklagte wird verurteilt, die Besetzung der Sitze im Verwaltungsausschuss der Landeshauptstadt I. mit stimmberechtigten Abgeordneten sowie die Besetzung der Fachausschüsse des Rates der Landeshauptstadt I. mit stimmberechtigten Abgeordneten und die Besetzung des Schul- und Bildungsausschusses, des Betriebsausschusses für Städtische Häfen, des Betriebsausschusses I. Congress Centrum, des Betriebsausschusses für Stadtentwässerung und des Jugendhilfeausschusses mit stimmberechtigten Abgeordneten nach Maßgabe des Zuteilungsverfahrens nach Hare/Niemeyer vorzunehmen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin, die Fraktion der J. im beklagten Rat der Landeshauptstadt I., begehrt die Besetzung des Verwaltungsausschusses, der beratenden (Fach-)Ausschüsse des Rates sowie weiterer Ausschüsse nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren.

Nach dem Ergebnis der Kommunalwahl am 12. September 2021 entfielen von den 64 Sitzen im Rat der Landeshauptstadt I. - dem Beklagten - jeweils 18 Sitze auf die K. und die L., 13 Sitze auf die M., jeweils 4 Sitze auf die J. und die N., 3 Sitze auf die O. und jeweils 1 Sitz auf P., Q., R. und die S..

In der konstituierenden Sitzung des Beklagten am 4. November 2021 wurde die Sitzverteilung und Besetzung des Verwaltungsausschusses (§§ 74 f. NKomVG), der beratenden (Fach-)Ausschüsse (§ 71 NKomVG), der Ausschüsse nach besonderen Rechtsvorschriften (§ 73 NKomVG) sowie weiterer Gremien bestimmt. Hinsichtlich des insoweit anzuwendenden Verfahrens hatte der Niedersächsische Gesetzgeber kurz nach der Kommunalwahl durch das Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes und anderer kommunalrechtlicher Vorschriften vom 13. Oktober 2021 (GVBl. S. 700) eine Änderung der einschlägigen Regelungen beschlossen, aufgrund welcher die Verteilung der Sitze im Verwaltungsausschuss und den weiteren Ausschüssen nunmehr grundsätzlich nach dem Höchstzahlverfahren nach d'Hondt - und nicht mehr nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren - zu erfolgen hat (vgl. § 71 Abs. 2 Satz 2 - 4 NKomVG n.F.; hinsichtlich des Verwaltungsausschusses i. V. m. § 75 Abs. 1 Satz 1 NKomVG; hinsichtlich der Ausschüsse nach besonderen Rechtsvorschriften i. V. m. § 73 Satz 1 NKomVG).

Das Höchstzahlverfahren nach d'Hondt begünstigt tendenziell stimmenstärkere Parteien gegenüber Parteien, die nur verhältnismäßig wenige Stimmen erringen konnten; dies gilt besonders dann, wenn die Anzahl zu vergebender Sitze gering und/oder die Stimmendifferenz zwischen stimmenstarken und -schwachen Parteien besonders groß ist (vgl. Rauber: Das Ende der Höchstzahlen?, NVwZ 2014, 626 f.). Demgegenüber bildet das Hare/Niemeyer-Verfahren als Quotenverfahren die Mehrheitsverhältnisse eher neutral ab und ist für kleinere Fraktionen und Gruppen daher günstiger. Mit der Umstellung des Sitzverteilungsverfahrens auf das d'Hondt-Verfahren wollte der Gesetzgeber angesichts einer zunehmenden Fragmentierung kommunaler Vertretungen in eine Vielzahl von Fraktionen, Gruppen und Einzelabgeordneten einer Zersplitterung der Ausschüsse entgegenwirken und so stabile Mehrheitsverhältnisse in den Ausschüssen und deren Arbeitsfähigkeit gewährleisten (vgl. Gesetzentwurf, LT-Drs. 18/9075, S. 27). Nach § 71 Abs. 10 NKomVG kann die Vertretung jedoch einstimmig auch ein von den Regelungen in § 71 Abs. 2, 3, 4, 6 und 8 NKomVG abweichendes Verfahren für die Besetzung der Ausschüsse beschließen.

