Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 12.10.2022, Az.: 12 B 3426/22
offensichtlich unbegründet; Subsidiärer Schutz
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 12.10.2022
- Aktenzeichen
- 12 B 3426/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59295
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 30 Abs 1 AsylVfG 1992
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (Az 12 A 3425/22) gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27.07.2022 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Der Antrag des Antragstellers,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27.07.2022 anzuordnen,
hat Erfolg.
Er ist zulässig, insbesondere nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1, § 36 Abs. 1 AsylG statthaft.
Er ist auch begründet.
Im Fall der durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt/BAMF) verfügten Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet im Sinne von § 30 AsylG ordnet das Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 36 Abs. 4 AsylG die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der gemäß § 36 Abs. 3, § 75 Abs. 1 AsylG sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung an, wenn das persönliche Interesse des Asylbewerbers, von der sofortigen Aufenthaltsbeendigung vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Durchsetzung überwiegt. Die Aussetzung der Abschiebung darf gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Dies ist der Fall, wenn unter Zugrundelegung der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme - hier die der sofortigen Aufenthaltsbeendigung zugrunde liegende Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet - einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, juris Rn. 99). So liegt der Fall hier.
Nach § 30 Abs. 1 AsylG, auf den das Bundesamt sein Offensichtlichkeitsurteil stützt, ist ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen. Dies ist der Fall, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung vernünftigerweise kein Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt die Ablehnung des Antrags nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 02.05.1984 - 2 BvR 1413/83 -, juris Rn. 27; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 30 AsylG Rn. 3; Heusch, in: BeckOK Ausländerrecht, 28. Edition, Stand: 01.07.2022, § 30 AsylG Rn. 14 m.w.N.).
Zwar sind diese Voraussetzungen hinsichtlich des Antrages des Antragstellers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Ein derartiger Grund liegt beim Antragsteller offenkundig nicht vor. Er hat in seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 06.01.2022 angegeben, er habe den Irak verlassen, weil sein Vater verletzt worden sei und deshalb nicht mehr habe arbeiten können. Für den Fall einer Rückkehr in den Irak habe er keine Angst, er habe dort aber keine Zukunft.
Im Hinblick auf den subsidiären Schutzstatus bestehen jedoch erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer qualifizierten Ablehnung des Asylantrages nach § 30 Abs. 1 AsylG.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist bei einer nicht landesweiten Gefahrenlage in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 76 zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Hier ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass dem Antragsteller bei einer Rückkehr in den Distikt Zakho in der Provinz Dohuk ein ernsthafter Schaden in Form einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts droht.
Nach den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Braunschweig in dessen Beschluss vom 26.01.2022 (- 2 B 18/22 -, juris Rn. 10) setzt die Klärung dieser Frage angesichts der im Nordirak nach wie vor schwelenden multiplen religiösen sowie ethnischen Konflikte komplexe, auf aktuelle Erkenntnisse gestützte Feststellungen zur dortigen politisch-militärischen Lage sowie zur Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet voraus. Dieser Umstand lässt ein Offensichtlichkeitsurteil nach § 30 Abs. 1 AsylG aller Voraussicht nach nicht zu (so bereits VG Hannover, Beschl. v. 10.02.2022 - 12 B 403/22 -, n.v., u. Beschl. v. 31.03.2022 - 12 B 1138/22 -, juris Rn. 8 ff., für die Provinz Ninive u. Beschl. v. 31.08.2022 - 12 B 3409/22 -, n.v., für die Provinz Erbil). Dies gilt auch für die Provinz Dohuk in der Region Kurdistan-Irak (vgl. ebenfalls zum Distrikt Zakho in der Provinz Dohuk: VG Braunschweig, Beschl. v. 02.05.2022 - 2 B 78/22 – juris Rn. 19 ff.).
Nach den Auswertungen des Armed Conflict Location & Event Date Project (ACLED) waren in der Provinz Dohuk im Zeitraum von August 2020 bis Oktober 2021 mit 1.702 Sicherheitsvorfällen sehr viel mehr Ereignisse zu verzeichnen als in sämtlichen anderen Provinzen des Irak (vgl. European Union Agency for Asylum (EUAA), COI Report, Iraq Security Situation, Januar 2022, S. 54, 205). 98% dieser Vorfälle standen in Zusammenhang mit Aktivitäten der türkischen Streitkräfte und 87% mit Aktivitäten der PKK. Diese fanden schwerpunktmäßig in den Distrikten Amedi und Zakho statt (EUAA, COI Report, Iraq Security Situation, Januar 2022, S. 205). Dabei wurden auch Dörfer und ihre Umgebung angegriffen, Dorfbewohner zur Flucht gezwungen und Zivilpersonen als Geiseln genommen, verletzt oder getötet (EUAA, COI Report, Iraq Security Situation, Januar 2022, S. 205 ff.; EUAA, Country Guidance Iraq, Juni 2022, S. 191). Die Auseinandersetzungen dauern an und betreffen auch weiterhin die Zivilbevölkerung. So haben am 24.05.2022 mutmaßlich türkische Kampfflugzeuge das Dorf Shinye in Dohuk angegiffen, das zwar verlassen ist, wo aber noch Landwirtschaft betrieben wird. Zwei Tage später kamen im Dorf Zewa in Dohuk bei Gefechten zwischen türkischem Militär und der PKK zwei Kinder ums Leben (BAMF, Briefing Notes v. 30.05.2022, S. 4). Am 17.06.2022 wurden bei dem Beschuss eines Dorfes in Dohuk durch eine türkische Einheit zwei Dorfbewohner verletzt (BAMF, Briefing Notes v. 20.06.2022, S. 4). Am 20.07.2022 wurde das Dorf Parakh im Distikt Zakho in Dohuk, das bei Inlandstouristen beliebt ist, von türkischem Militär beschossen. Dabei starben neun Touristen und weitere 23 wurden verletzt (BAMF, Briefing Notes v. 25.07.2022, S. 3).
Zwar war die Zahl der zivilen Opfer in der Provinz Dohuk nach den Erhebungen der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak (UNAMI) im Zeitraum zwischen August 2020 bis Oktober 2021 mit neun getöteten und 23 verletzten Zivilpersonen (vgl. EUAA, COI Report, Iraq Security Situation, Januar 2022, S. 210) insgesamt relativ gering (2 zivile Opfer auf 100.000 Einwohner, vgl. EUAA, Country Guidance Iraq, Juni 2022, S.192). Dieser Umstand stellt die vorstehenden Ausführungen zur Komplexität der Lage und dem sich daraus ergebenden Prüfaufwand jedoch nicht in Frage, zumal sich eine individuelle Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG auch aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 18; Nds. OVG, Urt. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 80). Nach Einschätzung der Europäischen Asylagentur hat die willkürliche Gewalt im Rahmen des bewaffneten Konflikts in den Distrikten Amedi und Zakho in der Provinz Dohuk einen so hohen Grad erreicht, dass ein geringerer Grad an individuellen Elementen erforderlich ist, um eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson anzunehmen (EUAA, Country Guidance Iraq, Juni 2022, S.192). Ob solche Umstände gegeben sind, bedarf bei Asylantragstellern aus dem Irak wiederum einer näheren Prüfung des Einzelfalls (vgl. zu den im Irak besonders gefährdeten Personengruppen z.B. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 25.10.2021, S. 17).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).