Bei einer Sitzzuteilung nach dem d'Hondt-Verfahren entfällt auf die Klägerin weder ein Beigeordneten-Sitz im Verwaltungsausschuss noch erhält sie einen Sitz in einem der beratenden (Fach-)Ausschüsse oder einem der Ausschüsse nach besonderen Rechtsvorschriften. So entfallen nach dem d'Hondt-Verfahren von den 10 Beigeordneten im Verwaltungsausschuss der Landeshauptstadt I. jeweils 4 Beigeordnete auf die K. und die L. und 2 Beigeordnete auf die M.. In den beratenden (Fach-)Ausschüssen des Rates der Landeshauptstadt I. - dem Stadtentwicklungs- und Bauausschuss, dem Ausschuss für Umweltschutz und Grünflächen, dem Organisations- und Personalausschuss, dem Sozialausschuss, dem Ausschuss für Sport, Bäder und Eventmanagement, dem Kulturausschuss, dem Ausschuss für Haushalt, Finanzen, Rechnungsprüfung, Feuerwehr und öffentliche Ordnung, dem Ausschuss für Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Liegenschaftsangelegenheiten, dem Gleichstellungsausschuss und dem Ausschuss für Integration, Europa und internationale Kooperation -, denen jeweils 11 stimmberechtigte Abgeordnete angehören, entfallen nach dem d'Hondt-Verfahren jeweils 4 Abgeordnete auf die K. und die L. und 3 Abgeordnete auf die M.. Vergleichbare Sitzzuteilungen ergeben sich nach dem d'Hondt-Verfahren auch für die Ausschüsse nach besonderen Rechtsvorschriften - die Betriebsausschüsse für städtische Häfen, Stadtentwässerung und das I. Congress Centrum, welchen jeweils 10 stimmberechtigte Ratsmitglieder angehören -, sowie den Schul- und Bildungsausschuss und den Jugendhilfeausschuss, welchen je 11 bzw. 9 stimmberechtigte Ratsmitglieder angehören. Nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren würde die Klägerin hingegen im Verwaltungsausschuss einen Beigeordneten-Sitz und auch in den anderen genannten Ausschüssen jeweils einen Sitz erhalten.

In der konstituierenden Sitzung des Beklagten am 4. November 2021 stellte die Klägerin - ebenso wie die Fraktion der T. gemeinsam mit der Gruppe P. und Q. - Anträge, nach § 71 Abs. 10 NKomVG zu beschließen, dass die Sitzverteilung im Verwaltungsausschuss und den weiteren Ausschüssen und Gremien abweichend von den Regelungen in § 71 NKomVG n.F. weiterhin nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren erfolgt. Bei der Abstimmung über den auf den Verwaltungsausschuss bezogenen Antrag der Klägerin (Drs. 2362/2021) stimmten 15 Abgeordnete mit "Ja", 49 Abgeordnete enthielten sich. Bei der Abstimmung über den auf die anderen Ausschüsse und Gremien bezogenen Antrag der Klägerin (Drs. 2363/2021) stimmten 10 Abgeordnete mit "Ja", 49 enthielten sich. Gegenstimmen gab es jeweils nicht. Im Protokoll über die Sitzung des Beklagten wurde daraufhin jeweils festgestellt, dass die Anträge abgelehnt worden seien, da es an der erforderlichen Einstimmigkeit fehle. Die Besetzung des Verwaltungsausschusses sowie der weiteren Ausschüsse erfolgte entsprechend den Regelungen in § 71 NKomVG n.F. nach dem d'Hondt-Verfahren.

Mit an die Vorsitzende des Beklagten gerichtetem Schreiben vom 12. Januar 2022 wies die Klägerin darauf hin, dass die Besetzung der Ausschüsse und Gremien ihres Erachtens fehlerhaft erfolgt sei. Ihre Anträge auf Beibehaltung des Hare-Niemeyer-Verfahrens bei der Ausschussbesetzung seien in der konstituierenden Sitzung des Beklagten einstimmig im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG angenommen worden, da es keine Gegenstimmen gegeben habe. Die Besetzung der Ausschüsse hätte daher nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren erfolgen müssen.

Dieser Auffassung trat die Vorsitzende des Beklagten mit Schreiben vom 11. Februar 2022 entgegen. Die Abstimmungsergebnisse zu den Änderungsanträgen der Klägerin seien zu Recht als Ablehnung der Anträge gewertet worden. Zwar lasse der Wortlaut "einstimmig" die Auslegung, dass Enthaltungen unbeachtlich seien, zu. Sinn und Zweck von § 71 Abs. 10 NKomVG sprächen aber für ein anderes Auslegungsergebnis. Die Vorschrift des § 71 Abs. 10 NKomVG regele einen im Kommunalverfassungsrecht und auch ansonsten in der Gesetzessystematik sehr seltenen Fall, in welchem die Vertretung aufgrund eigener Entscheidung von einer ansonsten zwingenden gesetzlichen Vorgabe abweichen dürfe. Diese Abweichungskompetenz der Vertretung setze aber voraus, dass die Abweichung von der Vertretung auch im Ganzen aktiv gewünscht und mitgetragen werde. Soweit sich Abgeordnete aber der Stimme enthielten, brächten sie gerade nicht zum Ausdruck, dass sie mit einer Abweichung von den gesetzlichen Vorgaben einverstanden seien. Die Vorschrift des § 71 Abs. 10 NkomVG diene dem Schutz der Minderheit gegenüber einer Mehrheit. Durch das Erfordernis der Einstimmigkeit werde sichergestellt, dass eine Änderung der Sitzverhältnisse in den Ausschüssen nur mit dem ausdrücklichen Einverständnis der durch die Änderung im Ergebnis belasteten Abgeordneten bzw. Ratsfraktionen erfolgen könne. Im vorliegenden Fall seien die Änderungsdrucksachen aber lediglich von einer relativ kleinen Minderheit des Rates aktiv mitgetragen worden. Stelle man für die Einstimmigkeit lediglich darauf ab, dass es keine Nein-Stimmen gebe, wäre Einstimmigkeit im Extremfall selbst dann erreicht, wenn es nur eine oder eventuell sogar überhaupt keine Ja-Stimme und im Übrigen nur Enthaltungen gebe. Dies könne nicht die Intention des Gesetzgebers bei der geforderten Einstimmigkeit gewesen sein. Zwar sei der Klägerin zuzugeben, dass nach § 66 Abs. 1 NKomVG Beschlüsse grundsätzlich mit der Mehrheit der auf Ja oder Nein lautenden Stimmen gefasst würden und Stimmenthaltungen hierbei weder als Ja- noch als Nein-Stimmen gewertet würden. Dies gelte jedoch nur dann, soweit durch das Gesetz nichts anderes bestimmt sei. Die in § 71 Abs. 10 NKomVG geforderte Einstimmigkeit stelle jedoch gerade eine vom Mehrheitsprinzip abweichende gesetzliche Bestimmung dar. Eine zumindest faktische Wirkung einer Enthaltung als Nein-Stimme trete schon in allen Fällen ein, in denen das Gesetz nicht nur eine einfache, sondern eine qualifizierte Mehrheit verlange. Umso mehr müsse diese zumindest faktische Folge einer Enthaltung gelten, wenn vom Gesetz Einstimmigkeit gefordert werde.

Die Klägerin hat am 24. März 2022 Klage erhoben. Der Wechsel auf das Hare/Niemeyer-Verfahren für die Besetzung der Ausschüsse einschließlich des Verwaltungsausschusses sei einstimmig beschlossen worden, da es keine Gegenstimmen gegeben habe. Enthaltungen hätten bei der Feststellung des Ergebnisses einer Abstimmung nach allgemeinem parlamentsrechtlichen Grundsatz stets außer Betracht zu bleiben. Dieser Grundsatz sei auch auf kommunale Vertretungen übertragbar und auch im vorliegenden Zusammenhang anwendbar. Dies ergebe sich auch aus § 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG. Nach dieser Vorschrift würden Beschlüsse mit der Mehrheit der auf Ja oder Nein lautenden Stimmen gefasst, soweit durch Gesetz oder in Angelegenheiten des Verfahrens durch die Geschäftsordnung nichts anderes bestimmt sei. Diese Regelung habe zur Folge, dass Enthaltungen bei der Feststellung des Ergebnisses einer Abstimmung außer Betracht zu bleiben hätten, woraus folge, dass Einstimmigkeit unabhängig von etwaigen Enthaltungen beim Fehlen von Nein-Stimmen vorliege. § 66 Abs. 1 NKomVG stelle insoweit klar, dass es vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Vorschriften allein auf die Zahl der an einer Abstimmung teilnehmenden Personen ankomme und Enthaltungen entsprechend einem allgemeinen parlamentsrechtlichen Grundsatz außer Betracht blieben. Dies müsse folgerichtig auch dann gelten, wenn Einstimmigkeit für die Beschlussfassung erforderlich sei. Auch mit Blick auf § 71 Abs. 10 NKomVG gelte daher, dass nur Ja- und Nein-Stimmen relevant und Enthaltungen für die Feststellung der Einstimmigkeit unschädlich seien. § 71 Abs. 10 NKomVG regele nur insofern etwas anderes, als ein bestimmtes Quorum festgesetzt werde; dass bei der Ermittlung der Einstimmigkeit von den Grundsätzen zur Ermittlung eines Abstimmungsergebnisses abgewichen werden solle, sehe § 71 Abs. 10 NKomVG nicht vor. Es entspreche schließlich auch der allgemeinen - über Deutschland hinausreichenden - Staatspraxis, dass Enthaltungen bei der Feststellung eines Abstimmungsergebnisses unbeachtlich seien. Sowohl Art. 238 Abs. 4 AEUV als auch beispielsweise § 35 der Verfassung für die Stadt Bremerhaven brächten insoweit nur ein allgemeines Prinzip explizit zum Ausdruck. Soweit stimmberechtigte Personen sich enthielten, gäben sie zu erkennen, dass sie gegenüber der Abstimmungsfrage eine indifferente Position hätten. Es sei daher folgerichtig, diese Stimmen bei der Ergebnisfeststellung außer Betracht zu lassen. Dieses Verständnis des Begriffs der Einstimmigkeit widerspreche auch nicht der Wortlautbedeutung der Einstimmigkeit. Das entscheidende Organ spreche mit einer Stimme, wenn keine Nein-Stimmen abgegeben würden. Die Nichtumsetzung des Beschlusses über die Besetzung der Ausschüsse nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren und die stattdessen erfolgte Anwendung des Höchstzahlverfahrens verletze die Klägerin in ihren subjektiven Rechten. Schließlich sei die Änderung von § 71 Abs. 2 NKomVG auch verfassungswidrig. Durch die Anwendung des Höchstzahlverfahrens nach d'Hondt werde der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit verletzt. Die Verwendung zweier unterschiedlicher Sitzzuteilungsverfahren bei der Zuteilung der Sitze im Rat und bei der Zuteilung der Sitze in den Ausschüssen widerspreche zudem dem Gebot der System- und Folgerichtigkeit. Die Gesetzesänderung sei auch nicht ausreichend begründet worden. In der Einführung des Gesetzes zwischen der Kommunalwahl und der ersten konstituierenden Sitzung liege außerdem auch eine unzulässige Rückwirkung.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten zu verpflichten, die Besetzung der Sitze im Verwaltungsausschuss der Landeshauptstadt I. mit stimmberechtigten Abgeordneten sowie die Besetzung der Fachausschüsse des Rates der Landeshauptstadt I. mit stimmberechtigten Abgeordneten und die Besetzung des Schul- und Bildungsausschusses, des Betriebsausschusses für Städtische Häfen, des Betriebsausschusses I. Congress Centrum, des Betriebsausschusses für Stadtentwässerung und des Jugendhilfeausschusses mit stimmberechtigten Abgeordneten nach Maßgabe des Zuteilungsverfahrens nach Hare/Niemeyer vorzunehmen,

hilfsweise, festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, die Besetzung der Sitze im Verwaltungsausschuss der Landeshauptstadt I. mit stimmberechtigten Abgeordneten sowie die Besetzung der Fachausschüsse des Rates der Landeshauptstadt I. mit stimmberechtigten Abgeordneten und die Besetzung des Schul- und Bildungsausschusses, des Betriebsausschusses für Städtische Häfen, des Betriebsausschusses I. Congress Centrum, des Betriebsausschusses für Stadtentwässerung und des Jugendhilfeausschusses mit stimmberechtigten Abgeordneten nach Maßgabe des Zuteilungsverfahrens nach Hare/Niemeyer vorzunehmen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist im Wesentlichen auf die Stellungnahme seiner Vorsitzenden mit Schreiben vom 11. Februar 2022. Es widerspreche in jeder Hinsicht der Bedeutung des Wortes einstimmig, wenn - wie im konkreten Fall - bereits eine kleine Minderheit an Ja-Stimmen oder im Extremfall sogar nur eine einzige Ja-Stimme genügen solle, einen einstimmigen Beschluss herbeizuführen. Es sei der Klägerin zwar zuzugeben, dass die Änderung des § 71 Abs. 2 NKomVG in rechtspolitischer Hinsicht fragwürdig erscheine. Dies erkläre, warum die große Mehrheit des Rates mit der Enthaltung ihre grundsätzliche Missbilligung dieser Gesetzesänderung habe zum Ausdruck bringen wollen, jedoch ohne dass es hinsichtlich der Änderungsanträge der Klägerin zu der gesetzlichen Folge des § 71 Abs. 10 NKomVG habe kommen sollen. Die Sinnhaftigkeit oder gar Verfassungswidrigkeit der Gesetzesänderung hin zu einer Ausschussbesetzung nach dem Höchststimmenverfahren sei nicht Gegenstand des Klageverfahrens und könne daher für die rechtliche Bewertung des Begriffs der Einstimmigkeit keine Rolle spielen. Unabhängig davon, dass die Wertung der Abstimmungen zu den Änderungsanträgen der Klägerin nach der Überzeugung des Beklagten korrekt erfolgt sei, sei im Übrigen darauf hinzuweisen, dass naheliegende praktische Folge eines Obsiegens der Klägerin in diesem Rechtsstreit wäre, dass die Abstimmungen zur Besetzung der Gremien im Rat unverzüglich wiederholt würden. In einem solchen Fall wäre nicht zu erwarten, dass es erneut keine einzige Nein-Stimme gegen einen gleichlautenden Änderungsantrag der Klägerin geben würde. Die von der Klägerin mit der Klage begehrte Neubesetzung der Gremien nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren wäre daher - selbst bei einem Erfolg der Klage - wohl allenfalls ein sehr kurzfristiger Zwischenzustand.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die die Kammer im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

1.

a) Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreites statthaft. Der auf Besetzung der im Tenor näher bezeichneten Ausschüsse nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren gerichtete Klageantrag entspricht den von der Klägerin in der konstituierenden Sitzung des Beklagten am 4. November 2021 gestellten Änderungsanträgen auf Beibehaltung des Hare/Niemeyer-Verfahrens. Die Umsetzung dieser - nach Auffassung der Klägerin einstimmig im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG angenommenen - Anträge fordert die Klägerin nunmehr im Klagewege ein. Entsprechend dem in § 71 NKomVG für die Ausschussbildung und -besetzung vorgesehenen Verfahren und dem hier geltend gemachten Verfahrensstadium von Abweichensbeschlüssen nach § 71 Abs. 10 NKomVG versteht die Kammer den auf Besetzung der Ausschüsse nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren gerichteten Klageantrag dabei dahingehend, dass nicht unmittelbar eine konkrete (personelle) Neubesetzung der bezeichneten Ausschüsse, sondern zunächst insbesondere die Feststellung der sich nach dem Hare/Niemeyer ergebenden Sitzverteilung auf die Fraktionen sowie - nach Benennung der danach auch von der Klägerin und der Fraktion der T. zu entsendenden stimmberechtigten Mitglieder - der Erlass entsprechender die Sitzverteilung und Ausschussbesetzung feststellender Beschlüsse nach § 71 Abs. 5 NKomVG begehrt wird (vgl. zum Erfordernis eines feststellenden Beschlusses nach § 71 Abs. 5 NKomVG auch im Falle eines Abweichensbeschlusses nach § 71 Abs. 10 NKomVG: Menzel in KVR-NKomVG, Stand: Juni 2020, § 71 Rn. 74). Das so verstandene Begehren kann von der Klägerin im Wege einer Leistungsklage verfolgt werden (vgl. zur Zulässigkeit einer Leistungsklage betreffend die (Nach)Besetzung eines Ratsvertreters in der Verbandsversammlung eines Sparkassenzweckverbandes: VG Oldenburg, Urt. v. 09.03.2010 - 1 A 2992/09 -, V. n. b.). Ob die Klägerin ihr Begehren stattdessen - wie hilfsweise beantragt - zulässigerweise auch mit einer Feststellungsklage verfolgen könnte (vgl. insoweit zur Zulässigkeit einer Feststellungsklage betreffend die Besetzung eines Samtgemeindeausschusses: VG Lüneburg, Urt. v. 14.11.2018 - 5 A 346/16 -, V. n. b.), bedarf vorliegend angesichts der Subsidiarität einer Feststellungsklage keiner Erörterung.

b) Die analog § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis ist ebenfalls gegeben. Diese setzt in Kommunalverfassungsstreitverfahren voraus, dass das klagende Organ bzw. der klagende Organteil geltend macht, durch die Handlung oder Unterlassung eines anderen Organ(teils) in einem durch die Kommunalverfassung eingeräumten wehrfähigen subjektiven Mitgliedschaftsrecht verletzt zu sein (Wefelmeier in KVR-NKomVG, § 54 Rn. 26). Die als verletzt bzw. beeinträchtigt bezeichneten Rechte müssen durch Gesetz oder Geschäftsordnung gerade (auch) dem jeweiligen Kläger zugeordnet sein (vgl. Urt. d. Kammer v. 04.08.2016 - 1 A 675/16 -, juris Rn. 17 m. w. N.). Die Klägerin macht hier die Verletzung ihrer Rechte als Fraktion durch die Nichtumsetzung der ihrer Auffassung nach einstimmig im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG getroffenen Abweichensbeschlüsse zur Beibehaltung des Hare/Niemeyer-Verfahrens geltend. Im Falle einer Ausschussbesetzung nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren würde auf die Klägerin sowohl im Verwaltungsausschuss als auch in den weiteren im Tenor näher bezeichneten Ausschüssen jeweils ein Sitz mit Stimmrecht entfallen. Eine trotz entsprechender Beschlusslage nicht erfolgende Ausschussbesetzung nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren würde die Klägerin damit in ihrem durch § 57 Abs. 2 Satz 1 NKomVG eingeräumten Recht, bei der Willensbildung und Entscheidungsfindung in der Vertretung, im Hauptausschuss und in den Ausschüssen mitzuwirken - mithin einem gerade ihr als Fraktion eingeräumten wehrfähigen Mitgliedschaftsrecht -, verletzen.

2.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat - nach derzeitiger Beschlusslage - einen Anspruch darauf, dass die Besetzung des Verwaltungsausschusses und der weiteren im Tenor genannten Ausschüsse mit stimmberechtigten Abgeordneten nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren erfolgt.

Nach § 71 Abs. 10 NKomVG - hinsichtlich des Verwaltungsausschusses i. V. m. § 75 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz NKomVG, hinsichtlich der Ausschüsse nach besonderen Rechtsvorschriften i. V. m. § 73 Satz 1 NKomVG - kann die Vertretung - also hier der Beklagte - einstimmig ein von den Regelungen der Absätze 2, 3, 4, 6 und 8 abweichendes (Besetzungs-)Verfahren beschließen. Die auf dieser Rechtsgrundlage gestellten Änderungsanträge der Klägerin zur Beibehaltung des Hare/Niemeyer-Verfahrens sind in der konstituierenden Sitzung des Beklagten am 4. November 2021 einstimmig im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG angenommen worden, da es jeweils keine Gegenstimmen gab. Die erfolgten (zahlreichen) Stimmenthaltungen stehen der Annahme einer Einstimmigkeit im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG nicht entgegen.

a) Die Frage, ob Stimmenthaltungen der Annahme einer Einstimmigkeit im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG entgegenstehen, wird in der Kommentarliteratur unterschiedlich beurteilt. Ein Teil der Literatur fordert für eine Einstimmigkeit im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG, dass alle (bei der Abstimmung) anwesenden Mitglieder der Vertretung für die Abweichung stimmen. Das Fehlen eines Abgeordneten steht einer Einstimmigkeit nach dieser Auffassung nicht entgegen, da Einstimmigkeit aller Abgeordneten durch das Gesetz nicht verlangt werde. Enthalte sich jedoch ein (anwesender) Abgeordneter, sei Einstimmigkeit nicht erreicht, da der Beschluss nicht "mit einer Stimme" gefasst worden sei (Menzel in KVR-NKomVG, § 71 NKomVG Rn. 143; Thiele, NKomVG, 2. Aufl. 2017, § 71 Rn. 38; beide unter Hinweis auf VG Braunschweig, Urt. v. 18.07.1963 - I A 42/63). Nach der Gegenauffassung sind Enthaltungen für eine Einstimmigkeit im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG hingegen unschädlich (Beckermann in BeckOK Kommunalrecht Niedersachsen, Dietlein/Mehde, Stand: 01.10.2022, § 71 Rn. 45).

b) Die Kammer folgt der zuletzt genannten Ansicht, dass Enthaltungen - egal ob durch bei der Abstimmung anwesende oder nicht anwesende Abgeordnete - einer Einstimmigkeit im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG nicht entgegenstehen. Eine andere Sichtweise lässt sich nach Auffassung der Kammer mit der Systematik des NKomVG und den dortigen Regelungen zur Feststellung von Abstimmungsergebnissen nicht in Einklang bringen.

§ 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG bestimmt, dass Beschlüsse mit der Mehrheit der auf Ja oder Nein lautenden Stimmen gefasst werden, soweit durch Gesetz oder - in Angelegenheiten des Verfahrens - durch die Geschäftsordnung nichts anderes bestimmt ist. Die Regelung formuliert damit den Grundsatz der einfachen Abstimmungsmehrheit. Das heißt - soweit keine Sonderregelungen bestehen -, kommen Beschlüsse der Vertretung grundsätzlich dann zustande, wenn auf einen Sachantrag mehr Ja- als Neinstimmen entfallen. Als maßgebliche Bezugsgröße kommt es nach § 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG dabei weder auf die gesetzliche Zahl der Mitglieder der Vertretung noch auf die Zahl der während der Abstimmung Anwesenden, sondern auf die Zahl der (rechtmäßig) an der Abstimmung Teilnehmenden an. Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen sind - solange die Beschlussfähigkeit der Vertretung gegeben ist - für die Ermittlung des Abstimmungsergebnisses unerheblich. § 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG trifft damit zum einen eine Regelung hinsichtlich des für das Zustandekommen eines Beschlusses zu fordernden Quorums (einfache Mehrheit) und zum anderen hinsichtlich der insoweit maßgeblichen Bezugsgröße (Zahl der Abstimmenden). Gleichzeitig ergibt sich aus § 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG der Grundsatz, dass Enthaltungen bei der Feststellung eines Abstimmungsergebnisses grundsätzlich außer Betracht zu bleiben haben. Von diesen Festlegungen kann nach § 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG nur durch Gesetz oder - in Angelegenheiten des Verfahrens - durch die Geschäftsordnung der Vertretung abgewichen werden.

§ 71 Abs. 10 NKomVG trifft hinsichtlich des für das Zustandekommen eines Beschlusses erforderlichen Quorums zweifellos eine von § 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG abweichende Regelung, da eben gerade keine einfache Mehrheit genügt, sondern Einstimmigkeit erforderlich ist. Hinsichtlich der für die Ermittlung des Abstimmungsergebnisses maßgeblichen Bezugsgröße und dem Grundsatz, dass Enthaltungen bei der Ermittlung des Abstimmungsergebnisses unbeachtlich sind, ergibt sich aus § 71 Abs. 10 NKomVG aber keine von § 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG abweichende Regelung. Allein aus dem Erfordernis der Einstimmigkeit kann nicht geschlossen werden, dass bei der Ermittlung des Abstimmungsergebnisses - anders als durch § 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG bestimmt - nicht nur auf die tatsächlich an der Abstimmung Teilnehmenden, sondern stattdessen auf die Anwesenden oder sogar die Gesamtzahl der gesetzlichen Mitglieder abzustellen ist. Zwar ist dem Beklagten durchaus zuzugeben, dass es bei rechtlich unbefangener Betrachtungsweise zunächst überraschend erscheinen mag, wenn - bei Enthaltungen der übrigen Mitglieder - bereits eine relativ kleine Zahl an Ja-Stimmen und im Extremfall sogar eine einzige Ja-Stimme für einen einstimmigen Beschluss genügen kann. Die Wortlautbedeutung von "Einstimmigkeit" lässt Enthaltungen aber durchaus zu (ebenso Beckermann in BeckOK Kommunalrecht Niedersachsen, § 71 NKomVG, Rn. 45 unter Hinweis auf Art. 238 Abs. 4 AEUV). Davon, dass die Vertretung "mit einer Stimme" spricht, kann (auch) ausgegangen werden, wenn es zwar - ggf. zahlreiche - Enthaltungen, aber keine Gegenstimmen gibt, alle an der Abstimmung Teilnehmenden also mit "Ja" stimmen.

Auch aus § 45 Abs. 2 NKomVG ergibt sich für die Kammer nicht, dass bei der Ermittlung, ob ein Abstimmungsergebnis einstimmig im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG ist, auf eine andere Bezugsgröße - konkret die gesetzliche Zahl der Mitglieder der Vertretung - abzustellen ist. Nach § 45 Abs. 2 NKomVG ist - soweit in Rechtsvorschriften nichts anderes bestimmt ist - bei der Ermittlung von Abstimmungsergebnissen die durch Gesetz oder durch Satzung geregelte Zahl der Mitglieder zugrunde zu legen, wenn das NKomVG für Wahlen, Abstimmungen oder Anträge eine bestimmte Mehrheit oder Minderheit vorschreibt. Die in § 71 Abs. 10 NKomVG geforderte Einstimmigkeit stellt aber schon dem Wortlaut nach gerade keine "Mehrheit oder Minderheit" im Sinne von § 45 Abs. 2 NKomVG dar. Dementsprechend wird § 71 Abs. 10 NKomVG in den einschlägigen Kommentierungen auch nicht als Anwendungsfall des § 45 Abs. 2 NKomVG genannt (vgl. Thiele, NKomVG, § 45 Rn. 3; Meyer in KVR-NKomVG, § 45 Rn. 28 f.). Auch nach Sinn und Zweck von § 71 Abs. 10 NKomVG kommt eine Anwendung der Auslegungsregel des § 45 Abs. 2 NKomVG bei der Ermittlung einer Einstimmigkeit im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG nicht in Betracht. Sinn und Zweck der Regelungen in § 71 NKomVG ist der Schutz der Minderheit einer Vertretung. Durch die grundsätzlichen Regelungen zur Ausschussbesetzung in § 71 Abs. 2 und 3 NKomVG wird eine Fraktion oder Gruppe, die die Mehrheit der Abgeordneten stellt, gehindert, die Ausschüsse allein nach ihren Vorstellungen zusammenzusetzen. Damit dieser Minderheitenschutz nicht durch Beschließung eines abweichenden Verfahrens "torpediert" werden kann, schreibt § 71 Abs. 10 NKomVG für einen derartigen Beschluss Einstimmigkeit vor (vgl. Menzel in KVR-NKomVG, § 71 Rn. 5 und 143). Diesem Minderheitenschutz ist aber gerade schon Genüge getan, wenn sogar ein einzelner Abgeordneter die Einstimmigkeit durch die Abgabe einer Nein-Stimme verhindern kann. Davon, dass der Gesetzgeber für das Zustandekommen eines Abweichensbeschlusses nach § 71 Abs. 10 NKomVG eine besonders hohe "Hürde" in dem Sinne aufstellen wollte, dass eine (aktive) Zustimmung sämtlicher Mitglieder der Vertretung erforderlich sein soll, kann angesichts des dargestellten Sinns und Zwecks der Vorschrift nicht ausgegangen werden. Demgegenüber ging es dem Gesetzgeber in den von § 45 Abs. 2 NKomVG erfassten Konstellationen - z. B. § 12 Abs. 2 NKomVG (Beschlüsse über die Hauptsatzung), § 46 Abs. 6 NKomVG (Beschlüsse über eine Verringerung oder Erhöhung der Zahl der zu wählenden Abgeordneten der Vertretung), § 61 Abs. 2 NKomVG (Abberufung des Vorsitzenden der Vertretung) - erkennbar gerade darum, durch das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit eine gegenüber der einfachen Abstimmungsmehrheit des § 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG höhere "Hürde" bzw. demokratische Legitimation zu schaffen.

Diesem Befund entsprechend hält auch die oben dargestellte Gegenauffassung, nach welcher Enthaltungen (anwesender Mitglieder) einer Einstimmigkeit im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG entgegenstehen sollen, § 45 Abs. 2 NKomVG im Rahmen des § 71 Abs. 10 NKomVG offensichtlich nicht für anwendbar und fordert für eine Einstimmigkeit keineswegs, dass alle Mitglieder der Vertretung dem Abweichungsbeschluss zustimmen müssen. Warum es nach der Gegenauffassung dann aber - statt, wie in § 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG vorgesehen, auf die Abstimmenden - auf die bei der Abstimmung Anwesenden ankommen soll, erschließt sich der Kammer nicht. Niemand, der sich der Stimme enthält, wird nach der Verkehrsanschauung auf den Gedanken kommen, sein Verhalten werde sich auf die Beschlussfassung anders auswirken, als wenn er der Versammlung ferngeblieben wäre oder sich vor der Abstimmung entfernt hätte (vgl. bezogen auf die Auswirkungen von Enthaltungen bei der Beschlussfassung in einem Verein: BGH, Urt. v. 25.01.1982 - II ZR 164/81 -, juris Rn. 5). Eine gesetzliche Grundlage für die Unterscheidung zwischen Enthaltungen, die sich aus einer Abwesenheit bei der Abstimmung ergeben, und Enthaltungen von bei der Abstimmung Anwesenden ist nicht ersichtlich. Insbesondere lässt sich eine solche Differenzierung nach Auffassung der Kammer auch nicht aus dem Wortlaut des § 71 Abs. 10 NKomVG ableiten. Es erscheint nicht nachvollziehbar, warum es - wenn schon nicht nur auf die Abstimmenden abgestellt wird - für die Frage, ob das Gremium "mit einer Stimme" spricht, nur auf die Anwesenden und nicht auf sämtliche Mitglieder ankommen soll.

c) Da Enthaltungen einer Einstimmigkeit im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG nach alledem nicht entgegenstehen, sind die Anträge der Klägerin zur Beibehaltung des Hare/Niemeyer-Verfahrens, auf die 15 bzw. 10 Ja-Stimmen und jeweils keine Nein-Stimmen entfallen sind, mithin einstimmig im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG angenommen worden. Die Klägerin hat - nach derzeitiger Beschlusslage - daher einen Anspruch auf Umsetzung dieser Beschlüsse. Darauf, dass bei den Abstimmungen beteiligte Abgeordnete möglicherweise irrtümlich davon ausgegangen sind, dass Einstimmigkeit im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG eine aktive Zustimmung aller Mitglieder oder zumindest aller bei der Abstimmung anwesenden Mitglieder erfordert, kommt es nicht an. Ein entsprechender Motiv- oder Inhaltsirrtum würde nicht zu einer Anfechtbarkeit der Beschlüsse führen (vgl. dazu, dass eine Anfechtung der eigenen Stimmabgabe wegen Irrtums nach Ende des Abstimmungsverfahrens ausgeschlossen ist: Thiele, NKomVG, § 66 Rn. 6).

d) In Anbetracht der Ankündigung des Beklagten, im Falle eines Erfolgs der Klage erneute Abstimmungen über die Besetzung des Verwaltungsausschusses und der weiteren im Tenor bezeichneten Ausschüsse herbeiführen zu wollen, weist die Kammer zur Vermeidung weiterer Rechtsstreitigkeiten allerdings darauf hin, dass dies aus Sicht der Kammer rechtlich unproblematisch möglich wäre. Abweichungsbeschlüsse nach § 71 Abs. 10 NKomVG können durch Beschluss der Vertretung auch während der laufenden Wahlperiode geändert oder aufgehoben werden (Menzel in KVR-NKomVG, § 71 NKomVG Rn. 144 f.; Thiele, § 71 Rn. 37; Beckermann in BeckOK Kommunalrecht Niedersachsen, § 71 Rn. 46a). Eine andere Sichtweise führte zu einem zu starken Eingriff in die Organisationshoheit der Vertretung. Ein entsprechender Beschluss erfordert - soweit zum gesetzlich vorgesehenen Besetzungsverfahren zurückgekehrt werden soll (vgl. zur Verfassungsmäßigkeit von § 72 Abs. 2 Satz 2 NKomVG n.F.: VG Osnabrück, Urt. v. 30.05.2022 - 5 A 16/22 -, V. n. b.) - auch lediglich eine einfache Abstimmungsmehrheit im Sinne von § 66 Abs. 1 Satz 1 NKomVG. Ein Einstimmigkeitserfordernis -gleichsam als actus contrarius zu § 71 Abs. 10 NKomVG - lässt sich dem Gesetzeswortlaut nicht entnehmen und ist auch zum Minderheitenschutz nicht erforderlich, da dieser in den dann wieder geltenden gesetzlichen Regelungen zur Sitzverteilung bereits hinreichend berücksichtigt ist (vgl. Beckermann, a. a. O., m. w. N.; ebenso Thiele, a. a. O. und Menzel, a. a. O., die beiden letzteren jeweils unter Hinweis auf VG Stade, Urt. v. 14.03.1985 - 1 VG A 304/83).

3.

Da die Klage bereits mit dem Hauptantrag Erfolg hat, muss über den Hilfsantrag nicht entschieden werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 709 ZPO. § 167 Abs. 2 VwGO gilt für die vorliegende Konstellation einer allgemeinen Leistungsklage entsprechend (vgl. zur Anwendbarkeit des § 167 Abs. 2 VwGO über den Wortlaut hinaus, insbesondere bei Organakten: Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 167 Rn. 11).

Die Zulassung der Berufung beruht auf § 124a Abs. 1 Satz 1 und § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Der Frage, ob Stimmenthaltungen der Annahme einer Einstimmigkeit im Sinne von § 71 Abs. 10 NKomVG entgegenstehen, kommt grundsätzliche Bedeutung zu.